Dieser Fall basiert auf Material aus den INTAKT-Daten. Die kompletten Datensätze können zu Forschungszwecken über das Online-Fallarchiv Schulpädagogik angefordert werden. Mehr Informationen finden Sie unter http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/projektdaten-intakt/intakt-informationen/.
Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Wie durch Förderpraktiken im Klassenzimmer wohl unbeabsichtigt Nebenwirkungen erzeugt werden und damit Ungleichheit hergestellt wird, illustriert exemplarisch das folgende Fallbeispiel. Es handelt sich um ein informelles Gespräch außerhalb der Schule zwischen einem Erwachsenen und einem Erstklässler aus dem Jahre 1999 über den Unterricht:
Erstklässler: Bei uns sind alle Schwarzen die Dummen.
Erwachsener: Woher weißt du das?
Erstklässler: Die sitzen alle gemeinsam an einem Tisch. Dem Dummen-Tisch.
Erwachsener: Wer sind denn die Schwarzen?
Erstklässler: Die Ausländer.
Erwachsener: Du bist doch selbst Ausländer. Warum sitzt du nicht am Dummen-Tisch?
Erstklässler: Ich bin doch nicht schwarz.
Erwachsener: Aber dein Freund, der Samuel. Der ist aus Bolivien und hat schwarze Haare. Sitzt er am Dummen-Tisch?
Erstklässler: Nein, doch nicht der Samuel. Die richtigen Schwarzen, die Hatice, der Murat … Das sind die Dummen. Die Frau Müller hat sie alle an einen Tisch gesetzt, damit sie ihnen besser helfen kann.
Der Fall stellt die Rekonstruktion der Klassensituation aus der Sicht des Erstklässlers dar. Sie ist ein Beispiel für Kontingenzen, die den Unterrichtsalltag prägen. Die Lehrerin hat wahrscheinlich beste Absichten, die „leistungsschwachen“ Kinder zu fördern. Sie hat sicherlich ihre Leistungsprobleme gemessen an den Standards diagnostiziert („können noch nicht lesen, rechnen, schreiben, etc.“). Sie folgt wohl der in Deutschland weit verbreiteten Annahme, dass in homogenen Lerngruppen besser gefördert werden kann. Über den Effekt der Förderung auf die Leistung kann man nichts aussagen. Aufgrund vielfältiger Studien, gerade im Kontext von PISA, kann jedoch von einem Trugschluss gesprochen werden. Interessant ist die Wirkung auf ein beobachtendes Kind in der Klasse. Durch die Sitzordnung lernt es, dass „alle Schwarzen dumm seien“. Wahrscheinlich kommt diese Botschaft auch bei den betroffenen Kindern am Tisch an. Sie erfahren sich als „dumm“, zumindest als „schlechter“ als alle anderen. Wahrscheinlich spüren sie, dass sie als „anders“, „fremd“, nicht wirklich zugehörig wahrgenommen werden. Durch die Gruppierung um einen Tisch werden sie von den anderen in der Klasse sichtbar und dauerhaft getrennt. Die Fördermaßnahme entpuppt sich als Diskriminierung entlang der Kategorien Ethnie und Hautfarbe – ein paradoxer Effekt, der weltweit festgestellt wird (vgl. u.a. Siraj-Blatchford 2004). Daran merkt man den Aufbau von Diskriminierungsmustern. „Schwarz“ wird mit dumm gleichgesetzt, aber „schwarz“ scheint gekoppelt an weitere Kategorien, wie Herkunftsland, sozioökonomischer Status (die Tischkinder stammen alle aus dem „Gastarbeitermilieu“ im „sozialen Brennpunkt Hochhaus“, der Junge aus Bolivien eher aus einem mittleren Milieu mit deutscher Mutter in guter Wohngegend).
Literaturangabe:
Siraj-Blatchford, I (2004): Soziale Gerechtigkeit und Lernen in der frühen Kindheit. In: Fthenakis, W. E. & Oberhuemer, P. (Hrsg.): Frühpädagogik international. Bildungsqualität im Blickpunkt. Wiesbaden: VS Verlag, S.57-70.
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