Dieser Fall basiert auf Material aus den INTAKT-Daten. Die kompletten Datensätze können zu Forschungszwecken über das Online-Fallarchiv Schulpädagogik angefordert werden. Mehr Informationen finden Sie unter http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/projektdaten-intakt/intakt-informationen/.
Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
Einleitende Bemerkungen
Unterscheidungen [..] werden von Kindern schon sehr früh gelernt. Lange dachte man, Kinder hätten „von Natur aus“ keine Vorurteile und begegneten allen anderen in gleicher Art und Weise. Bezogen auf Menschen mit Behinderung hieße das, sie dächten und handelten „von Natur aus“ inklusiv. Tatsächlich stellen sie Differenz zum Teil in anderer Form als Erwachsene her, aber sie orientieren sich an den von den Erwachsenen geschaffenen Kulturen, Strukturen und Praktiken (vgl. Deckert-Peaceman 2012). Ihr Behindertenbegriff entwickelt sich zunächst an der sichtbaren körperlichen Behinderung. Geistige Behinderung wird meistens erst später erkannt (vgl. Diamond & Hestenes 2004). Kinder setzen sich mit Behinderung situativer und fluider auseinander als Erwachsene. Wenn jemand nicht laufen kann, dann kann er eben das Laufspiel in der Pause nicht mitspielen. Das bedeutet aber nicht, dass er deshalb aus allen Spielen ausgeschlossen wird. Im Rahmen meiner wissenschaftlichen Begleitung einer „inklusiven“ Schule, konnte ich immer beobachten, dass Behinderungen in den Spielablauf integriert werden, um beispielsweise Kinder im Rollstuhl zu beteiligen, die dann zum Reiter auf dem Pferd oder zur Kutsche wurden oder als Freischlageort mitmachten. Das heißt, die Behinderung war kein Ausschlusskriterium, sondern fungierte als eine Art Spielelement, nach der das Spiel strukturiert wurde. Aber das war keine feste, sondern eine situative Praktik, denn die Spiele wurden nicht immer angepasst. Unklar ist auch, ob das alleinige Mitmachen mit Partizipation gleichzusetzen ist, die einen Mitgliedsstatus innerhalb der Peerkultur bedeutet. (vgl. Deckert-Peaceman 2012; Kreuzer & Ytterhus 2008) Die Erfahrung nur unter bestimmten Voraussetzungen mitspielen zu dürfen und keinen permanenten Mitgliedsstatus zu haben, kann für die betroffenen Kinder mit seelischer Belastung verbunden sein. Anerkennungsfragen unter Kindern müssen insbesondere in inklusiven Settings aufmerksam beobachtet und möglicherweise thematisiert werden. Exklusionsprozesse ereignen sich in der Peerkultur fortlaufend, aber sie sind nicht eindeutig und regelhaft an Kategorien gebunden bzw. orientieren sich an anderen Kategoriensystemen, beispielsweise Größe oder solidarisches Verhalten. Insgesamt tendieren jüngere Kinder noch nicht zu generalisierenden Kategorien in diesem Sinne: „Er ist behindert. Er ist dauerhaft und in allen Bereichen ausgeschlossen, weil er anders ist als wir.“ Entscheidend für die Entwicklung von Generalisierungen ist jedoch der Umgang von Erwachsenen.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Folgender Auszug aus einem Interview mit einer Grundschullehrkraft, die vor Jahren ohne Vorkenntnisse ihre Tätigkeit an der genannten Schule aufgenommen hat und somit vergleichbar ist mit vielen im Schuldienst aktiven Personen, die neu mit solchen Herausforderungen konfrontiert sind, mag das verdeutlichen. Das leitfadengestützte Interview machte die Entwicklungen an der Schule seit der Anfangszeit zum Thema, insbesondere die Frage nach der Umsetzung der Inklusion.
Die Lehrerin zitiert einen Vater im Elterngespräch, der über seinen eigenen Lernprozess berichtet, der sich in einer Situation mit seiner Tochter ereignet haben soll:
„und dann kam eine Gruppe Behinderte vorbei und dann hat er (der Vater, HDP) gesagt: Hast du die Behinderten gesehen? zu der Tochter, dann sagt sie: Äh welche Behinderten? ich seh gar niemanden! und ja da, hach Papa, der kann halt vielleicht das nicht gut aber dafür kann er halt was anderes“ (Februar 2014)
Der Vater reflektiert sein Verständnis von Behinderung und vergleicht es mit dem Verständnis seiner Tochter. Er berichtet die Szene der Lehrerin, um mitzuteilen, wie froh er darüber ist, dass seine Tochter durch die Schulerfahrung einen anderen Umgang mit Behinderung erlernt. Die Reaktion der Tochter begründet sich wahrscheinlich auf ein Zusammentreffen von Faktoren: Ihre Sicht auf Behinderung ist noch relativ fluide, und sie hat in der Institution Schule einen anderen Begriff von Behinderung gelernt, beispielsweise, dass alle Menschen „etwas gut können“ (stärkeorientiert). Sie ist damit ihrem Vater, d.h. der älteren Generation, und der Gesellschaft voraus. So sieht es die Lehrerin für den Vater und für sich selbst. Das gesamte Interview hat implizit den Lernprozess der Lehrerin zum Thema, die sich im Laufe ihrer Tätigkeit als Grundschullehrerin an einer inklusiven Schule, immer wieder mit ihren eigenen Bildern und Vorurteilen gegenüber Behinderung konfrontiert war und sich damit auseinandersetzen musste. Die Reaktion des Vaters sieht sie aus meiner Sicht zum einen als Spiegel der eigenen ambivalenten Haltung und zum anderen als Beispiel für den Erfolg eines inklusiven Konzepts, weil über die Kinder die erwachsene Gesellschaft verändert werden kann. Entscheidend für die weitere Argumentation ist, dass solche Haltungen nicht alleine durch Kognition verändert werden können, sondern eine leibliche Erfahrung benötigen, die reflektiert wird, und dass die Veränderungen langwierig und anspruchsvoll sind. Aus dem Beispiel folgen begründete Zweifel an punktuellen (Nach-)Schulungen von Lehrerkompetenzen zum Thema Inklusion.
Literaturangaben:
Deckert-Peaceman, H. (2012): Die Bedeutung der Peerkulturen in der Schule am Beispiel der Integrationspädagogik. In: Braches-Chyrek, R., Röhner, Ch. & Sünker, H. (Hrsg.): Kindheiten, Gesellschaften. Interdisziplinäre Zugänge zur Kindheitsforschung. Opladen & Farmington Hills, MI: Verlag Barbara Budrich, S.165-184.
Diamond, K. E. & Hestenes, L. L. (2004): Vorstellungen von Vorschulkindern in Bezug auf Behinderungen. Der Stellenwert von Behinderungen in den Ansichten von Kindern über andere Kinder. In: Fried, L. & Büttner, G. (Hrsg.): Weltwissen von Kindern. Zum Forschungsstandüber die Aneignung sozialen Wissens bei Krippen- und Kindergartenkindern. Weinheim, Basel: Juventa, S.183-200.
Kreuzer, M. & Ytterhus, B. (2008): Dabeisein ist nicht alles. Inklusion und Zusammenleben im Kindergarten. München, Basel: Reinhardt.
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