Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- Klassenterritoriale Räume: Gang und Tafelbereich II
- Klassenterritoriale Räume: Tisch und Tischbereich I
- Klassenterritoriale Räume: Tisch und Tischbereich II
- Klassenterritoriale Räume: Tisch und Tischbereich III
Falldarstellung
Im folgenden empirischen Beispiel werden unterschiedliche Formen der Handhabung des Ganges innerhalb des Klassenterritoriums durch die Schüler dargelegt und analysiert. Die Beschreibung setzt ein, als fast alle Schüler sowie der Lehrer sich nach der zweiten großen Pause bereits im Klassenraum befinden. Die Unterrichtsstunde beginnt offiziell um 12:15 Uhr. Einige der Schüler haben ihre Sitzplätze eingenommen.
Klasse 5x, 24.3.1999 (Sitzordnung 2), Übergang Pause – Unterricht, 12h 16:40-12h 17:15
Der Lehrer Maier tritt langsam von seinem Pult in den Bereich vor der Tafel vor die Klasse. Er hält Din-A4-Blätter in den Händen und ruft: „Ehm Sabah?“ Ein Junge ruft zurück: „Die ist nicht da! (.) Soll ich’s ihr runterbringen? Die ist unten.“ Ein Mädchen ruft: „Herr Maier!“, ein anderes: „Herr Maier! Die kommt wieder.“ Herr Maier blickt währenddessen eine Weile auf die Blätter, nimmt das oberste Blatt und legt es zwischen die anderen Blätter. Dann beugt er sich nach vorne, zuckt mit den Schultern, schüttelt abwehrend mit dem Kopf und läßt die Hände auf die Oberschenkel fallen. … Mit einem mehrdeutigen Lächeln wendet er sich wieder zurück zum Pult.
Währenddessen kommt Yussif in den Klassenraum, gefolgt von Stefan, der die Tür hinter sich schließt. Beide gehen über den Mittelgang geradewegs in Richtung Garderobe, Yussif und anschließend Stefan blicken im Vorbeigehen einen Moment zum Lehrer zurück. Nacheinander nehmen die Jungen im Gehen ihre bereits geöffneten Jacken ab. Sie kommen auf dem Mittelgang an dem Tisch von Mehmet vorbei. Mehmet, der auf seinem Stuhl sitzt, wendet sich mit dem Oberkörper den beiden Vorbeikommenden zu. Als Stefan an ihm vorübergeht, hebt Mehmet die rechte Hand, streckt den mittleren Finger nach oben, die anderen bleiben leicht gekrümmt („Fuck-Zeichen“). Gleichzeitig führt er die linke Hand lachend zum Mund. Stefan schaut Mehmet ins Gesicht, dann auf dessen rechte Hand, geht weiter, während er zurückblickt. Mehmet blickt Stefan nach, ruft: „Komm her Du“, dieser ruft zurück: „Nee!“. Mehmet lehnt sich zur Seite und rückt seinen Stuhl etwas vom Tisch weg.
Mehmet blickt Stefan nach. Als dieser gerade aus dem Garderobenbereich zurückkehrt und in einem kleinen Bogen an Mehmet vorbeizugehen sucht, erhebt sich Mehmet schnell von seinem Stuhl, geht direkt auf Stefan zu und schlägt ihn mit der Faust zweimal auf die Schulter. Abschließend streicht er ihm lachend mit der Hand über den Oberarm. Stefan wehrt ab, geht an Mehmets Tisch vorbei zu seinem Platz, blickt Mehmet stirnrunzelnd an und ruft: „Laß, hör auf Du“ und setzt sich auf seinen Platz am nahegelegenen Tisch. Mehmets Blick folgt der Bewegung Stefans. Yussif kommt aus dem Garderobenbereich, rempelt Mehmet etwas von der Seite an, geht hinter ihn, umgreift seinen Hals mit einem leichten Griff in den Nacken, läßt ab, streicht mit der Hand über dessen Rücken und setzt sich neben ihn. Dann neigt er seinen Kopf zu Mehmet herüber, der sich gleichfalls gesetzt hat, und flüstert ihm etwas ins Ohr.
Interpretation
Etwas verspätet betreten die beiden Jungen Yussif und Stefan das Klassenterritorium. Einige Schüler sitzen bereits, der Lehrer ist schon anwesend und mit einer unterrichtsbezogenen Handlung befaßt – der Rückgabe einer schriftlichen Arbeit an eine Schülerin. Charakteristisch ist dabei die Positionierung des Lehrers: das Hervortreten vor die Klasse, und zwar in den Tafelbereich als einem primär ihm zur Verfügung stehenden Nutzungsraum – mit der Requisite eines Stapels Blätter ausgestattet, einem Symbol schulischer Handlungen. Dieses Eintreten in einen zentralen Ort des Klassenterritoriums, die aufrechte, stehende Haltung sowie das Aufrufen einer Schülerin markieren zunächst eine mögliche Eröffnungsphase des Unterrichts. Die Rückgabe der schriftlichen Arbeit an eine Schülerin mißlingt, denn, wie ein Mitschüler erläutert: „Die ist unten“.1 Dieser Information und impliziten Deklaration ihrer legitimen Abwesenheit schließt jener Schüler das kooperative Angebot an, sich als Übermittler innerhalb des schulischen Territoriums zur Verfugung zu stellen.2 Dieses wird gestisch verworfen: Der Lehrer legt schweigend das Blatt zurück in den Stapel. In diesem Signal, der folgenden vehementen Verwerfungsgeste und dem die Interaktion abschließenden Lächeln mit entproblematisierenden Charakter zeigt sich eine asymmetrische Struktur der Interaktion zwischen Lehrer und Schüler. Die asymmetrische Struktur findet sich in der räumlichen Positionierung des Lehrers gegenüber den Schülern wieder.
Zeitgleich mit dieser Lehrer-Schüler-Interaktion kommen die beiden Jungen in den Klassenraum. Sie gehen zielgerade den Weg zur Garderobe, nehmen dabei den Akt der Garderobenablage schon voraus, indem sie während des Gehens ihre geöffneten Jacken abstreifen. Dieser, auf den Kontext „Unterricht“ bezogene Handlungsablauf wird begleitet durch den Blick zurück zum Lehrer, eine Form des augenblicklichen Erfassens der durch den Lehrer entscheidend (mit-)strukturierten Übergangssituation. Damit einher geht eine Vergewisserung: das Beobachten des „Beobachters“, d.h. des Lehrers, der bei Anwesenheit immer auch eine Schülerverhalten kontrollierende Funktion einnehmen und die Verspätung als Fehlverhalten skandieren kann: Der freie offene Raum des Ganges von Tür zur Garderobe macht zwei sich dort bewegende Gestalten augenfällig, insbesondere wenn die Mehrzahl sich im Bereich der Tische und Stühle, zum Teil in Sitzposition befinden. Der Lehrer zeigt jedoch keine mimisch-gestische oder verbale Negativwertung des Schülerverhaltens.
Der Weg zur Garderobe führt die Schüler an bereits sitzenden Mitschülern vorbei, u.a. an Mehmet. Er hat die im institutionellen Ablaufschema vorgegebenen Handlungsschritte bereits vollzogen: Betreten des Klassenterritoriums, Gang zur Garderobe, Ablage der Straßenkleider, Sitzplatzaufsuchen, Einnahme der schulischen Ruheposition des Sitzens. Aus dieser Haltung eines unterrichtsbereiten Schülers bricht Mehmet vorübergehend aus, indem er Stefan provoziert. Der Gang, der hier von Stefan als Durchgang zum Ort der Garderobe genutzt wird, führt hier zu einer interaktiven Verwicklung durch Mehmet, der sich Stefan kaum entziehen kann. Stefan wird damit selbst von dem Vollzug des vorgegebenen Handlungsschemas zunächst potentiell „abgeworben“. Die stilisierte Geste des „Fuckings“ von Mehmet hat nicht nur sexualisierenden, sondern auch angriffslustigen Charakter. Letzteres wird durch die Aufforderung zum Zweikampf: „Komm her Du“ unterstrichen. Stefan lehnt Mehmets (Kampf-)Angebot ab und geht den Gang zur Garderobe weiter. Er hält die auf Unterricht bezogene Orientierung aufrecht. Die Dramaturgie des interaktiven Geschehens spitzt sich zu. Stefan sucht sich der mit dem Gang zum Sitzplatz notgedrungenen Nähe zu Mehmet und der damit drohenden körperlichen Attacke zu entziehen – es mißlingt. Mehmet, der am Rande des Ganges sitzt, braucht nur wenig, um selbst die für die Attacke notwendige Körpernähe herzustellen. Er paßt Stefan ab, geht auf ihn zu und schlägt ihn mit der Faust, dringt ein in dessen Körperterritorium. Diese Attacke auf dem Gang schließt er mit einer besänftigenden Geste ab, die durch Lachen begleitet ist: Er markiert damit abschließend den spielerischen Charakter, der gleichwohl von Stefan nicht anerkannt wird. Für ihn bleibt es ernst, er fordert Mehmet mimisch und verbal zur Beendigung seiner Attacke auf.
Hier wird deutlich, daß der Gang nicht nur in seiner Funktion als Durchgang zu verschiedenen weiteren schulischen Funktionsstätten wie: Garderobe, Sitzplatz, Tafel etc. gehandhabt wird (Stefan), sondern vielmehr vor diesem Hintergrund als ein Forum, das Interaktionen jenseits des Vollzugs unterrichtsbezogener Handlungsabläufe ermöglicht, jenseits und im Widerstreit mit einem solchen Vollzug. Solche interaktiven Verwicklungen, die Mehmet uns vorführt, entstammen einer anderen Orientierung als jener auf den Handlungszusammenhang „Herstellung einer Unterrichtsbereitschaft“. Sie sind gehäuft etwa auf dem Schulhof in der Pause anzutreffen und entstammen dem Bezugsrahmen der Peergroup. Das territoriale Arrangement der Institution, ihre zeitliche und organisatorische Strukturierung bilden hier die Bedingungen für die Interaktion zwischen Mehmet und Stefan: die Zusammenfassung einer großen Gruppe an Schülern in einem vergleichsweise kleinen Raum; die Gänge zu unterrichtsorganisatorisch bedingten Funktionsstätten wie die Garderobe, die Sitzplätze etc., welche zu bestimmten Zeiten die direkte Zusammenkunft mit einer Vielzahl von Mitschülern mit sich bringen.
Bedeutsam ist hier der situative Rahmen. Es handelt sich um eine liminale Phase des Übergangs von der Pause zum Unterricht, welche die schon eingangs betonte Strukturschwäche aufweist: Zwar hat der Lehrer bereits erste Schritte hinsichtlich einer Unterrichtseröffnung unternommen, das Organisationssystem (Luhmann 1984) „Schule“ hat jedoch noch keine Oberhand. Der Lehrer kehrt nach Scheitern der Übergabe einer schriftlichen Arbeit aus dem zentralen Tafelbereich zunächst in den Hintergrund des Pultes zurück und bildet anschließend, wie noch dargelegt werden wird, ein eigenes lnteraktionssystem (ebd.) innerhalb des Klassenverbandes. Gleichzeitig läßt sich in dieser Übergangsphase das System der Peergroup nicht ungebrochen aufrechterhalten. Die Schüler kommen insbesondere bei Anwesenheit des Lehrers nicht umhin, die territorialen und symbolischen Markierer für den anstehenden Unterricht zu beachten, zu registrieren und bis zu einem gewissen Grade selbst zu vollziehen, d.h. sich dem institutionellen Ablaufschema einzupassen, so beispielsweise im Gang zur Garderobe. Gleichwohl geschieht dies in unterschiedlicher Intensität und mit Brüchen, mit Distanznahme zum gerade Vollzogenen, mit Distanz zur Übernahme der sozialen Identität (Goffman 1967) des Schülers.
Ein Beispiel für Distanznahme oder situative Rücknahme der unterrichtsbezogenen Orientierung finden wir in Mehmet, der bereits am Sitzplatz (gemäß Sitzordnung) sitzt und von da aus Stefan provokativ sexualisierend sowie körperterritorial attackiert, einen Mitschüler, der sich aktual den institutionellen Ansprüchen beugt und diese Orientierung auch gegenüber Mehmets (provokantem) Interaktionsangebot aufrechterhält. Eine solche Intensität im Vollzug einer auf Unterrichtsbereitschaft bezogenen Handlung wie bei Stefan läßt sich bei Yussif nicht erkennen. Nach der Auseinandersetzung zwischen Mehmet und Stefan begeht Yussif beim Gang zum Sitzplatz gegenüber ersterem selbst eine solche, das Körperterritorium betreffende Attacke, indem er ihn kurz von hinten am Nacken umfaßt. Diese Attacke verbleibt ebenfalls spielerisch, Yussif wiederholt die gleiche entproblematisierende besänftigende Geste, mit der Mehmet seinen Angriff auf Stefan abschloß. Im Gegensatz zur vorherigen Interaktion wird der spielerische Charakter vom „Opfer“ anerkannt. Mehmet läßt anschließend die Vertraulichkeit des Ins-Ohr-Flüsterns von seiten Yussifs zu. Beide, Mehmet und Yussif, nehmen in ähnlich expressiver Weise und im Gegensatz zu Stefan Distanz zum Vollzug unterrichtsbezogener Handlungsformen. Dies und das diesbezügliche Wissen voneinander mag auch erklären, weshalb Stefan und nicht Yussif der Adressat von Mehmets Provokationen wird, und weshalb zwischen Yussif und Mehmet eine körperliche Attacke als Spiel verstanden wird.
Fußnoten:
[1] Der Klassenraum befindet sich im obersten Stockwerk. Zu bestimmten Unterrichtszeiten besuchen einzelne Kinder Förder- oder anderen, außerordentlichen Unterricht, der in den unteren Stockwerken stattfindet.
[2] wenn auch darin potentiell ein Vorteil: die Möglichkeit, auf konforme Weise sich der Unterrichtssituation zeitweilig entziehen zu können, eingelagert sein mag.
Literaturangaben:
Mannheim, Karl: Strukturen des Denkens. Frankfurt/M. 1980
Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984
Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt/M. 1967
Mit freundlicher Genehmigung des VS-Verlages
http://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-322-91361-6_4
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