zu diesem Fall sind alternative bzw. kontroverse Interpretationen vorhanden:
Scholz, Gerold: Eine Rede zum Schulanfang (1)
Combe, Arno: Eine Rede zum Schulanfang (2)
Scholz, Gerold: Eine Rede zum Schulanfang(4)
Falldarstellung
Anlass für meine kritischen Überlegungen ist ein Text aus dem Buch des Erziehungswissenschaftlers Arno Combe mit der Kapitelüberschrift: “Schulanfang 1990: Zur Erinnerung an Th. W. Adornos “Tabus über dem Lehrerberuf”. Die Normenfalle pädagogischen Handelns. Stellvertretende Deutung und Empathie als progressive Attitüde.” (Combe 1992, 169-176) (…)
Rede einer Lehrerin am Einschulungstag an einer Grundschule
“Und jetzt habt ihr eine Lehrerin gekriegt mit so einem komplizierten Namen (…). Aber das werdet ihr ganz schnell lernen, und eure Eltern, die haben das schon gelesen auf dem Zettel. Die begrüß ich natürlich auch ganz herzlich, hier zu ihrem ersten Schultag, hier in der 1a. Und ich hoff nur eins, daß es hier keinen gibt, der Angst hat, das braucht er nämlich überhaupt nicht. Ihr werdet sehen, wie schön das hier wird bei bei uns und wie lustig das wird. Daß man natürlich auch was lernen muß, das ist wohl klar. Denn man geht ja nicht dreizehn Jahre in den Kindergarten (Lachen der Kinder). Und ihr wollt ja schlauer sein wie der Hase und wie der Igel in dem kleinen Stückchen da? Was wollt ihr denn eigentlich in der Schule, warum seid ihr denn hergekommen?“
Kind: “Weil wir lernen wollen.”
Lehrerin: “Ihr wollt lernen. Was wollt ihr denn lernen?”
Kind: “Schreiben. Lesen.”
Lehrerin: “Noch was?”
Kind: “Rechnen. Computerspiele.”
Lehrerin: “Rechnen. Ganz wichtig. Man kann ja nicht immer mit seinem Computer da rumlaufen. Das geht ja nicht (…) Und deshalb seid ihr hier hergekommen, weil ihr bei uns was lernen wollt. Wir sind als hier in der 1a siebenundzwanzig Kinder. (…) Jetzt will ich gucken, ob ihr auch wirklich alle da seid – nicht daß wir einen vergessen haben und der findet unsere Klasse nicht vor lauter Gedrängel. Wo ist denn die Jutta? Das ist die Jutta. Und der Martin …?”
Alle Kinder werden mit Namen genannt.
Lehrerin: “Und eins könnt ihr auf jeden Fall schon alle, ihr könnt schon ganz toll eure Finger strecken. Und wenn das so bleibt, sind wir glücklich. (…)”.
An die Eltern gewendet: “Ich werde hier bis kurz vor 11 Uhr ein bißchen Schule machen.” (Lachen der Eltern), “damit sie sich so ganz langsam daran gewöhnen.
“ Und ihr (Ansprache an die Kinder) habt euch ja vielleicht einen ersten Schultag ausgesucht – Freitag – und dann gleich wieder zwei Tage frei. Das ist toll, aber das ist nicht jede Woche so. Aber das macht nichts, ihr werdet merken, wie schnell die ganze Woche herumgeht und wie schön das hier wird (…)”.
Interpretation
(…)
In der schon zitierten Überschrift zeigt sich das theoretische Raster, das Arno Combe an eine reale schulische Begebenheit, nämlich die Rede einer Lehrerin am Einschulungstag an einer Grundschule anlegt. Diese Rede ist für ihn als sozialwissenschaftlichen Interpreten repräsentativ: In ihr spiegeln sich trotz des singulären und konkreten Anlasses dieser Rede latent und unbewusst fungierende, deshalb umso wirksamere institutionelle und zivilisatorische Sozialisationsmuster, die hochproblematisch sind, weil sie die Individuen beschädigen. Scheinbar soll die Lehrerin die pädagogische Kommunikation mit den Schulanfängern so gestalten, dass diese über ihre progressiv und einnehmend wirkende “Attitüde” in die institutionelle Normenfalle einer subjektfernen schulischen Institution gelockt werden. Die Frage solle geklärt werden, so Combe zum Abschluss des vorangehenden Kapitels, “was im Unterricht tatsächlich geschieht. Ob hier Vielfalt herrscht, individualisiertes und humanes Lernen oder das Schreckbild einer didaktisch-methodischen, ritualistisch gehandhabten >Monokultur< (Hage u.a., 1988)” (Combe 1992, 168). So gilt dieses singuläre Ereignis einer faktisch gehaltenen Rede als Beweis für eine typische institutionelle Deformation pädagogischer Verständigung. Es ist aus theoretischer Sicht der Fall einer allgemeinen Regel, also nichts Einmaliges oder Besonderes. Wie aber, wenn man diese Rede gerade nicht subsumtionslogisch auswertet, sondern sich auf ihre Konkretion einlässt? Diese Frage wird mich später ausführlicher beschäftigen und meine kritische Gegenposition markieren. (…)
Mein Eindruck ist: Der Text ist trotz seiner Verschriftlichung alles andere als einfach zu deuten.
- Dazu führt die wenig wissenschaftlich professionelle Darstellung der Rede der Lehrerin: Entgegen den Standards qualitativer Forschungsmethodik wird sie nur oberflächlich verschriftlicht; d.h. zum Abdruck kommt bloß der Inhalt des konkret Gesagten ohne seine sprachlichen und vorsprachlichen Modalitäten (Intonation, Pausen, Akzentuierungen, Gebärden- und Mienenspiel usw.). Der Text verliert damit seine Vieldimensionalität und wirkt dadurch sehr viel eindeutiger als er tatsächlich ist. Eindeutig ist der für den Theoretiker allemal, denn dieser hat den zivilisationskritischen Deutungsrahmen schon aufgespannt, in den er die Rede einsetzt. Sie erscheint so als Fall einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit.
- Zweitens wird nichts über die Person der Lehrerin, über die Schule selbst oder die konkrete Vorstellungssituation gesagt. Dem Leser muss es überlassen bleiben, sich die skizzierte Situation auszumalen; es sei denn, das Fehlen solcher konkretisierender Aussagen ist selbst schon Ausdruck der theoretischen Programmatik, die subsumtionslogisch verfährt: Konkretes und Besonderes stehen dort nicht für sich und sind dann auch nicht besondere Ereignisse, die ihren Sinn konkret erst entfalten und dem Interpreten eine Einfühlung in die Situation abverlangen, sondern sie treten als besondere Fälle eines Allgemeinen auf, in gleichsam schon typifizierter Gestalt, hier einer Grundschullehrerin, einer Grundschule, der Schulanfänger usw., an denen man wiederkehrende zivilisatorische Wirkungsmechanismen studieren kann. Diese Vorgehensweise mag typisch für jene wissenschaftliche Arbeitsweise sein, die glaubt, ihrer Wahrheit sicher zu sein und die ihre spezifische theoretische Differenz und Perspektivität gegenüber der Praxis hierarchisch legitimiert, als hätte sie mit den Fragen, die sie stellt, auch schon die Wahrheit und Antwort gefunden. Ist sie aber typisch für eine kritisch-hermeneutische Vorgehensweise, die auch Combe für sich selbst reklamiert und die mit Respekt vor der sich dort artikulierenden Eigenlogik Deutungsangebote macht? (Vgl. dazu Combe, A.: Pädagogische Professionalität, Hermeneutik und Lehrerbildung. Am Beispiel der Berufsbelastung von Grundschullehrkräften. In: Combe, A./Helsper, W.(Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt/M. 1996, 521-569)
Versuchen wir deswegen etwas nachzuholen, was Combe nicht expliziert: Fragen wir uns, was dieser Text mit Fremdheit zu tun hat, indem wir uns in die Situation der Lehrerin hineindenken: Es geht hier offensichtlich um Fremderfahrungen, und besonders um den pädagogisch motivierten Umgang einer Lehrerin mit ihnen, so wie er sich in der Rede an die Schüler und Eltern artikuliert. Der Schulanfang ist ein Abenteuer, und das für Kinder, deren Eltern und die Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer, wie routiniert sie auch sein mögen. Darin hat Combe recht: Den Kindern, sehr oft auch den Eltern ist die konkrete Institution relativ fremd. Zumindest was die konkrete Erfahrungsseite angeht, gibt es kein genaues Wissen darüber: Man betritt ein fremdes Gebäude, hat mit vielen fremden Mitschülern und LehrerInnen zu tun, kennt noch nicht genau den institutionellen Rahmen und seine alltäglichen Ordnungsmuster usw. Auch für erfahrene Lehrerinnen und Lehrer gibt es vieles, was man trotz aller Routine nicht erwarten kann: Noch sind die Neuen keine Schüler, ausgestattet mit einem schulisch verlässlich organisierten und normalisierten Verhaltens- und Erwartungsrepertoire, das sie zu Mitspielern auf der schulischen Bühne macht, und noch ist man nicht in die diversen Geschichten mit den Eltern von Schülern verstrickt, worüber man sie mehr oder weniger gut kennenlernt. Stattdessen treten fremde Gesichter und Gestalten auf, noch ohne Namen und eigene Geschichte. Sie sind im Rahmen der Schulfeier erwartete, aber nicht gekannte Gäste, Gäste jedoch, die bleiben werden. Als zukünftige Klassenlehrerin und damit als Vertreterin der Institution Schule hat man sich dieser Situation zu stellen, muss man auf die unterschiedlichen Ansprüche und Erwartungen, die sich hier ergeben und die man kaum verlässlich im Vorhinein sich vorstellen kann, antworten: Ansprüche und Erwartungen der Adressaten der Rede, Selbstansprüche, die vielleicht als Versprechungen an die Hörer verlautbart werden, Ansprüche der Institution und des Berufes usw. Expliziert man diese Schulsituation so, wie ich es hier versuche, dann wird deutlich, dass die von Combe gewählte Situation durchaus einschlägig für die Fremdheitsthematik sein kann. Deutlich wird dann, dass Schulanfang kein passageres, d.i. vorübergehendes Ereignis bleibt, flüchtig und anonym wie Alltagsbegegnungen, sondern für alle Beteiligten erste Ordnungsmuster und Normen generiert, d.h. man suchen und finden muss und die man nicht bloß als schon vorhandene exekutiert. (Vgl. dazu die heute noch vorbildliche, z.T. narrative und phänographische Studie von M.J. Langeveld über die Schulerfahrungen aus der Sicht des Kindes in “Die Schule als Weg des Kindes”. Braunschweig 1966). Letzteres wäre der Fall, wenn sie alle schon geübte Teilnehmer des Interaktionsfeldes wären. Deutlich wird aber auch, dass man als Beteiligter in dieser Situation gerade wegen der Unvertrautheit zwischen den Beteiligten auf ein gängiges alltägliches Repertoire der unverbindlichen Kommunikation zurückgreifen muss, um den Kontakt mit ihnen aufrechtzuhalten. Dazu gehören dann Formen unverbindlicher Höflichkeit, Floskeln, rhetorische Kniffe usw., die alles andere als pädagogisch folgenreich und wirksam zu bewerten sind.
Soweit die allgemeine Einordnung des Textes. Skizzieren wir jetzt einige markante Stellen der Deutung von Combe. Für ihn ist die Rede das “Musterbeispiel einer >Normenfalle>”, deutlich sichtbar in der Differenz von explizit Gesagtem und der konnotativen Ebene der Sprache, die tiefenhermeneutisch rekonstruiert worden sei. Auf dieser Ebene werde die “Falle” für die Kinder gebaut, verlockt durch den “Speck” der aufregenden neuen Situation, dem Abenteuer des neuen Lebensabschnitts “Schulanfang”. Für die Lehrerin sei das gleichfalls ein Abenteuer, “<neue< Kinder zu haben, die noch in vielen Bereichen unverbildet sind, deren Spiel- und Lerntrieb und deren Neugier noch nicht gänzlich – trotz Kindergarten und Elternhaus – verschüttet sind.” (Combe 1992, 170). Mit dieser theoretischen Eröffnung wird der gesamte Ablauf der Rekonstruktion dieser Szene vorstrukturiert: Schule – im möglichen Verbund mit Kindergarten und Elternhaus – erscheint als zivilisatorische Institution und Funktionszusammenhang, der seine aktuellen und zukünftigen Mitglieder hinterhältig zum Funktionieren bringt, ob sie es nun wissen oder nicht, ob sie es wollen oder nicht. Kinder – zumindest so, wie Combe und viele Reformpädagogen vor und nach ihm sie idealisieren: als unverbildet, spontan, neugierig – werden zu Opfern, die Lehrerin ist schon Opfer als Funktionärin des Systems. Das zeigt sich in ihrer Rede.
Combe analysiert die Redepassage: “Und jetzt habt ihr eine Lehrerin gekriegt mit so einem komplizierten Namen … Aber das werdet ihr ganz schnell lernen, und eure Eltern, die haben das schon gelesen auf dem Zettel” folgendermaßen, die ich des Eindrucks wegen wörtlich zitieren möchte:
“Inhaltlich bedeutet diese Äußerung Zuwendung. Konnotativ, unterschwellig bewirkt sie das Gegenteil. Hierdurch entsteht eine Bedeutungsstruktur, die das Opfer bannt, indem sie es daran hindert, das >eigentlich Gemeinte< zu erkennen. >Eine Lehrerin gekriegt<. Diese Formulierung impliziert, dass die Kinder quasi nichts dafür können, ausgerechnet diese Lehrerin gekriegt zu haben, sie sind also schuldlose Opfer einer Dschungelsituation, die sie nicht durchschauen. Sie wissen eben nichts von der Personalpolitik der Schule. Dass die Lehrerin einen komplizierten Namen hat, bedeutet unterschwellig >Aufwertung der Lehrerin>, sie ist eben nicht jedermann, kein Meier oder Müller. Gleichzeitig bedeutet kompliziert: >das könnt ihr noch nicht verstehen<, <dazu seid ihr noch zu dumm<. Verstärkt wird dieser Akzent noch durch den Hinweis, dass die Eltern diesen komplizierten Namen schon lesen können, sie werden also zu Niveauparteigängerinnen und -gängern der Lehrerin gemacht, die dadurch ihre quantitative Unterlegenheit gegenüber den Kindern für den Moment wettmacht. Fazit: Der Satz bedeutet eine Diffamierung der Kinder als >für das Komplizierte noch zu dumme Mehrheit<. Dabei ist diese Abwertung in die Zuwendungshülse verpackt: >das werdet ihr ganz schnell lernen<. Folge: Die Kinder sind hypnotisch gebannt in die Position, nicht wissen zu können, was sie eigentlich erwartet.” (Combe 1992, 171). Etwas später wird nach Combe der Höhepunkt der Rede inszeniert und die Falle “scharf gemacht”. “>Und ich hoff nur eins, daß es keinen gibt, der Angst hat, das braucht er nämlich überhaupt nicht.< Dieser Satz”, so Combe, “ist eine Verbalisierung eines Double-bind. >Ich hoff nur eins> heißt soviel wie >Wehe!> >Schande über jeden der …> Es wird also gedroht. Der soll Angst haben, der sich untersteht, Angst zu haben. Dies ist reines Double-bind, d.h. Begriffsverwirrung zwecks Zerstörung der Interpretationsfähigkeiten des Opfers” (Combe 1992, 172).
Die Redepassage, in der die Lehrerin die Kinder direkt mit der Frage anspricht: >Was wollt ihr denn eigentlich in der Schule, warum seid ihr denn hergekommen?< und die darauf folgende Antwort “Weil wir lernen wollen” etikettiert Combe als suggestive und rhetorische Frage, die unterstellt, dass “die Kinder aus freiem Willen in die Schule gekommen sind. Sie simuliert eine Freiheit, die es nicht gibt. Wir haben schließlich Schulzwang” (Combe 1992, 173). Weitere Stichworte der Deutungen von Combe: das öffentliche Aufrufen der Namen durch die Lehrerin soll Mittel der Entindividualisierung und Kontrolle wie auf dem Kasernenhof sein, das Fingerstrecken als Unterwerfen unter schulische Rituale, die längere Passage über den Freitag als ersten Schultag signalisiert für Combe den zweiten Höhepunkt: Denn den Kindern werde im ironisch-moralischen Unterton unterstellt, sie seien faul und berechnend, trotz der offensichtlichen Absicht, damit Heiterkeit zu erzeugen (vgl. Combe 1992, 175).
Brechen wir hier die Deutung von Arno Combe ab. Beobachtet man den sozialwissenschaftlichen Beobachter dabei, wie er seine Beobachtung verfertigt, so fällt Folgendes auf:
- Er verfährt subsumtionslogisch. Das Schulereignis “Schulbeginn”, konzentriert in der Rede, wird als typischer Fall einer raffinierten zivilisatorischen Praktik gedeutet: Kinder werden zu Schülern in der Institution Schule gemacht, die tendenziell wie jede machtförmige Institution in der modernen Gesellschaft funktioniert. Die Rede der Lehrerin selbst als Ereignis des Sagens, in dem Neues und noch nicht Bekanntes zur Sprache kommt und in der aktuellen Situation überhaupt erst verfertigt wird, verschwindet in der theoretischen Deutungsperspektive: Das Sagen wird zum Gesagten. D.h. der Prozess der Rede wird aufgesogen von dem in unserer disziplinierenden Schulkultur immer schon und immer wieder Gesagten. Anders ausgedrückt: In der theoretischen Deutungsperspektive gibt es schon die fraglose Ordnung, in die die zukünftigen Mitspieler eingeführt werden, damit sie funktionieren, und der Schulanfang mit der Rede der Lehrerin exekutiert diese Ordnung von Anfang an.
- So operiert diese wissenschaftliche Argumentationslogik mit eindeutig verteilten Rollen: als wäre das Skript für die Rollenspieler schon geschrieben, als müssten und würden die Rollen immer wieder ausgeführt werden. Das gilt für die Lehrerin, die in ihrer Rede scheinbar dominante Akteurin, das gilt auch für die Schüler und die Eltern.
- Spielräume für das Spielen scheint es nicht zu geben. Denn die machtförmige Inszenierung von untergründigen Wirkungszusammenhängen lässt nur den “Spielraum” von “Erfüllung” oder Nicht-Erfüllung der Spielregeln zu. Gewissermaßen werden die Spieler gespielt.
- Bedenken wir jedoch: Die wissenschaftliche Deutung dieses Geschehens geschieht aus einem eindeutigen Blickwinkel heraus: er ist genauso zentrisch und omnipotent angelegt wie das von ihm kritisierte anonym fungierende Panoptikum institutioneller zivilisatorischer Machtpraktiken: Befremdendes und Befremdliches lassen sich somit eindeutig negativ identifizieren. Die beobachteten Subjekte dagegen wissen nicht, was sie tun. Nur die übergeordneten Instanzen, zu denen der theoretische Beobachter gehört, wissen es. Ist das nicht theoretische Reifikation einer Praxis: Der Theoretiker unterstellt quasi kausale Wirkungszusammenhänge, statt sich sensibel auf eine durchaus nicht eindeutige Praxis deutend einzulassen. Diese Arbeitweise macht in meinen Augen den Aufklärungsanspruch suspekt. Die eingesetzten Deutungsmittel korrumpieren die guten Absichten; in solchen Deutungen erkennt sich der praktisch Handelnde nicht wieder. Obwohl die Lehrerin eine Rede hält, ist sie und ihr Publikum – theoretisch gesehen – mundtot. Ihre improvisierte Rede ist keine “allmähliche Verfertigung des Gedankens in der Rede” nach Kleist, ist also kein vieldeutiges Ereignis, sondern in der retrospektiven Deutung des Theoretikers ist sie ein eindeutiges Ergebnis, das Resultat institutioneller Praxis. Somit unterstellt der Theoretiker eindeutige und langfristige Wirkungen in einer meines Erachtens durchaus nicht eindeutigen Situation.
Brechen wir hier die kritische Kommentierung ab. Die von Combe angedeuteten Vermutungen über anonyme und subtile Machtpraktiken neuzeitlicher Institutionen kann man nicht mit einer großzügigen und ignoranten Handbewegung wegwischen. Darüber lässt sich “Fremdheit” thematisieren, aber nach meiner Ansicht nur eingeschränkt und dann mit idealistischem Gestus, wenn man sie als vorübergehende und prinzipiell aufzuhebende denkt. Die Denkweise, der ich mich zurechne, die phänomenologische, ist da weniger idealistisch. Sie ist von einem idealistischen Subjekt- und Handlungsverständnis abgerückt und gibt dezentrierenden, anonymen Strukturzusammenhängen im menschlichen Zusammenleben einen größeren Raum, in die leiblich-sozial und geschichtlich situierte Subjekte miteinander verstrickt sind. Aus dieser Sicht sind die von der ideologiekritischen Position Combes eingesetzten theoretischen Deutungsmittel kaum sachadäquat, werden doch konkrete Erfahrungen über den Leisten einer objektivistischen Theorie geschlagen, die vorgibt, alles aufklären zu können. Dann erscheint das Phänomen der Fremdheit als zivilisatorischer Sündenfall – wie in vielen reformpädagogischen oder nachrousseaustischen Konzepten -, als Sündenfall, den man mit geeigneten Mitteln ein für allemal rückgängig machen kann.
Anders ausgedrückt: Ist Fremdes konstitutiv für die menschlichen Verhältnisse oder nur eine vorübergehende Verirrung, deren Korrektur zur unbedingten Freiheit letztlich autonomer Subjekte führen kann? Können wir also das romantische verheißungsvolle fremde Land, wo die Zitronen blühen, betreten, oder müssen wir uns mit dem süßen Geschmack von geschrumpeltem Winterobst in den gemäßigten Breiten menschlicher Verhältnisse begnügen?
Das Ereignis der Rede – Aspekte einer responsiven Rationalität
Wie sieht die alternative Deutungsperspektive aus? Ich begnüge mich hier aus Zeitgründen mit einer knappen Skizze. Die nachfolgenden konkreten Interpretationen geschehen in ihrem Rahmen, und sie werden nach meiner Überzeugung und vielleicht nach ihrer eigenen auch dem Sinngeschehen der Schulanfangssituation gerechter als die oben skizzierte institutionenkritische. Sie verbucht Fremdheit nicht ausschließlich als Skandal neuzeitlicher zivilisatorischer Machtpraktiken, sondern sie thematisiert Fremdheit wie am Anfang meiner “soziologisch abgekühlten” Bemerkung über Fremdheit als eher unauffälliges, dennoch konstitutives und unausdrücklich fungierendes Moment unserer sozialen, geschichtlichen und leiblichen Existenz. Um jedoch dafür einen Blick zu bekommen, muss man eine paradigmatische Kehre vollziehen. Aus phänomenologischer Sicht, gestützt auf Bernhard Waldenfels´ Konzept der responsiven Rationalität (Waldenfels, B: Antwortregister. Frankfurt/M. 1994, Teil II, 242ff.), ist sie strukturell genauso tiefgreifend verankert wie die sozialphänomenologischen Leitkonzepte der Intentionalität oder die sozialwissenschaftlichen der kommunikativen Rationalität. Die hier eröffnete Blickwende richtet sich auf die Prozessualität und Genealogie von Ordnungen statt auf ihre Resultate, konkreter auf prozessuale, gewöhnliche und auch anarchische Ereignisse der Sinnkonstitution, die Ordnungsprozesse eröffnen, kanalisieren und vorhandene Ordnungen, z.B. der Sprache, des Handelns in sozialen Institutionen, des Denkens usw. flüssig halten. Solche Ereignisse sind die des Sagens, des Handelns, des Denkens, in denen wir auf spezifische und kontextuelle Ansprüche seitens der sachlichen, sozialen und naturhaften Welt antworten, statt in schon verfassten Ordnungen und Regelsystemen des Gesagten, der Handlungen, des Gedachtes zu funktionieren.
In diesem Sinne wäre die Lehrerin im Zusammenspiel mit ihren zukünftigen Schülern diejenige, die den Schulanfang als eine sich erst konstitutierende Ordnung zwischen noch Fremden zu bewältigen hat. Das heißt: Sie verfasst im Angesicht einer für sie und ihr Publikum keineswegs schon klar definierten Situation eine Rede, in der sie auf die Ansprüche dieser Situation und der Situationspartner mehr oder weniger geschickt und mehr oder weniger routiniert zu antworten versucht. Ich akzentuiere also die Rede als ein sich entwickelndes Ereignis, das keinem vorgefertigten Redetext folgt, sondern im Angesicht des Publikums allmählich verfertigt wird. Dabei huldige ich keinem interaktionistischen Spontaneismus und beziehe durchaus in meine Deutungen ein, dass eine routinierte und erfahrene Lehrerin als Vertreterin ihrer Institution auf mehr oder weniger eingefleischte Wissens- und Verhaltensmuster zurückgreifen kann und muss, um diese neue Situation bewältigen zu können. Nur – ich wiederhole – ich deute diese Bewältigung nicht subsumtionslogisch als subjektferne routinemäßige Exekution institutioneller Praktiken, sondern als konkret zu bewältigende, ja immer wieder neu zu bewältigende Aufgabe. Und sie erfolgt vor dem Angesicht und im Mitspiel eines fremden Publikums. Mit diesen vielen Fremden muss die Lehrerin umgehen, und das bedeutet, dass sie mit Unsicherheiten, mit Nichtwissen, ja mit Unverbindlichkeiten zu tun hat, die am ersten Schultag kaum in langfristige Verbindlichkeiten umschlagen. Infolgedessen aktiviert sie auch die anfangs beschriebenen alltäglichen Attitüden und Muster unverbindlicher Kommunikation, die zwischen Fremden zur Aufrechterhaltung von sozialer Interaktion nötig sind, ohne dass man ihnen schon Tiefen- und Langzeitwirkungen unterstellen darf.
EXKURS:
Ich kann hier die komplexe Struktur der responsiven Rationalität nur soweit andeuten, bis sie plausibel wird. Das erkenntnisleitende Modell für das Konzept der Responsivität ist das Redegeschehen des Gespräches, als Antwort-Frage-Geschehen, als eine Weise der konkreten Interaktion, in der man zusammen eine Aufgabe bewältigt, z.B. die, einen Sachverhalt zu klären oder Konsens zu suchen. Im Gespräch befinden wir uns als Miteinander-über-etwas-Sprechende nicht auf beiden Seiten zugleich, auf der Seite des Fragenden und zugleich des Antwortenden, sondern stets nur auf einer Seite. Auch ist das Gespräch nicht bloß ein reziprokes Wechselspiel, in dem beide Partner spiegelbildlich das Gleiche tun, so als wären die Akte des Sprechens zum Anderen und des Zuhörens nur ein Tausch von Informationen, in der sich das Gesagte nicht vom Gehörten unterscheidet oder in dem das Hören nur ein innerliches sprechendes Wiederholen des Gesagten ist. Positiv formuliert: Responsive Differenzen bestimmen das Gespräch und konstituieren Gemeinsamkeiten, nicht umgekehrt. Offen ist das Gespräch als sich entwickelndes Geschehen, also wenn es nicht als ein schon abgekartetes Spiel auftritt oder vom Ende her als schon abgeschlossen betrachtet wird. Sein Status ist der eines “Zwischenereignisses”, und seine Beschreibung erfolgt aus der jeweiligen Binnenperspektive dessen, der in ein Gespräch mit einem Anderen verstrickt ist. Zwischenereignisse haben komplexe Merkmale, von denen wir zur Verdeutlichung nur einige wichtige herausgreifen wollen, weil sie später in der Analyse der Rede der Lehrerin eine Rolle spielen werden.
Wichtige Merkmale sind Hiatus, Asymmetrie wie auch die oftmals nur implizite ethische Anspruchsdimension und nicht zuletzt Fremdheit. Derjenige, der dem Anspruch einer Frage folgt und darauf antwortet, ist ein anderer als derjenige, der fragt. So entsteht ein Dialog, der als Diastase, als räumliches und zeitliches Auseinander der Partner organisiert ist; räumlich verschieden, weil er von unterschiedlichen Standpunkten aus erfolgt, zeitlich verschoben, weil die Akte des Fragens und des Antwortens aufeinander folgen. Zwar mag das Was der Frage und Antwort beide Partner sachlich miteinander verbinden. Aber das Wie dieser beiden Ereignisse mitsamt ihren sinnlich-leiblich dimensionierten Einzelakten des Zuhörens, Anblickens und Redens ist durch keine übergreifende Ordnung geregelt und gehört auch nicht in die Verfügungsgewalt des einzelnen Partner. Jemand fragt auf eine bestimmte Art und ein anderer antwortet auf seine Weise. Wir haben es also mit zwei Ereignissen zu tun. Ob jemand zuhörend die Frage aufnimmt und ob er sie zu beantworten versucht, ist nicht vom Fragenden kausal zu bewirken. Hier nistet sich Fremdes und Unverfügbares in vielfältiger Weise ein, nämlich als Moment des unvermeidbaren Entzugs im Gesprächsbezug. Denn keiner ist Herr der Zwischenereignisse und der Inter-Aktionen. Zwischen beiden Partnern gibt es ein radikales gegenseitiges Aufeinanderangewiesensein, das aus jeweiligen Subjekten Respondenten, Ansprechpartner macht, die Ansprüche aneinander erheben, ohne sie selbst allein erfüllen zu können. Sie treten auch in der jeweiligen Ansprache als unterschiedlich Angesprochene auf und artikulieren dadurch eine in sich differenzierte und sich differenzierende Identität: Das zuhörende Ich wird vokativisch im Du oder Sie als Person angesprochen; der Fragende als Du oder Sie, der fragt, vom Ich, der zuhört, wahrgenommen. Frage und Anworten knüpfen zwar aneinander an, aber bilden zusammen kein bruchloses Kontinuum. Somit ist die Antwort keine logische Fortsetzung der Frage. Wäre sie es, gäbe es keinen Unterschied zwischen Ich und Du. Außerdem – ich stelle eine Frage oder gebe eine Antwort in der Hoffnung auf Akzeptanz. Jedoch diese in sich unvollendeten Akte hängen so lange in der Luft, wie sie der Andere nicht aufgreift. Das Vertrauen darauf, dass jemand mir antworten wird, bleibt letztlich riskant. Mein Partner muss eine Frage auf seine eigene Weise übernehmen, die er noch nicht vor der Frage oder der Antwort schon hat, sondern selbst finden muss. Das geschieht auf eine Weise, die ich weder voraussehen noch über die ich verfügen kann: Der Respondent ist in dieser Hinsicht ein für mich Fremder, den ich so noch nicht kenne oder dessen Reaktionen ich nicht im Voraus berechnen kann. Genauso wenig kann der Antwortende vor einer Frage schon wissen, was er gefragt wird, und deshalb kann er der Initiative des Fragenden nicht zuvorkommen. Im Gegenteil, antworten können, ist eine angebotene Möglichkeit, ein Nicht-Können des eigenen Könnens. Ob jemand dann eine Frage oder Antwort gänzlich so auffasst, wie man es erhofft hat, bleibt offen – für beide Seiten, wenn das Gespräch fortgesetzt wird, – vorausgesetzt, das Gespräch folgt keinem übergeordneten Telos oder einem institutionellen Rollenskript.
Sind solche Inter-Aktionen in konstitutiver Perspektive das, was meine soziale Existenz ausmacht, dann können wir mit Blick auf unsere Identität folgende Struktur festhalten, die m.E. noch zu wenig in der pädagogischen Bildungsdiskussion berücksichtigt worden ist: Ich werde in solchen sozialen Erfahrungen zu einem Ich und artikuliere mich daran als ein Ich, indem im Innersten meiner Welt- und Selbstbezüge Fremdbezüge wirksam werden. Ohne dieses vermag ich mich als Ich nicht zu artikulieren.
Ich möchte noch kurz auf das ethische Moment in dieser Struktur der Zwischenereignisse eingehen, das sich in ihrem appellativen Moment zeigt. Eine Frage als schon an mich gerichtet aufzufassen, heißt, auch wenn ich ihn überhören will, den Anspruch eines Anderen vernehmen, der mich verpflichtet, bevor ich mich selbst verpflichtet habe. In gewisser Weise macht die responsive Struktur der Zwischenereignisse eine radikale Trennung von Sein und Sollen unmöglich, denn ich bin im responsiven Handeln als der, der ich zu sein habe. Das ethische Ereignis des Appells liegt noch vor jeder moralisch festgefügten und etablierten Ordnung. Die sich in den Zwischenereignissen zeigenden Strukturen können folglich den Blick für die Wirkungsweisen von fungierenden Verbindlichkeiten zwischen den Menschen öffnen, die in Moralsystemen und Geltungsansprüchen immer schon vorausgesetzt werden, wenn sie zumeist auch unbeachtet geblieben sind. (Vgl. Waldenfels 1994, 250)
Ist dieses komplizierte Werkzeug der responsiven Rationalität bei der Analyse der Rede der Lehrerin hilfreich? Ich denke ja. Sie wird ihr gerechter als die ideologiekritische Interpretation. Deshalb versuche ich, die Rede aus ihrer Binnenperspektive heraus zu begreifen, ganz im Sinne Kleist, der von der allmählichen Verfertigung des Gedankens in der Rede spricht. Damit meint er, dass wir eine Rede nicht so halten, als würde unser Sprechen einen vorgefassten abgeschlossenen Gedankenzusammenhang lediglich hörbar machen, sondern das Sagen ist selbst ein sinnstiftendes, sich erst entwickelndes Ereignis vor einem Publikum, das interaktiv zuhört und daran mitwirkt. Gespräche nur als vorliegende Resultate zu behandeln, geschieht oftmals in wissenschaftlichen Auslegungen. Damit überspielen sie jedoch das Ereignis des Sagens zugunsten des Gesagten und erschleichen auf diese Weise einen nicht gerechtfertigten Zugewinn an Rationalität. Verführt dieses Vergessen nicht Combe dazu, die Rede der Lehrerin ausschließlich als bloßen Fall einer letztlich Anstoß erregenden institutionellen Sozialisationsprozedur zu funktionalisieren?
Ich wage eine andere Deutung, die nicht mit so schweren “Deutungsgeschützen” wie Combe auffährt. Für mich befinden sich Lehrerin und die Adressaten ihrer Rede in einer Situation mit – wie oben gezeigt – diversen Fremdheitszumutungen. Dabei spielen institutionelle und sozialisatorische Faktoren auch eine wichtige Rolle. Aber begreift man sie als fungierende Ordnungsstrukturen, die nicht die Subjekte einkerkern und sie gegen ihre Wände rennen lassen, dann bedürfen solche Ordnungen – übrigens wie die Sprache auch – einer Aktivierung durch die Subjekte. Diese sind dann nicht bloß Opfer, – das nur in pathologischen Fällen rigider Regelunterwerfung und zwanghafter Herrschaft -, sondern sie übernehmen sie auf ihre Weise. Dabei sind Übernahme und Modifizierung von Ordnungen zwei Seiten eines Prozesses, genauso wie im Sozialisationsprozess Individualisierung und Verallgemeinerung der Subjekte ineinanderspielen und nicht als Pole auseinanderdividiert werden können.
Die Rede der Lehrerin interpretiere ich als mehr oder weniger geschickten Antwortversuch auf die situativen Ansprüche des ersten Schultages. Der Tag ist nicht schon bis ins Einzelne vorgeplant ist, sondern er beginnt als ein relativ offenes Geschehen, und die Lehrerin improvisiert vor dem Publikum ihre Rede im Kleist´schen Sinne. Publikum heißt, nicht bloß zufällige Menschenansammlung, sondern es hört zu, versammelt vielleicht im Halbkreis um eine noch fremde Frau, die die vorhandene räumliche Organisationsstruktur der Klasse benutzt, zum Beispiel die Frontstellung der Tafel, um sich als Repräsentantin dieser Institution und damit als Lehrerin zu inszenieren und in dieser Inszenierung auch beachtet zu werden. Ob sie es wird, hängt nicht allein davon ab, dass sie ihre Stimme erhebt, also die Initiative ergreift und zur Rede einsetzt oder dass sie in der Schule eine Funktion erfüllt. Vielmehr – und das macht die vielleicht beängstigende, vielleicht auch nur verunsichernde Situation der Lehrerin aus, sie muss neu um Akzeptanz der Eltern und zukünftigen Schüler werben. Akzeptanz ist hier eine Gabe, die ihr nicht schon qua Amt gehört, sondern die vom Publikum kommt, und die ihr entzogen oder verweigert werden kann.
Diese Akzeptanz muss in einer solchen Anfangssituation nicht unbedingt dramatisiert werden, als ginge es um Alles oder Nichts, also würde sich schon das Schicksal der Lehrerin und ihrer Schüler hier in der ersten Begegnung entscheiden können. Sie kann im oberflächlichen Bindungsmuster einer gleichsam zu nichts weiter verpflichtenden höflichen, wenig emotionalen und unverbindlichen Aufmerksamkeit bestehen, so wie sie bei der Begegnungen zwischen Fremden aufkommt, wenn sie Kontakt miteinander aufnehmen. Wie auch immer: Es liegt nicht allein in der Hand der Lehrerin, was aus dem Ereignis des Redens wird, ob sie die mit der Situation verbundenen Ansprüche erfüllen kann. Lassen wir die Komplikation beiseite, dass wir nichts Genaueres über die Begleitumstände der Rede wissen, z.B. über die nicht unwichtigen werbewirksamen und eindrücklichen Aspekte der Haltung, des Auftretens, der Attraktivität, der Routine oder des Alters der Lehrerin, die entscheidend mitbestimmen, welches Gewicht und welche Resonanz ihre Worte beim Publikum erhalten.
Die Passagen der Rede, in der Combe eine Normenfalle vermutet, deren hilflose Opfer die Kinder sein sollen, stellen sich in einem anderen Lichte dar, wenn wir sie als responsives Tun interpretieren. Ich wähle hier nur die Anfangspassage aus und schlage einige alternative Lesarten zu denen von Combe vor, die m.E. plausibel sein könnten, auch wenn ich mir bewusst bin, daß sie keineswegs “zwingend” sein müssen, zumindest nicht in der Weise, wie Combe sie durch eine vorgeschaltete theoretische Sicht zwingend macht.
“Und jetzt habt ihr eine Lehrerin gekriegt mit so einem komplizierten Namen (…). Aber das werdet ihr ganz schnell lernen, und eure Eltern, die haben das schon gelesen auf dem ersten Zettel. Die begrüß ich natürlich auch ganz herzlich, hier zu ihrem ersten Schultag, hier in der 1a. Und ich hoff nur eins, daß es hier keinen gibt, der Angst hat, das braucht er nämlich nicht. Ihr werdet sehen, wie schön das hier bei uns und wie lustig das sein wird. Daß man natürlich auch was lernen muß, das ist wohl klar. Denn man geht ja nicht dreizehn Jahre in den Kindergarten (Lachen der Kinder).”
Auffällig ist hier schon das “und” am Beginn. Beginnt die Lehrerin damit ihre Vorstellung? Wenn das der Fall ist, dann ergeben sich verschiedene Interpretationen. In der Schriftsprache ist das Bindewort “und” Fortsetzung eines Gedankens; in der Rede könnte es ein etwas unschlüssiger oder verzögerter, wenig formaler Beginn sein, der Befangenheit, Zurückhaltung oder Abwarten ausdrückt. Die Lehrerin tritt nicht mit festem Schritt auf, vielleicht aus Rücksicht auf die Kinder, die aufgeregt und etwas ängstlich gegenüber den vielen Fremden, den Erwachsenen und den Mitschülern sind. Das “und” könnte aber auch als Bindewort das vorausnehmen, was Sinn der Rede sein wird: Die Schule hat ein Theaterspiel veranstaltet und nun folgt das Ereignis der Vorstellung der Klassenlehrerin. Das “und” bindet das eine Ereignis an das nun kommende des ersten Kennenlernens. Gewissermaßen inszeniert sich die Lehrerin als Fortsetzung dieses Schulereignisses, und nicht als signifikanter radikal neuer und davon abgehobener Auftakt. Ist das als Zurückhaltung und als Nichtaufdringlichkeit der Person zu interpretieren, die sich nicht als Mittel- oder Höhepunkt darstellt? Redeereignisse sind nie ganz eindeutig zu machen, besonders wenn der situative Kontext der Rede unterschlagen wird. Die Lehrerin kann mit diesem “und” auch den Auftakt ihrer Rede intonieren: statt eines eindrucksvollen “Ich bitte um Aufmerksamkeit” ein verhalteneres “und”, verbunden mit der Zuwendung zu den Kindern, die in den Bänken sitzen, während die Eltern herumstehen.
Die formale Vorstellung des Namens der Lehrerin erfolgt nicht ganz offiziell zum Anfang, sondern später nach einer m.E. signifikanten und nicht eindeutig klärbaren Einleitung: Sie spricht zuerst die Kinder mit “Ihr” an. Dann spricht sie von sich selbst als Objekt, von “einer Lehrerin”, mit unbestimmtem Artikel, als wäre sie nicht die Ichperson, die sie anspricht, sondern eine von vielen. Da kein Sagen ohne eine Sich-Sagen vonstatten geht, responsive Akte also unvermeidlich eine doppelte Struktur haben, bietet sich folgende Deutung an: Nicht freudig erwartetes Geschenk, das man kriegt, sondern das Gegenteil: “Eine Lehrerin kriegen” könnte auch als unverbindliche Distanzierung gelesen werden: “Ich habe euch nicht erwählt, ihr habt mich gekriegt” Diese Deutung würde die oben begonnene bestätigen: Sie könnte damit Unverbindlichkeit signalisieren, die auch im Wort “gekriegt” mitschwingt: Nicht “Ich bin Eure Lehrerin und heiße …, und ich habe Euch erwählt hat”, das wäre schon ein starker Ausdruck der Selbstverpflichtung, sondern eher das Gegenteil, eine Zurückhaltung, die zu nichts verpflichtet: Lehrerin für diese Klasse zu sein, das erscheint als Vorgang, mit dem sie als erste Person nichts zu tun hat, der ihr selbst widerfahren ist, denn sie ist nicht “die” oder “ihre”, sondern nur “eine” Lehrerin unter anderen.
Eine zweite plausible Deutung könnte zeigen, dass sie die Perspektive der Kinder in der Jetztsituation berücksichtigt. Denn, in der Tat, die Kinder, die sie zum ersten Mal sehen, haben sie “gekriegt” wie etwas Überraschendes, das sie nicht haben erwarten oder wissen können. Je nach Intonierung kann dieses “Kriegen” akzentuiert werden als “Geschenk”, auf das man lange gewartet hat (“Welche Klassenlehrerin wird man wohl bekommen? Wird sie nett sein?”) oder eher als etwas Beiläufiges, so wie man das Verb “kriegen” in der saloppen umgangssprachlichen Diktion benutzt, die diesen Vorgang nicht als etwas Besonderes aufwertet. Im Wort “Kriegen” liegt auf alle Fälle ein Moment der Unbekanntheit, der Fremdheit und Überraschung, je nach Deutung eher beiläufig und damit wenig dramatisch gesprochen, oder eher hervorgehoben.
Gehen wir weiter und berücksichtigen wir den weiteren Redekontext des “komplizierten Namens”, dann ist auch folgende Deutung möglich: Die Lehrerin fängt bewusst nicht mit einer namentlichen Vorstellung an, sondern weil der Namen kompliziert zu hören und wahrscheinlich auch zu schreiben ist, adressiert sie ihre Rede zuerst an die Kinder und stellt sich in ihrer Funktion vor, die einfacher zu verstehen ist als der Name. Der komplizierte Name erhebt also einen Klärungs- und Verständigungsanspruch. Nur – wie löst ihn die Lehrerin ein?
Auch hier gibt es keine eindeutige Interpretation, so wie Combe sie uns vorschlägt, sondern mehre Deutungen sind möglich. Ich wähle eine aus, die der starken Deutung von Combe gegenübersteht.
Im kommunikativen Alltag bei der Erstbegegnung von Fremden, die miteinander nicht nur flüchtig zu tun haben, gibt es oftmals die Situation, dass der kompliziert klingende Name wiederholt, wenn nicht gar buchstabiert werden muss. Das braucht kein existentiell bedeutsamer Akt zu sein. Jemanden mit seinem Namen ansprechen, wenn man länger mit ihm umgeht, gehört zur Etikette, die keine tiefgehende Verpflichtung nach sich zieht. Dieser Etikette folgt auch die Lehrerin. Nur verknüpft sie diese mit der besonderen Situation des Schulanfangs und artikuliert darüber ihre pädagogisch professionelle Verständniskompetenz. Denn als professionelle Lehrerin kann sie sich dem in der Schule jederzeit fungierenden Anspruch der Kinder auf Verständlichkeit verpflichtet fühlen und die durch das Hören ihres Namens entstehende Verwirrung der Schüler auffangen. Sie tröstet die Kinder und beruhigt sie. Denn auch für Kinder ist in der Begegnung mit Fremden, mit denen man zu tun bekommt, der Name signifikant. Meistens lautet die erste Frage der Kinder: “Wie heißt Du?” Die neuen Schüler sollen nicht zu Anfang ihrer Schulkarriere mit der enttäuschenden Erfahrung konfrontiert werden, etwas so Wichtiges und Zentrales wie den Namen ihrer Lehrerin nicht verstanden zu haben. Schuld daran ist der komplizierte Name, nicht das Unvermögen der Kinder, die in eine Normenfalle laufen, weil sie die untergründige Botschaft hören: Ihr seid noch dumm. Außerdem werden sie ihn bald lernen, und zwar alle: Die implizite Botschaft könnte also lauten: Die Schule, die Lehrerin sorgt dafür und traut euch auch zu, dass alle etwas Kompliziertes lernen können. Außerdem, zur Beruhigung der Kinder, die Eltern kennen den Namen schon. Ihre Unsicherheit wird über die Kompetenz der Eltern abgefedert und die Kinder werden so entlastet.
Spielt die Lehrerin hier – so die Deutung von Combe – das Können der Eltern gegen das Nichtkönnen der Kinder aus und setzt diese dadurch herab, oder zeigt sie darin nicht gerade das Gegenteil, nämliche pädagogische professionelle Sensibilität? Leider fehlt die Intonation der Rede, um diesen Redeanfang besser deuten zu können.
Im folgenden Satz erfolgt die Hinwendung zu den Eltern mit den Worten: “Die begrüße ich natürlich auch ganz herzlich”. Diese Hinwendung zu den neuen Adressaten, den Eltern, erfolgt auf das im Vorsatz gegebene Wort “Eltern”, das nun als Stichwort des Adressatenwechels fungiert. Denn jede Rede, die improvisiert wird, entfaltet sich sukzessiv in der Zeit und entwickelt ihre Themen und Verknüpfungen während des Redeereignisses. Aus dieser Sicht werden Redebestandteile zu Stichworten der folgenden Ausführungen. Wie kann man diese Hinwendung deuten. Dass die Lehrerin hier keinen Absatz macht, sondern mit “die …” fortfährt, ist eher ungewöhnlich. Sie begrüßt sie nicht formell mit der Anrede “Sie”, sondern – so sieht es aus – fast nur beiläufig. Auch hier gibt es mehrere Deutungen, die die Verschriftlichung induziert:
Sind die Eltern nicht so wichtig, dass sie wie die Kinder mit einer eigenen Anrede gewürdigt werden, da sie ja nur anlässlich dieser Gelegenheit des Schulanfangs dabei sind und später nur noch gelegentlich? Oder – ich probiere das andere Extrem: Ertappt sich die Lehrerin beim Stichwort “Eltern” im vorangegangenen Satz dabei, dass sie die Eltern noch gar nicht begrüßt hat und dass sie es “natürlich” tun muss und dann auch noch “ganz herzlich”? Dann wäre dieser Satz eine nachgeholte “Verbeugung” vor den Eltern, die ja so unwichtig nicht sind, weil sie weiterhin im Schulalltag mitreden werden. “Ganz herzlich” ist dabei doppeldeutig. Man kann je nach Intonation dieses “ganz” als Verstärkung oder als Minderung von “herzlich” hören. Wäre letzteres der Fall, so könnte das eine eher unverbindliche Höflichkeitsfloskel sein: Fremden gegenüber ist man nicht im aufrichtigen Sinne “herzlich”, sondern nur “ganz herzlich”. Der Satzanfang “Die begrüße ich …” würde für diese Deutung der floskelhaften Höflichkeit sprechen. Eine von Combe herausgehörte Bevorzugung der Erwachsenen gegenüber den Kindern kann ich aus solchen Wendungen nicht heraushören.
Ich möchte hier meine Deutung abbrechen. Würde man diese von mir durchgeführte etwas waghalsige Sequenzanalyse so feinschrittig fortführen und durch Zusatzinformationen auffüllen, dann käme man vielleicht zu den ausgedehnten Oevemannschen Interpretationsausflügen. Das beabsichtige ich nicht. Wichtig war mir, einen ersten Eindruck davon zu verschaffen, dass man die Rede der Lehrerin als ein responsives Tun, als Ereignis interpretieren kann. Offen bleibt dabei, ob sie aufgrund der Fremdheitssituation sich eher auf dem flachen Niveau unverbindlicher Kommunikation begibt, oder ob hier langfristige institutionelle Wirkungsmechanismen exekutiert werden. Die im weiteren Redeverlauf folgenden altbekannten rhetorischen Floskeln des “Schulwitzes” über das aufgeschobene Lernen durch das Wochenende, über die zur den Stereotypen gehörenden Abgrenzungen zwischen Kindergarten und Schule, über die Betonung schon gekonnter schulischer Verhaltensweisen wie dem Aufzeigen usw. müssen nicht als perfides “Fallenstellen” oder vermeintlich progressive Attitüde hochgerechnet werden. Sie können in ihrer Stereotypie der Umgangssituation mit einem noch fremden Publikum geschuldet sein: Man lockert seine Rede auf mit dem üblichen Gerede und Wissen, von dem man annehmen kann, dass es das Publikum teilt und versteht. Dahinter treten eigene pädagogische Ansprüche oder persönliche Überzeugungen zurück. Sie können im Angesicht des fremden Publikums noch nicht zum Thema werden, zumindest dann nicht, wenn man als normale Lehrerin auftritt, – im Gegensatz zu charismatischen Pädagogen, die eine Mission zu erfüllen haben, und das mit jeder Faser ihres Lebens und zu jeder Gelegenheit.
Eine freie Rede halten ist nicht, eine vorgefasste Rede abspulen ohne Punkt und Komma. Es ist ein vieldimensionales, responsives Geschehen: ein Reden zu den Zuhörern, die über Mienenspiel und Körpersprache diese Rede synchron begleiten und kommentieren, also ist Reden zugleich auch ein Zuhören oder Zusehen bzw. ein Gehört- und Gesehenwerden; zugleich ist es auch ein Sich-reden-hören und im sukzessiven Aufbau des Sagens ein Finden von mehr oder weniger geglückten Anschlüssen.
Reden ist zugleich nicht bloß ad hoc Entstehendes, sondern hat Tiefendimensionen, bei denen man den Eindruck haben könnte, dass eine Rede halten ein wenig bewusst kontrolliertes Ereignis ist. Nicht ich rede, sondern es redet in mir, und das was, das da mitredet und sich strukturierend aufdrängt sind vielleicht Redegewohnheiten und -muster, auch Themen, die Institutionen wie Schule vorgeben, besonders deswegen, weil sie uns als massive Vergangenheit in den Knochen steckt. Aus diesem Grund können psychoanalytische Deutungsverfahren sehr fruchtbar sein, aber sie sollten nicht ausschließlich so wie die von mir kritisierte Interpretation im vorliegenden Fall dominieren. Das geht voll auf Kosten des Ereignischarakters der Rede und des befremdenden Abenteuers Schulanfang. Sie erstarren dann zu Ritualen, die sich zwanghaft wiederholen. Aber so tot sind die Schulen trotz ihrer bedauernswerten Starrheit auch wieder nicht, das meine ich jedenfalls.
Ich komme zum Schluss:
Fremdheit wurde thematisiert, und das in vielerlei Hinsichten: Befremdung über theoretische Deutungen und die konstitutive Dimension von Fremdheit in sozialen, also auch pädagogischen Situationen, deren Klärung keine sie überfliegenden Deutungsversuche verträgt. Rehabilitiert werden so die Mitwirkenden der Praxis, und rehabilitiert wird auch ein hermeneutisches Praxisverständnis, das in Feinanalysen zeigen kann, wie Ordnungen entstehen und aufrecht erhalten werden können, weil sie durch Zwischenereignisse sozialen Handelns stets verflüssigt werden müssen. Und das sind Ereignisse, die weder dahin tendieren, die interaktiven Subjekte gegeneinander zu autonomisieren, noch es erlauben, die Institutionen als bloße Funktionszusammenhänge zu konstruieren, die eigengesetzlich durch bewusstlose Handlungssubjekte hindurch ihre Eigenlogik vollstrecken. Beide Konstrukte sind aus meiner Sicht Verabsolutierungen theoretischer Modelle, die sich an pathogenen oder extremen Mustern orientieren. Rehabilitiert wurde auch ein nicht emphatisches Verständnis von Fremdheit, ein gleichsam abgekühltes Verständnis der Kommunikation von Fremden, die auf Unverbindlichkeit beruht, statt alles auf die eine Karte von rückhaltloser Offenheit und ungetrübten intimen Vertrauens zu setzen. In der Schulanfangssituation spielt vermutlich dieser Aspekt unverbindlicher und oberflächlicher Kommunikation eine wichtige Rolle bei der ersten Kontaktanbahnung. Man kann außerdem wie Langeveld schon in den 50iger Jahren davon sprechen, dass Lehrerinnen und Lehrer im Vergleich zu den Eltern professionelle Fremde sind, die die Kinder an institutionelle Aufgaben heranführen, ohne dass sie dafür geliebt werden müssen. Dieses wenig emphatische und wenig charismatische Professionsverständnis wird heute in soziologischer Sicht gleichfalls thematisiert. Professionalisierte Kommunikationsmuster bleiben in Institutionen mit hohem Publikumsverkehr meistens “unterkühlt” und oberflächlich. Experten und Professionelle gehen nicht gleichsam mit Haut und Haaren wie Privatpersonen mit den vielen Fremden um, sondern in vielen Formen unverbindlichen Kontakts, der ihnen nicht zu nahe tritt und der eine funktionale Dienstleistung sicherstellt. Diese Sicht mag für engagierte Pädagogen ketzerisch erscheinen. Aber – ist nicht pädagogisches Handeln auch institutionell imprägniert und damit auch teilweise anonym durchstrukturiert, und können wir alle Kinder rückhaltlos lieben, die wir im Lernen begleiten?
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