Zu diesem Fall sind alternative bzw. kontroverse Interpretationen vorhanden:
Scholz, Gerold: Eine Rede zum Schulanfang (1)
Lippitz, Wilfried: Eine Rede zum Schulanfang (3)
Scholz, Gerold: Eine Rede zum Schulanfang(4)
Falldarstellung
Nach einer Theateraufführung versammeln sich Schulneulinge, ihre Eltern und die Lehrerin im „neuen“ Klassenzimmer. Die Kinder haben schon Platz genommen, ihre Eltern stehen – es sind in der Mehrzahl Mütter – im Hintergrund des Raumes. Und so beginnt die Lehrerin:
„Und jetzt habt ihr eine Lehrerin gekriegt mit so einem komplizierten Namen (…) Aber das werdet ihr ganz schnell lernen und eure Eltern, die haben das schon gelesen auf dem Zettel. Die begrüß ich natürlich auch ganz herzlich, hier zu ihrem ersten Schultag, hier in der 1a. Und ich hoffe nur eins, dass es hier keinen gibt, der Angst hat, das braucht er nämlich überhaupt nicht. Ihr werdet sehen, wie schön das hier wird bei uns und wie lustig das wird. Dass man natürlich auch was lernen muss, das ist ja wohl klar. Denn man geht ja nicht dreizehn Jahre in den Kindergarten ( Lachen der Kinder). Und ihr wollt ja schlauer sein wie der Hase und wie der Igel in dem kleinen Stückchen da? Was wollt ihr denn eigentlich in der Schule, warum seid ihr denn hergekommen?“
Kind: „Weil wir lernen wollen.“
Lehrerin: „Ihr wollt lernen. Was wollt ihr denn lernen?“
Kinder: „Schreiben, Lesen.“
Lehrerin: „Noch was?“
Kind: „Rechnen, Computerspiele.“
Lehrein: „Rechnen. Ganz wichtig. Man kann ja nicht immer mit seinem Computer da rumlaufen. Das geht ja nicht (…) Und deshalb seid ihr hier hergekommen, weil ihr bei uns was lernen wollt. Wir sind also hier in der 1a siebenundzwanzig Kinder. (…) Jetzt will ich gucken, ob ihr auch wirklich alle da seid – nicht dass wir einen vergessen haben und der findet unsere Klasse nicht vor lauter Gedrängel. Wo ist denn die Jutta? Das ist die Jutta. Und der Martin…?“
(Alle Kinder werden mit Namen genannt.)
Lehrerin: „Und eins könnt ihr auf jeden Fall schon alle, ihr könnt schon ganz toll eure Finger strecken. Und wenn das so bleibt, sind wir glücklich. (…)“
An die Eltern gewendet: „Ich werde hier bis kurz vor 11 Uhr ein bisschen Schule machen“ (Lachen der Eltern), „damit sie sich so ganz langsam daran gewöhnen. Und ihr“ (Ansprache an die Kinder) „habt euch ja vielleicht einen ersten Schultag ausgesucht – Freitag – und dann gleich wieder zwei Tage frei. Das ist toll, aber das ist nicht jede Woche so. Aber das macht nichts, ihr werdet merken, wie schnell die ganze Woche herumgeht und wie schön das hier wird (…)”
Interpretation
Dieser Text ist das Musterbeispiel einer „Normenfalle“, wobei in Rechnung gestellt werden muss, dass die konnotative Ebene der Sprache zu den Konstruktionselementen dieser Falle gehört. Der Speck in ihr ist die neue Situation, dass für soundsoviel Erstklässler ein „neuer Lebensabschnitt“ beginnt, also ein Abenteuer, und für die Lehrerin das Abenteuer, „neue“ Kinder zu haben, die noch in vielen Bereichen unverbildet sind, deren Spiel- und Lerntrieb und deren Neugier noch nicht gänzlich – trotz Kindergarten und Elternhaus – verschüttet ist.
Beginnen wir mit der Textanalyse.
„Und jetzt habt ihr eine Lehrerin gekriegt mit so einem komplizierten Namen … Aber das werdet ihr ganz schnell lernen, und eure Eltern, die haben das schon gelesen auf dem Zettel.“
Inhaltlich bedeutet diese Äußerung Zuwendung. Konnotativ, unterschwellig bewirkt sie das Gegenteil. Hierdurch entsteht eine Bedeutungsstruktur, die das Opfer bannt, indem sie es daran hindert, das „eigentlich Gemeinte“ zu erkennen. „Eine Lehrerin gekriegt“. Diese Formulierung impliziert, dass die Kinder quasi nichts dafür können, ausgerechnet diese Lehrerin gekriegt zu haben, sie sind also schuldlose Opfer einer Dschungelsituation, die sie nicht durchschauen. Sie wissen eben nichts von der Personalpolitik der Schule. Dass die Lehrerin einen komplizierten Namen hat, bedeutet unterschwellig „Aufwertung für die Lehrerin“, sie ist eben nicht jedermann, kein Meier oder Müller. Gleichzeitig bedeutet kompliziert: „das könnt ihr noch nicht verstehen“, „dazu seid ihr noch zu dumm“. Verstärkt wird dieser Akzent noch durch den Hinweis, dass die Eltern diesen komplizierten Namen schon lesen können, sie werden also zu Niveauparteigängerinnen und -gängern der Lehrerin gemacht, die dadurch ihre quantitative Unterlegenheit gegenüber den Kindern für den Moment wettmacht. Fazit: der Satz bedeutet eine Diffamierung der Kinder als „für das Komplizierte noch zu dumme Mehrheit“. Dabei ist diese Abwertung in die Zuwendungshülse verpackt: „das werdet ihr ganz schnell lernen“. Folge: Die Kinder sind hypnotisch gebannt in die Position, nicht wissen zu können, was sie eigentlich erwartet.
Nächster Satz: „Die begrüß ich natürlich auch ganz herzlich, hier zu ihrem ersten Schultag, hier in der 1a“.
Denotativ ist dies höfliche Zuwendung. Konnotativ wiederum etwas völlig Entgegengesetztes. Ein Keil wird zwischen Kinder und Eltern getrieben: „hier zu ihrem ersten Schultag“. Es ist demnach der erste Schultag der Eltern. Den Kindern wird in diesem Augenblick auch noch die Würde genommen, dass es ihr erster Schultag ist. Die Eltern besitzen ihn. Die Kinder haben nicht einmal das, was sie doch offenbar in diesem Augenblick haben. Denn in Wahrheit ist es einzig und allein ihr erster Schultag, ihr Geburtstrauma einer in der Regel langen und zwiespältigen Erfahrung.
Nun kommt der erste Höhepunkt, in dem die Falle gewissermaßen scharf gemacht wird. „Und ich hoffe nur eins, dass es hier keinen gibt, der Angst hat, das braucht er nämlich überhaupt nicht.“ Dieser Satz ist eine Verbalisierung eines Double-bind. „Ich hoffe nur eins“ heißt soviel wie „Wehe!“ „Schande über jeden der …“ Es wird also gedroht. Der soll Angst haben, der sich untersteht, Angst zu haben. Dies ist reines Double-bind, d.h. Begriffsverwirrung zwecks Zerstörung der Interpretationsfähigkeiten des Opfers. Der ergänzende Nachsatz „das braucht er nämlich überhaupt nicht“ perfektioniert die Double-bind-Struktur für die Kommunikationsdelinquenten, indem er aussagt: „wer so blöd ist Angst zu haben, ist selbst daran schuld“.
„Ihr werdet sehen, wie schön das hier wird bei uns und wie lustig das wird.“ Hier handelt es sich um ein Versprechen, um Zukunftsoptionen.
Auch ein Versprechen kann Double-bind-Momente haben. „Ihr werdet sehen …“ So werden auch häufig Strafandrohungen eingeleitet. „Schön und lustig“ sind natürlich optimale Zustände, auch wenn Kinder in der Regel völlig andere Vorstellungen davon haben als Erwachsene. Der Ton der Formulierungen droht den Opfern also an, dass es ihnen bald gut gehen wird.
„Dass man natürlich auch was lernen muss, das ist ja wohl klar.“ Nun lässt die Lehrerin folgende Katze aus dem Sack: Lernen ist das Gegenteil von schön und lustig. „Denn man geht natürlich nicht dreizehn Jahre in den Kindergarten.“ Auch dies ist im Grunde eine pejorative Formulierung. Sie bedeutet konnotativ: Kindergarten ist was Schlechtes, was für die ganz Kleinen, Doofen, für die ihr ja nun beinahe schon zu alt seid. Kindergarten contra Schule. Hierin verbirgt sich im Übrigen auch eine sozio-ökonomische Konfrontation zwischen zwei Berufsständen. Dass es dreizehn Jahre Schule gibt, wissen die Kinder sowieso nicht. Ihr Lachen an dieser Stelle muss einfach ein wenig ungeschickt und verklemmt klingen, denn sie hören nur „Kindergarten“ wie ein Clownswort, wie etwas Hüpfendes in einer Umgebung, in der alles gerade stehen muss.
„Und ihr wollt ja schlauer sein wie der Hase und der Igel. In dem kleinen Stückchen da.“ Es muss natürlich „schlauer als“ heißen, doch es geht nicht darum, dass eine Lehrerin unbedingt immer richtiges bzw. dudenrichtiges Deutsch spricht. Hier geht es darum, dass auf Kosten der Tiere indoktriniert wurde und wird. Eigentlich ist der Igel Symbol des Schlauen. Ich muss an das Märchen vom Hasen denken, der sich zwischen zwei Igeln totläuft. Die Lehrerin kommt mir ein wenig so vor wie ein Hase zwischen siebenundzwanzig Igeln.
„Was wollt ihr denn eigentlich in der Schule, warum seid ihr denn hergekommen?“ Diese suggestive und rhetorische Frage unterstellt die Unwahrheit, dass die Kinder aus freiem Willen in die Schule gekommen sind. Sie simuliert eine Freiheit, die es nicht gibt. Wir haben schließlich Schulzwang. Wie brav sich die Kinder längst in den Stricken der Erwachsenen verfangen haben, zeigt prompt die Antwort: „Weil wir lernen wollen.“ Ehrlicher wäre die Antwort: „Weil wir neugierig sind.“ Kinder haben unbestritten ein Bedürfnis nach Erweiterung ihrer Weltkenntnis. Nur ist es eine Täuschung aller an der Schulsituation Beteiligten, diese Neugier mit Lernen von Denktechnologien, Kommunikationstechniken und abstrakten Fähigkeiten gleichzusetzen. Doch die Kinder antworten manipulationsgerecht auf die Frage „Ihr wollt lernen. Was wollt ihr denn lernen?“ (die stereotype Wiederholung des Wortes „lernen“ gehört übrigens zu den Techniken der Indoktrination, es ist akustische Dressur) „Schreiben, Lesen“. An dieser einzigen Stelle, wo scheinbar dialogisiert wird, ist der Monolog perfekt. Die Kinder sind zum Echo des Programms geworden. Sie ergänzen auf die Nachfrage „Noch was“ prompt mit dem dritten Großbereich des Lernstoffes: „Rechnen“.
Der Zusatz „Computerspiel“ ist interessant. Das Kind, das sich wahrscheinlich gemeldet hat und diesen Beitrag lieferte, muss ein kleiner Anarchist sein, denn es unterläuft mit dieser Bemerkung den offiziellen Kanon. Es ist davon auszugehen, dass die Lehrerin selbst noch nie ein Computerspiel gespielt hat. Das Wort „Spielen“ kommt hier übrigens wie ein Partisan in die Konfrontationssituation hinein. Es ist ein kühner Gegenschlag gegen die Erwachsenenebene.
Die Lehrerin ist verunsichert. Sie greift das Stichwort „Rechnen“ auf und redet dann blanken Unsinn: „Man kann ja nicht immer mit seinem Computer da rumlaufen … das geht ja nicht.“ Weder weiß sie etwas von Taschenrechnern noch von Laptops. Sie zeigt sich inkompetent, konservativ.
Das Einschleifen des Begriffs „lernen“ geht weiter. Der Dialog bzw. Pseudodialog ist beendet: „Und deshalb seid ihr hier hergekommen, weil ihr bei uns etwas lernen wollt.“ Die Lehrerin erntet die Früchte ihrer Indoktrination und kandiert sie auch noch. „Wir sind also hier in der 1a siebenundzwanzig Kinder …“ Wieso eigentlich „Wir“? Das Vorgaukeln von Nähe, wo Konfrontation ist.
„Jetzt will ich gucken, ob ihr auch wirklich alle da seid – nicht dass wir einen vergessen haben und der findet unsere Klasse nicht vor lauter Gedrängel.“ Hier verbirgt sich eine verdeckte, wiewohl sehr intensive Drohung. Sie spielt an auf die Angst, vergessen zu gehen, sich zu verlaufen, zu verschwinden, in den schwarzen Sack zu kommen. Die Lehrerin deutet praktisch an, dass „wir“, also das Kollektiv, sie und die Schüler, jemanden aktiv habe vergessen können, d.h. „verbannt, gefressen, in den Ofen gesteckt“. Das sich anschließende Aufrufen, das angeblich dem Schutz vor solchem Vergessengehen dient, ist ein im Sport, in Kasernen, selbst im Bundestag beliebtes Mittel der Entindividualisierung und Kontrolle. Alle sind sie gleich vor dem Spieß. Es ist die Demokratie der Erniedrigung. Die Kinder lernen ihre Namen nicht spielend, indem sie sich miteinander in kleinen Kommunikationssituationen bekannt machen, sie werden mit ihren Namen vor die Öffentlichkeit gezerrt, und natürlich kann sich keiner etwas merken. Aber die Lehrerin weiß am Ende, dass alle da sind, alle Ratten und Kinder, die es aus Hameln zu entführen gilt.
„Und eins könnt ihr auf jeden Fall schon alle, ihr könnt ganz toll eure Finger strecken. Und wenn das so bleibt, sind wir glücklich …“ Wieder dieses manipulative Gemeinschafts-Wir. Wiederum ein Anflug von Diffamierung, das Strecken des Fingers, dieses stumme Signal, welches nicht nur bedeutet, dass man etwas zu wissen meint, sondern vor allem, dass man sich den schulischen Ritualen unterwirft, als „Können“ zu bezeichnen, als das bisher einzige Können sozusagen. Können die Kinder in Wirklichkeit nicht viel mehr als den Finger strecken? Das Wort „glücklich“ ist in diesem Zusammenhang wirklich höchst sonderbar platziert. Glücklich über diese reaktive Fähigkeit, dieses „Können“ der Kinder ist allein die Lehrerin.
Der Einwurf an die anwesenden Eltern „Ich werde hier bis kurz vor 11 Uhr ein bisschen Schule machen“ (Lachen der Eltern), „damit sie sich so ganz langsam dran gewöhnen“ ist wieder sehr pejorativ. „Ein bisschen Schule machen“, meine Güte, den Kindern wird doch wieder das Abenteuer geraubt. Kein Wunder, dass die natürlichen Verbündeten der Lehrerin an dieser Stelle lachen. Was sich als Gestus der Humanität ausgibt, „Damit sie sich so ganz langsam daran gewöhnen“, sagt doch im Klartext: „Schule ist ziemlich unverdaulich, ihr kleinen Kerle habt noch zuviel Appetit. Es ist wie mit dem Medizin einnehmen, in kleinen Dosen. Gewöhnung führt zur Abhängigkeit.“
Jetzt kommt der zweite Höhepunkt der unbewussten Diffamierungskampagne gegen die Schulanfänger. „Und ihr habt euch ja vielleicht einen ersten Schultag ausgesucht – Freitag – und dann wieder zwei Tage frei. Das ist toll, aber das ist nicht jede Woche so. Aber das macht nichts, ihr werdet merken, wie schnell die ganze Woche herum geht und wie schön das hier wird …“
Erstens haben nicht die Kinder den ersten Schultag ausgesucht, sondern, wie ich annehme, das Kultusministerium. Es ist eine Unterstellung, ähnlich der „Was wollt ihr eigentlich in der Schule“ (s.o.). Die Kinder werden zu Repräsentanten freien Willens gemacht. Aus der Art ihrer angeblichen Wahl wird ihnen ein ironisch-moralischer Strick gedreht. Die Kinder sind faul und berechnend, deshalb haben sie sich natürlich den Freitag ausgesucht, um gleich wieder Ferien zu haben. Natürlich will die Lehrerin mit dieser Deutung Heiterkeit erzeugen, sie verwendet Ironie, jedoch pure fade Erwachsenenironie, die kein Kind kapiert. Ein solcher Einfall gehört auf einen Betriebsausflug einer Firma in den Mund des Chefs. Dann können die Lehrlinge vielleicht mit zusammengebissenen Zähnen lachen, aber hier ist es ein Fauxpas, den die Lehrerin auch nicht durch dieses nebulose, diffuse beschwörende „schön“ am Schluss wieder gutmachen kann. Die Verheißung solcher undeutlichen Paradiese war immer ein klebriger Bonbon am Ende von Reden, die alles beinhalten, was dem Inhalt des Wortes „schön“ widerspricht. Man weiß nun also, dass auch in diesem Fall für die Klasse 1a zahllose Wochen folgen werden, die quälend langsam rumgehen.
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