Falldarstellung

Im Folgenden möchte ich eine Erzählung von Sebastian (4. Klasse) vorstellen, in welcher er ein Märchen aufgreift, das er in einer Kinderzeitschrift gelesen hat. Die Szene wurde ausgewählt, weil hier durch die Wahl des Märchens eine Begegnung mit Wirklichkeit möglich wird, die hinter die Oberfläche des Schulalltags führt. Zudem wird das Spannungsverhältnis von Kindheit und Schule thematisiert.

Sebastian hat im Kreis gerade ein kurzes Referat über Wölfe gehalten. Am Ende teilt er der Lehrerin und den Kindern mit, dass er noch eine Geschichte erzählen möchte.

Die Szene wurde mit Video aufgenommen, transkribiert und mit der Methode der Tiefenhermeneutik interpretiert.

Sebastian: Und es gibt so eine Geschichte. Die heißt „Als der Wolf den Menschen erschuf“.

Mehrere Kinder (gleichzeitig): Hääh? Was? Der Wolf den Mensch erschuf? Erschlug?! Erschuf!

Lehrerin: Ist die lang Sebastian?

Sebastian: Ich kann eine Kurzfassung erzählen.

Lehrerin: Das wäre mir sehr lieb, aus Zeitgründen.

Sebastian (schlägt die Zeitschrift zu und erzählt frei): Also, wenn nachts die Wölfe heulen und die Kinder davon aufwachen, dann erzählt Großvater Adlerfeder den Kindern das Märchen von dem Wolf, der den Menschen erschuf.

Verena: Erschuf?

Sebastian: Also eine lange Zeit vor unserer Zeit, da gab es noch keine Menschen, da gab es Tiermenschen. Es gab den Biber-Mensch, es gab den Vogelmensch.

Einige Kinder: Es gab den Affenmensch.

Sebastian: Ja, und die Tiermenschen hatten ganz große Angst vor dem bösen Flussmonster, das im Fluss wohnte. Wenn ein Tiermensch durstig war und da hin ging, um etwas zu trinken, da lauerte es im Wasser, wo es sehr tief war und wo die beste Stelle war für einen durstigen Tiermenschen seinen Durst zu stillen. Und dann schnappte es sich die Tiermenschen und riss sie in die Tiefe und die Tiermenschen wussten nicht, was sie machen sollten. Da konnte Mutter Erde nicht lange zusehen. Sie schickte den Menschen den schlauen Wolf. Der sollte den Tiermenschen zeigen, wie man sich vor dem Flussmonster schützen könnte, aber die Tiermenschen waren keine guten Schüler. Und deshalb blieb dem Wolf nichts anderes übrig, als das Böse aus der Welt zu schaffen. Da tötete er das böse Flussmonster. Und aus den Beinen schuf er, äh, (Sebastian nimmt seine Zeitschrift zu Hilfe) die Indianer des Klickitat-Stamm. Aus den Armen schuf er, äh, die Cayese-Indianer. Deshalb wurden sie so berühmte Bogenschützen. Aus jedem Teil von dem Flussmonsters formte er einen neuen Stamm. Aber, aber so viel Mühe sich der Wolf gegeben hat, jeder Mensch muss mit ein klein wenig Bosheit selber fertig werden.

(Es ist einige Sekunden lang still.)

Ein Kind: Schöne Geschichte!

Ein anderes Kind: Echt schön!

Lehrerin: Vielen Dank Sebastian.

Mehrere Kinder: Ja! Echt schöne Geschichte!

Lehrerin: Toll, ja!

(Einige Kinder klatschen.)

Sebastian: Ich könnte noch mehr erzählen.

Lehrerin: Ja, das glaub ich dir. Du hast uns ganz viele Informationen geben. Ich muss jetzt mal unterbrechen. Die sitzen jetzt auch lange genug hier. Die können nicht mehr, weißt du.

Einige Kinder (gähnen oder strecken sich): Jaaa.

Interpretation

Die Geschichte berührt die Kinder; die Faszination des Märchens ist deutlich spürbar. Es ist still, während Sebastian spricht, und es bleibt auch noch einige Sekunden still, nachdem er seine Erzählung beendet hat. Erst langsam tauchen die Kinder dann aus der Phantasiewelt des Märchens wieder auf, verbalisieren ihre Begeisterung und bestätigen einander, dass es sich „um eine schöne Geschichte“ gehandelt habe.

Sebastian schlüpft hier gewissermaßen in die Rolle des weisen Großvaters Adlerfeder, der den Kindern ein Märchen erzählt, während draußen die Furcht einflößenden Wölfe heulen. Der Gesprächskreis mit den Mitschülerinnen, den Mitschülern und der Lehrerin wird zum Inneren eines Tippis. Der Gedanke des Tippis unterstreicht die Bedeutung des Kreises als Symbol der Verbundenheit mit Ausrichtung der Versammelten nach innen sowie ihrer Abgrenzung nach außen. Durch die Einführung des Erzählers in Gestalt des weisen Großvaters wird die pädagogisierende Tendenz des Märchens sogleich offensichtlich, wobei hier allerdings ein Kind den Stoff für seine Klasse und die Lehrerin ausgewählt hat.

Der Text wird von Sebastian der schriftlichen Form in eine mündliche Erzählung überführt. Die Geschichte wird von dem Schüler völlig frei, ohne jedes Stocken und mit großer Eindringlichkeit vorgetragen, obgleich die Lehrerin mit Blick auf die fortgeschrittene Zeit verlangt, eine Kurzfassung wiederzugeben. Nur bei der Nennung der Namen der Indianerstämme nimmt das Kind seine Zeitschrift zu Hilfe.

Nachdem der Märchenerzähler die Überschrift „Als der Wolf den Mensch erschuf“ genannt hat, zeigen sich etliche Kinder irritiert, denn hier wird dem Wolf eine Handlung zugesprochen, die gewöhnlich Gott zugeschrieben wird. Einige Kinder nehmen deshalb an, dass Sebastian sich versprochen habe oder sie sich verhört haben müssen. Von dem bösen Wolf, der Hinterlist und Heimtücke sowie Aggressivität und Triebhaftigkeit verkörpert und in den bekannten Märchen als Sinnbild des Bösen und Gefahr für die Menschen seine Rolle spielt, erwarten die Kinder nichts Gutes. Doch es zeigt sich, dass sich Sebastian hier nicht versprochen hat und er beginnt dann mit der Erzählung des Märchens, das von der Erschaffung des Menschen durch den Wolf handelt. Die vermeintliche Gewissheit, was gut und was böse ist, wird schon beim Nennen der Überschrift erschüttert und macht wohl auch den Reiz dieser Geschichte aus.

Das Böse erhält in dem von Sebastian erzählten Märchen die Gestalt des Flussmonsters. Dieses heimtückische Monster verschlingt die armen Tiermenschen, wenn sie am Fluss ihren Durst stillen wollen. Der Wolf wird als schlaues Tier eingeführt, von der beschützenden „Mutter Erde“ als Lehrer eingesetzt, erhält er die Aufgabe, die Tiermenschen zu retten. Die Gefahr, die hier vom Flussmonster ausgeht und z.B. im Grimmschen Märchen des Rotkäppchens dem Wolf zugeschrieben wird, berührt in der tiefenpsychologischen Deutung von Bettelheim den „Wunsch zu verschlingen – und dessen Folge, die Angst, dieses Schicksal selbst zu erleiden” (Bettelheim 1996, S. 54). Das Flussmonster tritt hier als bedrohliches und vernichtendes, der Wolf als erfahrenes, aggressiv-schöpferisches und hilfreiches Tier auf. Psychoanalytisch gesprochen symbolisieren gefährliche Tiere in Märchen das ungezähmte Es in all seiner bedrohlichen Energie, das sich noch der Steuerung durch die psychischen Instanzen des Ich wie des Über-Ich entzieht. Hilfreiche Tiere verkörpern natürliche Energie gegen das Es, die zum Wohle der Gesamtpersönlichkeit eingesetzt werden kann (ebd., S. 89).

Dem Wolf gelingt es aber leider nicht, die Tiermenschen vor den asozialen, verzehrenden Mächten zu schützen und sie zu lehren, diese zu besiegen. Weil die Tiermenschen so schlechte Schüler waren, tritt der Wolf in einen aggressiv-schöpferischen Prozess ein, tötet das Flussmonster und schafft aus dessen Körperteilen verschiedene Indianerstämme, die hervorragende Krieger vorweisen konnten. In der Geschichte wird erklärt, dass – trotz der schöpferischen Umwandlung – seine Abstammung vom Flussmonster bewirkt hat, dass das Böse Teil des Menschen ist. Die Moral der Geschichte wird von Großvater Adlerfeder für die Zuhörerinnen und Zuhörer abschließend noch einmal ausdrücklich formuliert: „… jeder Mensch muss mit ein klein wenig Bosheit selber fertig werden“.

Nun ist es aber hier nicht damit getan, das von Sebastian erzählte Märchen und seine mögliche Bedeutung für Kinder zu verstehen. Es handelt sich hier nämlich zudem um das Geschehen auf einer Kreisbühne im Rahmen der Schule, auf welcher Sebastian einen Rollentausch inszeniert, indem er die belehrende Erwachsenenrolle übernimmt. Die Lehrerin wird mit den MitschülerInnen zum aufmerksam lauschenden Kind. Die Erzählung des Märchens „Als der Wolf den Mensch erschuf“ durch ein Kind im Rahmen des bilanzierenden Wochenrückblicks in der Schule eröffnet eine neue Sinnebene. Es geht hier nicht nur um Verständnis des existentiellen Grundproblems von Gut und Böse und um Ermutigung, was die eigenen Fähigkeiten zur Integration des Triebhaften betrifft. Die Szene lässt auch die Interpretation zu, dass hier um Vertrauen geworben und der Wunsch formuliert wird, dass “ein klein wenig Bosheit” im Rahmen der Schule möglich sein und nicht diszipliniert werden sollte. Eine zweite Botschaft des kindlichen Großvaters an die Lehrerin lautet, dass es ihr – auch wenn sie sich noch so sehr bemüht – nicht gelingen wird, das Böse aus der Welt zu schaffen. Die Reaktion der insgesamt demokratisch und kindzentriert agierenden Lehrerin auf Sebastians Erzählung fällt ambivalent aus. Einerseits wirkt auch sie für einige Sekunden berührt, doch lässt sie – mit Hinweis auf die Zeit – keinen Spielraum für das Verbalisieren der unmittelbaren Reaktionen und den Austausch von Gedanken.

Im Rahmen der Kreissituation wird das Märchen „Als der Wolf den Mensch erschuf“ von Sebastian also gleichsam bespielt. Mit der Geschichte und ihrer Präsentation im Kreis wird ein narrativer Spielraum geschaffen und gesellschaftlich Unsagbares kann thematisiert werden. Es geht hier – auf der unbewussten Ebene – auch um eine Entdramatisierung kindlicher Unterrichtsstörungen, um eine Belehrung der Lehrerin im Hinblick auf zu große Erwartungen an ihre Schülerinnen und Schüler sowie um die Berührung des Zusammenhangs von Kreativität und Aggressivität.

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