Ethnographie

4. Stationen des ethnographischen Forschungsprozesses

Wie macht man eine Ethnographie? Auch wenn auf die Frage angesichts der beschriebenen konzeptionellen und methodischen Abhängigkeit der Ethnographie zum jeweiligen Feld keine Schritt-für-Schritt-Anleitung zu erwarten ist, so muss sie nicht unbeantwortet bleiben. Basierend auf den genannten Prämissen und Forschungstätigkeiten organisiert sich der ethnographische Forschungsprozess entlang zentraler Stationen, die mit bestimmten forschungspraktischen Herausforderungen und Fragen einhergehen.

4.1 Vom Feldzugang zum Forschungsfokus

Teilnehmende Beobachtungen ermöglichen dem/der Forschenden, mit geringen technischen Voraussetzungen vielseitiges Datenmaterial zu generieren – vorausgesetzt er oder sie erhält Zugang zu relevanten Beobachtungssituationen. So steht zu Beginn einer jeden Ethnographie die Frage: „Was ist mein Feld und wie erhalte ich Zugang zu diesem?“.

Was ist mein Feld?     Für Auswahl und Zuschnitt eines geeigneten Feldes muss zunächst das Forschungsinteresse formuliert werden. Im Gegensatz zu quantitativen Zugängen stehen am Beginn des ethnographischen Forschungsprozesses keine unumstößlichen Forschungsfragen oder Hypothesen, deren Überprüfung den weiteren Forschungsverlauf strukturiert. Ethnographisch entwickelt sich der Fokus und demnach auch die exakte Forschungsfrage im und durch das Feld. Zu komplexe, geschlossene, am Schreibtisch elaborierte Forschungsfragen laufen Gefahr, dass sie den Blick im Feld zu stark kanalisieren und Entdeckungen im Wege stehen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Forscher:innen ohne Forschungsfragen oder theoretische Vorüberlegungen an das Feld herantreten. Im Gegenteil: Diese sind für die Auswahl und den Zuschnitt des Feldes essentiell. Hilfreich sind hier die bereits erwähnten Wie-Fragen, die zunächst vergleichsweise schlicht erscheinen und wenig voraussetzungsreich sind. Sie navigieren jedoch den Blick des/der Ethnograph:in (zunächst grob) auf spezifische Bereiche und ermöglichen so in einer Vielzahl von Feldeindrücken die Optionen für den weiteren Forschungsfokus zu generieren und zu erproben.

Wie komme ich ins Feld?        Ist ein für das Forschungsinteresse geeignetes Feld konkretisiert, sieht sich der/die Ethnograph:in mit Fragen rund um den Feldzugang konfrontiert. Auch für den Feldzugang gibt es „kein Patentrezept“ (Wolff 2005, S. 336). Die Wege ins Feld sind fallabhängig, entsprechend vielseitig und nicht selten mit fordernder Zugangsarbeit verbunden. Denn sowohl Institutionen als auch informelle Gruppierungen zeigen sich vielfach als geschlossene Systeme, die sich über spezifische Mitgliedschaften, Zugangsbedingungen und Grenzziehungen konstituieren. Ist das interne Geschehen üblicherweise gut gegen den neugierigen Blick Externer geschützt, reagiert das Feld auf die (offen formulierten) Beobachtungsabsichten mit Sorge, Skepsis und einer abwehrenden Haltung. Wolff (2005) hat bspw. typische „Immunreaktionen“ von Organisationen auf ethnographische Zugangsbemühungen festgehalten:

  • Hochzonen: Das Forschungsvorliegen wird zur Prüfung an eine höhere Instanz weitergereicht.
  • Nachfragen: Der/Die Ethnograph:in erhält immer wieder neue Fragen zum Forschungsvorhaben und -vorgehen.
  • Abwarten: Die Forschungsanfrage wird nicht beantwortet.
  • Angebote machen: Das Forschungsvorhaben wird akzeptiert, es werden jedoch eigene Daten angeboten oder Methoden vom Feld vorgegeben.
  • Zuweisen: Das Forschungsvorhaben wird akzeptiert, jedoch nur mit starken Einschränkungen.
  • Eingemeinden: Das Forschungsvorhaben wird akzeptiert, der/die Ethnograf:in jedoch für Auseinandersetzungen oder Aufträge des Feldes eingespannt. (vgl. Wolff 2005, S. 343)

Solche Abwehrreaktionen und Absagen sind kein Grund für einen Studienabbruch, sondern sind als Selbstaussagen des Feldes zu betrachten. Zugangsbedingungen und Ablehnungsbescheide können so als forschungsrelevante Daten in die Analyse einbezogen werden (vgl. Amann/Hirschauer 1997, S. 19 f.). Die Aufnahme von Feldkontakten und Zugangsbemühungen sind daher nicht der notwendige Schritt vor der Datenerhebung, sondern bereits Teil dessen. Dennoch sollten sich die Ethnograph:innen auf solche Abwehrreaktionen einstellen und ihnen bereits mit der Organisation des Feldzugangs begegnen. Folgende Fragen können dabei der Orientierung dienen:

Ist eine offene oder verdeckte Beobachtung sinnvoll?     Im Gegensatz zu einer offenen Beobachtung ist der/die Ethnograph:in bei einer verdeckten Beobachtung nicht als solche erkennbar. Dies kann von Vorteil sein, da hier z. B. mögliche Abwehrreaktionen vermieden werden können. In manchen Bereichen, bspw. an öffentlichen Orten, sind verdeckte Beobachtungen selbstverständlich. Viele Orte sind jedoch für Nicht-Mitglieder ohne Zugangserlaubnisse schlicht nicht passierbar (z. B. Operationssaal oder Klassenraum), was es notwendig macht, die Beobachtungsintention offen zu kommunizieren. Zum anderen ist es gerade die offene Teilnahme, welche die Intensivierung der Beobachtung, z. B. durch Aufzeichnungen und Informantenwissen, ermöglicht. Dementsprechend ist die Identifizierung und Kontaktierung von Ansprechpartner:innen in vielen Ethnographien unvermeidbar.

Wer ist geeigneter Ansprechpartner, um Zugang zu erhalten?     In vielen Fällen ist der Zugang nur über sogenannte Gatekeeper möglich. Hierbei handelt es sich um Personen, die aufgrund ihrer Position im Feld den Zutritt der Ethnograph:innen erlauben und sicherstellen können (z. B. verwaltungsbehördliche Aufsichts- und Dienstleistungsdirektionen der Schulen, Schulleitungen, Klassenlehrer:innen). Die Identifizierung von solchen ‚Türstehern‘ erfordert bereits vor der Kontaktaufnahme eine Recherche über das Feld, denn es ist nicht immer offensichtlich, wer Zustimmungen erteilen kann.

Was sind vielversprechende Möglichkeiten der Kontaktaufnahme?  Welches Medium zur Kontaktaufnahme genutzt wird, muss feldspezifisch abgewogen werden. Grundsätzlich scheint es naheliegend, dass für Beobachtungen in offiziellen Institutionen der formelle Weg über Brief und E-Mail angemessen ist, wohingegen andere Gruppierungen (z. B. Paare, Obdachlose) vermeintlich informelle Wege, wie das Telefonat oder das persönliche Gespräch, erfordern. Dennoch kann es mit Blick auf Schule auch ratsam sein, über bestehende Kontakte (aus dem Praktikum, über Kolleg:innen und Bekannte usw.) den Kontakt zu suchen – im dicht gefüllten Schulalltag haben Briefe von interessierten Feldforscher:innen ggf. nicht die größte Priorität und laufen Gefahr unterzugehen. E-Mails lassen sich zudem oft nicht gezielt an ausgewählte Lehrer:innen adressieren usw.

Ob in Briefen, E-Mails, Telefonaten oder persönlichen Gesprächen: Die Ethnograph:innen möchten das Gegenüber von ihrer Seriosität und Vertrauenswürdigkeit überzeugen. Hierfür kann es sinnvoll sein, bereits im Zuge der Kontaktaufnahme auf den datensensiblen Umgang aller Informationen zu verweisen und die Anonymität der Beteiligten zu garantieren. Neben der Kommunikation von Qualitätsstandards ethnographischer Forschung kann auch deren analytisch-deskriptive Erkenntnishaltung betont werden: Es geht nicht um die Bewertung von Personen oder Vorgehensweisen, sondern um eine wertfreie Exploration alltäglicher Praktiken, die nicht für die Feldforscher:innen inszeniert werden müssen. Insbesondere an Schulen wird eine Beobachtung häufig mit einer Bewertung assoziiert („Unterrichtsbesuch“ als kategorische Prüfungssituation) und es bestehen vielfach entsprechende Bedenken, sich in die Karten blicken zu lassen.

Die Angabe eines ungefähren Zeitrahmens kann zeigen, dass die Ethnograph:innen nur Gäste im Feld sind und die Dauer der Beobachtung absehbar ist. Weiterhin kann darauf verwiesen werden, dass der/die Forscher:in nicht störend in die Abläufe eingreifen möchte. Ein Vergleich mit Rollen, die dem Feld bekannt sind, kann ggf. hilfreich sein (Praktikant:in, Hospitant:in usw.). Breidenstein et al. (2020, S. 64) empfehlen darüber hinaus ein unverbindliches und persönliches Kennenlernen anzubieten, in dem die Ethnograph:innen dem Feld Rede und Antwort stehen.

Allerdings ist es unter Umständen nicht ratsam, das Forschungsinteresse und methodische Hintergründe im letzten Detail darzulegen. Dies kann verschiedene Gründe haben. Es geht weniger darum, dass bestimmte Forschungsinteressen für das Feld heikel sein und abschreckend wirken könnten (bspw. Bewertungspraktiken, Konflikte). Vielmehr könnte die zu detaillierte Darlegung des Themas einerseits dazu führen, dass das Feld seine Praktiken anpasst, da es den Ethnograph:innen passende Einblicke bieten möchte. Andererseits könnte die Teilnahme auch abgelehnt werden, da vermutet wird, keine passenden Einblicke bieten zu können. Wolff (2005, S. 346) zitiert hierzu Taylors und Bogdans (1998) Faustregel: „Sei vertrauenswürdig, aber vage und ungenau“.

Das Schaffen und Aufrechterhalten von Vertrauen „ist eine Anforderung, die den gesamten Forschungsprozess begleitet“ (Breidenstein et al. 2020, S. 60), denn idealerweise wird der/die Forschende vom Feld nicht nur geduldet, sondern integriert und informiert. Da eine langfristige Teilnahme notwendig ist, um Details zu entdecken und Beobachtungen zu intensivieren, gilt es also nach einem erfolgreichen Zugang, erfolgreich im Feld zu bleiben.

Die Forschung kann hierbei mit zunehmender Etablierung der eigenen Person im Feld ausgeweitet werden. Ist z. B. der Einsatz von Audio- oder Videoaufzeichnungsgeräten angestrebt, kann es ratsam sein, dies nicht bereits im Zuge der ersten Kontaktaufnahme zu forcieren, sondern erst nach einiger Zeit im Feld zu erfragen. Der Start mit einer klassischen „Paper und Pencil“-Ethnographie ist insbesondere im Kontext von Schule zumeist niedrigschwelliger zu realisieren – im Kontrast zu Videographien stößt es bei Schüler:innen, Eltern sowie Lehrer:innen auf wenig Skepsis und lässt sich zudem meist leichter behördlich genehmigen. Während das Notizbuch in anderen Feldern als „Symbol des Fremden“ tituliert wird (vgl. z. B. Schoneville et al. 2006, S. 232) ist das (Auf)Schreiben in der Schule eine omnipräsente Praxis.

Hat man Zugangsproblematiken überwunden und ist im Feld angekommen, stehen Ethnograph:innen vor der nächsten Herausforderung: Eine Vielzahl von Feldeindrücken zeigt die Gleichzeitigkeit und Schnelllebigkeit sozialer Situationen und drängt die Frage auf: Wo soll man zuerst hinschauen? Wo soll ich mich positionieren?

Grundsätzlich passen sich die Forscher:innen den Interaktionsverläufen des Feldes an, variieren Position und ggf. auch den Partizipationsgrad. Der Blick ist zunächst breit, das Interesse offen. Folgende Fragen können den ethnographischen Blick schulen und lenken: „Wie wird tatsächlich gehandelt? Wie ist die Situation zu beschreiben? Welche Situationsmerkmale definieren den (Handlungs-)Kontext?“ (Thomas 2010, S. 467), oder kurz: „What the hell is going on here?“ (Geertz 1987 [1973]). Breidenstein et al. schlagen vier Strategien zur Beobachtungsintensivierung vor:

  • Wiederholung: Der/Die Forschende sucht das Geschehen wiederholt und ggf. zu verschiedenen Zeitabschnitten (bspw. unterschiedlichen Tageszeiten, Schulstunden oder Dienstschichten) auf.
  • Mobilisierung: Der/Die Ethnograph:in wird mobil, wechselt die Beobachtungsposition und folgt Akteur:innen durchs Feld. Möglich wäre z. B. der Lehrperson bis in das Lehrerzimmer zu folgen.
  • Fokussierung: Mit fortschreitendem Forschungsverlauf konkretisiert und zentriert der/die Beobachtende seine Wahrnehmung zunehmend auf einen bestimmten Fokus. Dieser kann zeitlich, thematisch, räumlich und personell bestimmt sein. Denkbar wäre z. B. die Fokussierung auf den Unterrichtsbeginn oder einen bestimmten (außerschulischen) Lehrort sowie die Begleitung der Schulleitung.
  • Perspektivenwechsel: Der/Die Forschende fokussiert verschiedene im Feld vorkommende Perspektiven bzw. versucht sie im Wechsel einzunehmen. (vgl. Breidenstein et al. 2020, S. 88-92)

Im weiteren Forschungsverlauf wird der Blick somit selektiver, Forschungsfragen werden zunehmend spezifischer: Das Vorgehen entwickelt sich von einem anfänglichen ‚nosing around‘ (Lindner 1990, S. 11) zu fokussierten Beobachtungen und letztendlich zu konkret-spezifischen Analysen. So lässt sich der ethnographische Forschungsprozess als Trichter beschreiben, „der mit einer großen Unbestimmtheit beginnt und bei der Analyse ganz spezifischer Phänomene endet, wobei die Selektionen dieser Phänomene wesentlich vom Feld mitbestimmt werden“ (Breidenstein et al. 2020, S. 44).