Diskursanalyse

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Peter Weber & Michael Becker-Mrotzek:

Funktional-pragmatische Diskursanalyse als Forschungs- und Interpretationsmethode

1. Entstehungsgeschichte und Hintergrund

2. Merkmale und Prinzipien der Methode

3. Grenzen der Methode

4. Beispielinterpretation

5. Zum Verhältnis von quantitativen und qualitativen Methoden

Literatur

 

1. Entstehungsgeschichte und Hintergrund

In einem weiten Sinn wird häufig mit dem Begriff Diskursanalyse die linguistische Untersuchung mündlicher Kommunikation generell bezeichnet. Da es hier verschiedene theoretische Ansätze gibt, die zum Teil erhebliche Unterschiede hinsichtlich ihres wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses und der eingesetzten Methoden aufweisen, kann im Folgenden kein Überblick über alle Forschungsrichtungen gegeben werden, sondern lediglich einer ausführlicher dargestellt werden: die Funktionale Pragmatik. Sie ist ein sprachtheoretisches Konzept, das seit Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zunächst von Konrad Ehlich und Jochen Rehbein entwickelt wurde. Der Namensbestandteil Pragmatik weist darauf hin, dass Sprache nicht in erster Linie als System, sondern als besondere Form menschlichen Handelns untersucht werden soll; funktional bedeutet, dass sprachliches Handeln vor allem durch seine Zweckbezogenheit geprägt gesehen wird.

Die Funktionale Pragmatik versteht sich – (ursprünglich) auf einer historisch – materialistischen Gesellschaftstheorie basierend – als umfassende Theorie der Sprache als Form sozialen Handelns; umfassend, weil sie alle systematischen Dimensionen der Sprache berücksichtigen will. Sie beschränkt sich nicht auf die Pragmatik, sondern untersucht Sprache auch in den Gebieten Grammatik, Syntax, Semantik, Phonologie und Schrift.

„Functional Pragmatics views society as central to understanding language, but tries to avoid the danger of short circuiting linguistic forms and ideological functions, by reconstructing in great detail linguistic and mental processes.” (Redder 2008, 134)

Ehlich und Rehbein haben ihren wissenschaftlichen Ansatz in Forschungsprojekten zur Untersuchung von schulischer Kommunikation entwickelt (‚Kommunikation in der Schule (KidS)‘, Universität Düsseldorf 1974-1979; ‚Analyse von Unterrichtskommunikation‘, DFG-Forschungsvorhaben 1978-1983). Die Zusammenfassung wichtiger Untersuchungsergebnisse findet sich in einer Reihe von Aufsätzen und dem Buch ‚Muster und Institution‘ (Ehlich und Rehbein 1986).

Arbeiten, die im Rahmen der Funktionalen Pragmatik in der Folgezeit auch durch andere Sprachwissenschaftler entstanden sind, untersuchen weitere Formen institutioneller Kommunikation (Kommunikation vor Gericht, Arzt-Patienten-Kommunikation, Lehr-Lern- oder Instruktions-Diskurse, Dienstleistungs- und Beratungskonstellationen). Arbeiten zur Unterrichtskommunikation betreffen die Unterweisung von Auszubildenden im Bergbau (Brünner 1987), Rollenspiele im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht (Grießhaber 1987), den Mathematikunterricht (von Kügelgen 1994), das Diskutieren (Vogt 2002), das Präsentieren und Moderieren (Berkemeier 2006) und das Erklären (Vogt 2009).

Im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses der Funktionalen Pragmatik steht die Frage nach dem Zusammenhang von sprachlichem Handeln, sprachlicher Form und gesellschaftlichen, vor allem institutionellen Strukturen und Zwecken. Ehlich und Rehbein, aber auch viele nachfolgende Sprachwissenschaftler, haben mittlerweile ein weites Spektrum von Untersuchungsergebnissen vorgelegt, das von der Beschreibung grammatischer Phänomene auf der Mikroebene bis hin zu Institutionenanalysen mit gesellschaftskritischem Anspruch reicht. Die Funktionale Pragmatik versteht sich dabei als eigenständige Weiterentwicklung unterschiedlicher Forschungsansätze, vor allem der Sprechakttheorie (a), der Sprachtheorie Bühlers (b) und der Handlungstheorie (c).

(a) Eine besonders wichtige Anregung für Ehlich und Rehbein stellten die Arbeiten der englischen und amerikanischen ‚ordinary language philosophy‘ dar. Die sogenannte Sprechakttheorie Austins und Searles untersucht den Handlungscharakter der Sprache, indem sie Einzeläußerungen bzw. Sätze eines (gedachten) Sprechers zum Gegenstand sprachphilosophischer Betrachtung macht. Die entscheidende Weiterentwicklung der Sprechakttheorie durch die Funktionale Pragmatik stellt das Konzept des Handlungsmusters dar, bei dem der Zusammenhang der Handlungsoptionen von Sprecher und Hörer in ihrem Zusammenhang dargestellt wird. Da die Sprechakttheorie nicht empirisch reale Kommunikation untersucht, beschäftigt sie sich auch kaum mit der Bedeutung der Interaktivität und damit der Rolle des Hörers im Dialog.

„Since Functional Pragmatics makes the hearer, his mental processes, and his subsequent actions a systematic part of the analysis, there are no perlocutive acts or calculations of efficacy as in speech act theory […]” (Redder 2008, 138)

Wichtig bei der Darstellung von Handlungsmustern durch die Funktionale Pragmatik ist der Bereich mentaler Handlungen und des Wissens von Sprecher und Hörer, der sogenannte Π-Bereich (Ehlich und Rehbein 1986, 95f.).

„Entscheidend war die Erkenntnis, daß sich der propositionale Gehalt von Äußerungen (p) nicht unmittelbar auf Sachverhalte (P) bezieht, sondern vermittelt über psychische Verarbeitungsprozesse bei Sprecher (S) und Hörer (H) (s. Ehlich & Rehbein 1986, 96). Die vermittelnde Instanz des Π-Bereichs, des für Sprecher und Hörer unterschiedlichen Wissens berücksichtigt die vom Sprecher auf den Hörer gerichtete Wirkung des sprachlichen Handelns. Man könnte die f-p DKA [funktional-pragmatische Diskursanalyse, PW] in dieser Hinsicht als hörerorientierten Ansatz bezeichnen.“ (Grießhaber 2001, 75)

(b) Eine weitere wichtige Anregung für die Funktionale Pragmatik lieferte die zu Beginn der 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland bekannt gewordene Sprachtheorie Karl Bühlers. Ehlich hat aufbauend auf dem Feldbegriff von Bühler sein Fünffeldermodell (Ehlich 1996) entwickelt und damit das Interesse auf die sprachlichen Details gelenkt: Durch sogenannte Prozeduren, die kleinsten Handlungseinheiten der Sprache, wirkt der Sprecher mit den Mitteln eines bestimmten Feldes auf den Hörer ein, diese Prozeduren sind Bestandteile der Handlungsmuster. Mit ihrer Hilfe kann der Sprecher (sprachspezifisch – nur die Felder sind in jeder Sprache dieselben) beispielsweise die Aufmerksamkeit des Hörers steuern, spezielle Wissenselemente in seinem Bewusstsein aufrufen oder seine Erwartungshaltung beeinflussen. Auf der Grundlage der funktionalen Sprachbetrachtung sind in den letzten Jahren wichtige Arbeiten zur Grammatik entstanden. Rekonstruktionen von Handlungsmustern und Prozedurenanalyse ergänzen sich gegenseitig und erlauben zusammen eine umfassende Erklärung sprachlicher Interaktion mit dem (gesellschaftlichen) Zweck als übergeordnete und verbindende Basiskategorie.

(c) Die dritte Anregung, die die Funktionale Pragmatik aufgreift, stammt aus dem Bereich der Soziologie und weitet den Blick der Sprachtheorie auf die globale Dimension des Gesellschaftlichen.

„Die Funktionale Pragmatik ist eine Analyseweise, die sprachliches Handeln als Teil der gesellschaftlichen Praxis untersucht. Das bedeutet, dass sie das sprachliche Handeln systematisch auf gesellschaftliche Zwecke und auf institutionelle Bedingungen bezieht. Zugleich analysiert sie es in seiner Vernetzung mit anderen (mentalen und praktischen) Formen des Handelns. Sie rekonstruiert die gesellschaftlichen Zwecke und bis zu einem gewissen Grad auch die individuellen Ziele aus den Formen sprachlicher Handlungen sowie aus der Verwendungsweise sprachlicher Mittel“ (Brünner und Graefen 1994, 14).

Individuen verfolgen bei ihrem Handeln Ziele und versuchen dabei, ein Bedürfnis (Defizienz) zu befriedigen (Suffizienz). Wiederkehrende Bedürfnisse in wiederkehrenden Konstellationen sind Standardprobleme, für sie stehen gesellschaftlich entwickelte Standardlösungen zur Verfügung. Wird ein Standardproblem durch sprachliche Handlungen bearbeitet, sind die Mittel, die diesen Zweck erfüllen können, die sprachlichen Handlungsmuster. Die persönlichen Ziele der Handelnden sind so strukturell immer mit Zwecken verbunden. Egal ob auf der unteren Ebene der Prozeduren, der mittleren der Handlungsmuster oder der globalen des gesellschaftlichen Handelns: Es ist das durchgängige Ziel der Diskursanalyse, die Form des sprachlichen Handelns aus den zugrundeliegenden Zwecken zu erklären.

„In short, the fundamental aim of Functional Pragmatics is to analyze language as a sociohistorically developed action form that mediates between a speaker (S) and a hearer (H), and achieves — with respect to constellations in the actants’ action space (Rehbein 1977) — a transformation of deficiency into sufficiency with respect to a system of societally elaborated needs.“ (Redder 2008, 136)