Ethnographie

2. Entdeckendes Erforschen: Zur Traditionsgeschichte der Ethnographie

Einen ersten Hinweis darauf, was die Ethnographie ist und wo ihre historischen Wurzeln liegen, gibt die Wortbedeutung: Die Ethno-Graphie (éthnos ‚Volk‘, graphé ‚Schrift‘) bezeichnet ihrem Wortsinn nach die ‚Beschreibung einer (fremden) Kultur‘ und hat ihren Ursprung in der Ethnologie. Auch wenn Reiseberichte aus dem Zeitalter der Antike bereits als ‚ethnographisch‘ bezeichnet werden können (vgl. Thomas 2010, S. 463), sind die Anfänge der Ethnographie als wissenschaftliche Methode in den anthropologischen Kulturanalysen des 20. Jahrhundert zu verorten und u.a. mit den Arbeiten von Alfred R. Radcliff-Brown (1922), Franz Boas (1888) und insbesondere Bronislaw K. Malinowski (1922) verbunden. In zum Teil mehrjährigen Forschungsexpeditionen begaben sie sich in ferne Länder, um indigene Völker und – aus damaliger westlicher Perspektive – „primitive“ Gesellschaften aus nächster Nähe zu erforschen und dokumentarisch-objektivierte Beschreibungen über sie anzufertigen.

Dieses Vorgehen markierte eine Wende in der ethnologischen Forschungspraxis. Zuvor war es üblich, dass Ethnologen und Kulturanthropologen ihre Studien fernab der Völker durchführten, die Sie zu erforschen beanspruchten. Sie stützten ihre Untersuchungen auf die Reiseberichte und Erzählungen Dritter und verließen für Ihre Forschung nur in Ausnahmefällen den heimischen Schreibtisch oder stellten ihre Beobachtungen – nicht immer nur metaphorisch – von dem „Liegestuhl unter der Veranda einer Missionarshütte“ (Malinowski 1954, S. 146) an.

Diese Distanz zwischen Forscher:in und Erforschten wurde insbesondere von Malinowski kritisiert. Um dem Anspruch ethnologischer Forschung gerecht zu werden, ein „holistisches Gesamtbild einer fremden Kultur zu liefern“ (Bachmann 2009, S. 248), müsse es das Ziel des/der Forschenden sein, „to grasp the native´s point of view, his relation to life, to realise his vision of his world“ (Malinowski 1922, S. 24 f.). Hierfür sei nicht nur die direkte Begegnung des Forschers mit den „Einheimischen“ notwendig, sondern auch seine intensive Teilhabe an deren sozialen Leben. Neben dem Erlernen der Sprache bedeutet dies auch, „to put aside the camera, notebook and pencil and to join […] in what is going on“ (ebd., S. 21).

In Malinowskis methodologischen Überlegungen (u.a. 1922) zeigt sich ein bis dato neues Verständnis der Datenerhebung und der Rolle des/der Forschenden, welches den Grundstein für die Ethnographie als eigenständigen Forschungsansatz legte. Charakteristisch hierfür ist die Distanz zur eigenen Kultur des/der Forschenden durch andauernde (Feld-)Aufenthalte und ein Leben vor Ort, das durch ein Mitmachen gekennzeichnet ist. Die Kombination von Beobachtungen und Teilnahmen kennzeichnete einen Wandel von der sogenannten ‚Lehnstuhlforschung‘ hin zu einer Feldforschung.

Ein weiterer Strang der ethnographischen Feldforschung entwickelt sich in den Sozialwissenschaften der 1920er Jahre im Kontext der Chicago School. Statt vermeintlich „unzivilisierter“ Völker, stehen hier urbane Gesellschaften des Westens im Interesse der Forschung. Statt in die Ferne, zog es die Forschenden „vor die eigene Haustür“ in das Chicagoer Stadtgebiet. Dieses war in den 1920-40er durch rasante Urbanisierungs- und Migrationsprozesse geprägt. Die daraus resultierende Vielfalt von (Sub-)Kulturen machte Begegnungen mit dem kulturell Fremden auch in der eigenen Gesellschaft präsent und offenbarte eine Vielzahl von unerschlossenen Forschungsfeldern. Um diese zu erforschen, bedienten sich die Anhänger:innen der Chicago School dem ethnologischen Blick und fokussierten stadttypische Berufe, Orte und Szenen. Als Begründer und Vertreter dieser „Kulturanalyse im eigenen Land“ (Breidenstein et al. 2020, S. 24) sind William I. Thomas, Ernest Burgess und Robert E. Park hervorzuheben. Zentral ist auch hier die Primärerfahrung des/der Forschenden mit den Erforschten und die Anwesenheit vor Ort. Ethnographische Fall- und Milieustudien dieser Tradition widmen sich bspw. Wanderarbeitern (Anderson 1923), armen und wohlhabenden Stadtvierteln (Zorbaughs 1929, Wirth 1928) oder auch Patient:innen der Psychatrie (Goffmann 1961). Ziel ist die Erschließung sozialer Lebenswelten, die zwar in der eigenen Gesellschaft existieren, jedoch außerhalb der Alltagserfahrung der Forschenden liegen.

Dass sich mit der Ethnographie jedoch auch Felder und Praktiken innerhalb der eigenen Alltagserfahrung explorativ ergründen lassen, zeigt ihre dritte Traditionslinie: Die Ethnographie des Alltags beginnt nicht mit dem Fremden, sondern fokussiert das scheinbar Vertraute und vermeintlich Profane. Vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen von Alfred Schütz (1972) zum Alltagswissen und Harold Garfinkels (1976) ethnomethodologischen Analysen des alltäglichen Tuns, rückt „das Alltägliche mit seinen innewohnenden Regeln, seinen Ordnungen und Ritualen“ (Wiesemann 2011, S. 167) in den sozialwissenschaftlichen Blick. Um es für die Analyse verfügbar zu machen, muss das Selbstverständliche betrachtet werden, „als sei es fremd“ (Amann/Hirschauer 1997, S. 12). Diese methodische „Befremdung der eigenen Kultur“ (ebd.) bzw. der „befremdende Blick“ (Zinnecker 1995) ist im starken Maße mit dem heutigen Verständnis von sozialwissenschaftlicher Ethnographie verwoben.