Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Mitte Januar sollen die Kinder auf einen Arbeitsblatt zu acht Bildern die Wörter auf- oder abschreiben: Nase, Haus, Hund, Wurm, Sonne… Die Kinder können dazu die Buchstabentabelle und das Wörterbuch benutzen.1

Die Lehrerin steht gerade neben Sabine.

Sabine: „Darf ich den Hund anmalen?“

Lehrerin: „Nein, wir wollen ja schreiben jetzt, ne!“

Sabine: „Dann mal ich den Hund grün.“

Lehrerin: „Grün?“

Sabine nimmt einen grünen Stift.

Lehrerin: „Erst schreiben, dann malen. Gut.“

Sabine schreibt HUN.

Lehrerin: „Ja.“

Sabine sagt, während sie D ,schreibt: „[d] wie Dose. Und jetzt mal ich den Hund grün.“

Die Lehrerin geht weg. Sabine malt das Vorderteil des Hundes grün, das Hinterteil braun und ein Bein lila.2

Sabine hat nun die Schreibung einiger Wörter gelernt, sie hat auch die Buchstabe-Laut-Zuordnung verstanden; aber noch kann sie die Synthese nicht, sie sucht den mühsamen Prozess durch Raten zu umgehen; und Schrifterwerb ist nicht nur ein kognitives Problem für sie, sondern auch ein Erziehungsproblem (auch ein Beziehungsproblem?); immer wieder sucht sie – wie in diesem Protokollausschnitt – auszuweichen.

Die Lehrerin stellt zu diesem Zeitpunkt in ihrem Unterrichtskonzept die Entwicklung der Synthesefähigkeit in den Vordergrund.

Sabine soll jeden Tag fünf, später zehn Wortkarten (ohne Bilder) erlesen. Diese Wörter enthalten zwischen vier und sechs Buchstaben, haben offene und geschlossene Silben (z. B. Wolke, Tomate, Fisch). Sabine will die Wörter auch schreiben, sie memorieren. Der darin enthaltenen Gefahr me­chanischen Lernens sucht die Lehrerin vorzubeugen, indem die Wörter immer in neuen Zusammenhängen auftauchen, z. B.: Male… eine Tomate. Dieser Prozess wird über sechs Wochen (zwischen Anfang März und Ostern) täglich eine Stunde lang von einer Studentin unterstützt.3 Das folgende Blatt hat Sabine selbständig bearbeitet.

Abb. 3: März 1994. Selbstständig bearbeitetes Arbeitsblatt

Die Lernfortschritte sind beachtlich und stabilisieren sich in den folgenden Wochen. Das dokumentiert auch die Lernbeobachtung (Dehn 1994, 210 ff.; Abb. 4). Im DRT 1 erreicht Sabine den Prozentrang 5 (Juli 1994).

Abb. 4: Lernbeobachtung Schreiben. November-Januar-Mai.

Im Januar erfragt Sabine: „Wie schreibt man <m>, <I>, <r>,<k>?“

Prävention von Analphabetismus im Anfangsunterricht?

Dass das hier gelungen ist, kann im Hinblick auf Sabines Lernvoraussetzun­gen und ihre Lernentwicklung vermutet, natürlich aber nicht bewiesen werden.

Abschließend seien vier Bedingungen benannt, die dafür als konstitutiv angesehen werden können:

Relativierung des eigenen Blicks

Die Beziehung zwischen schwieriger Lernentwicklung und Unterrichtskon­zept ist zu Beginn des schulischen Schrifterwerbs am kompliziertesten. Hier ist der Blick auf das Kind am wichtigsten; z. B. hatte die Lehrerin im November den Eindruck gewonnen, Sabine widersetze sich dem Schrifter­werb. Der Protokollausschnitt belegt das Gegenteil. Dass dieser Eindruck relativiert werden konnte im Austausch mit KoIleglnnen und Studierenden, hat es der Lehrerin erleichtert, Sabines Zugang zur Schrift (ihr Interesse an Namen und sozialen Kontakten) überhaupt wahrzunehmen und zu un­terstützen.

Inszenieren von Lernsituationen, die Anbahnung und Austausch von Schrifterfahrung provozieren

Die „Initiation“ von Sabines Schrifterwerb war nicht Folge bewusster päd­agogischer oder didaktischer Planung, wohl aber eine Reaktion auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen: eine verbindliche Aufgabenstel­lung (die man im Einzelnen kritisieren kann), die aber Spielräume – auch im wörtlichen Sinn – lässt für eigenständige, auch eigenwillige Lösungen und den Austausch der Kinder untereinander nahelegt – nicht nur in der Präsen­tation ihrer Ergebnisse am Schluss der Stunde.

Strukturierte Aufgabenstellungen

Wenn das Kind einmal einen Zugang zu Schrift und Schreiben gefunden hat, bedarf es der Erfolgserlebnisse, also gezielter Anforderungen, die das Inter­esse des Kindes („Glücksrad“/„Namen“) berücksichtigen und zugleich dazu führen, seine Zugriffsweisen zu verändern (Memory-Set; Erlesen weniger Wörter ohne Bilder).

Zeitlich begrenzte zusätzliche Förderung im sozialen Kontext der Klasse

Sabines Lernfortschritte im Verlauf von Klasse 1 sind immens. Eine gezielte Betreuung und Bestätigung bei solchen strukturierten Aufgabenstellungen ist eine wesentliche Erleichterung. In diesem Fall hat eine Studentin diese Entwicklung betreut.

Fußnoten:

(1) Die Buchstabentabelle von Reichen 1987. Das Wörterbuch aus: Weber 1990.

(2) Klasse 1, 14. 1. 1994. Transkriptionsprotokoll: Monika Ahrens.

(3) Von Mitte April bis Mitte Juni findet die Förderung noch zwei Stunden wöchentlich statt. Beide Förderabschnitte sind durch 14 bzw. 10 Tage Ferien unterbrochen.

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