Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Beschreibung der Grundschulzeit
Michelle hat bereits mit Eintritt in die Grundschule, besonders in Mathematik aber auch in anderen Bereichen, große Schwierigkeiten, den schulischen Anforderungen zu entsprechen. Aus diesem Grund wird sie in der zweiten Klasse zurückgestellt und muss die Klassenstufe noch einmal wiederholen. Dadurch kommt sie zwar zu einer Lehrerin, die sie nicht so „nett“ findet, erlebt aber eine positive Entwicklung ihrer Leistungen: „da hab ich alles besser gekonnt“. Sie wird schließlich in die dritte Klasse versetzt. Dennoch stellt der Erhalt des Endjahreszeugnisses der zweiten Klasse ein sehr brisantes und durch hohe Ungewissheit geprägtes Ereignis dar: „da war erst mal wo ich die noten hatten wir uns erst mal alle aufgeregt da ham wir uns hingesetzt und ham erst mal gesagt hoffentlich krie komm ich in ne andere klasse //mh// und dann hinterher ähm ham wir wollt ich erst mal nicht nachgucken da hab ich nachgeguckt und da hab ich voll gefreut nur eine ist sitzengeblieben dann //ja// und das war die jessica“. Am Ende ihrer Grundschulzeit zieht Michelle eine positive Leistungsbilanz: „früher hat ich nur sechsen und jetzt dreien und so und wird auch immer besser“. Allerdings wird auch deutlich, dass sich diese Bilanz nicht auf alle Bereiche ausdehnen lässt. In Mathe steht sie zwischen Drei und Vier. Vor allem aber Rechtschreiben bereitet ihr Schwierigkeiten. Hier erhält sie eine Fünf, mit der sie auch nicht zufrieden ist. Kunst, Musik und Sport fallen ihr hingegen leichter. Allerdings gewichtet sie diese Fächer im Gegensatz zu den Kernfächern nicht so hoch. Weiterhin zeigt sich, dass es ihr zum Teil sehr schwer fällt, sich auf bestimmte schulische Anforderungen zu beziehen, und dass sie beispielsweise Hausaufgaben nicht so gern und nicht immer erledigt. Neben den leistungsbezogenen Aspekten der Grundschule, die häufig eher knapp oder bilanzierend zur Darstellung kommen, folgen deutlich detailliertere Erzählungen zu Ereignissen, in denen Schule von ihrer Routine abweicht. So gibt es detailliertere Ausführungen zu herausragenden Ereignissen wie Ausflügen, Schwimmen gehen oder Basteln. Auch der Umzug ihrer Klasse in einen Container, der aufgrund von Sanierungsarbeiten an ihrem Schulgebäude notwendig wird, stellt eine solche schulische Ausnahmesituation dar. Über eine längere Erzählung erhält der erste Schultag im Container den Charakter eines schulischen Abenteuers. Michelle ist zudem sehr freizeitorientiert. So erzählt sie ausführlich über ihre außerschulischen Aktivitäten. Sie besucht mit ihrer Freundin oft eine Jugendeinrichtung, wo sie regelmäßig chatten aber auch an gemeinsamen Ausflügen teilnehmen. Darüber hinaus berichtet sie viel von ihrem Hobby, dem Malen, und von ihren Tieren zu Hause, so dass Michelle sich im Interview oft vom Thema Schule entfernt und außerschulische Interessen einführt.
Michelle erhält in der vierten Klasse die Hauptschulempfehlung und wird diese Schule in der fünften Klasse besuchen. Sie selbst sagt, dass es ihr Wunsch ist, dort hinzugehen, und dass sie sich anstrengen möchte, um einen guten Abschluss zu erhalten. Zudem nimmt sie für später auch den Realschulabschluss in den Blick. Allerdings wird deutlich, dass sie nur diffus weiß, was ein Schulabschluss ist.
Die unterschiedlichen Orientierungen innerhalb des schulischen Bezuges von Michelle – Ergebnisse der Reflektierenden Interpretation
Michelle ist auf der einen Seite positiv auf Schule und deren Zertifikationen bezogen. Auf der anderen Seite zeigen sich aber auch deutliche Inkonsistenzen in ihrem schulischen Bezug, die sich aus Momenten einer Distanzierung gegenüber der Schule und dem schulischen Bewertungssystem ergeben. Zudem wird erkennbar, dass außerschulische Bereiche und Aktivitäten innerhalb ihres individuellen Orientierungsrahmens eine sehr hohe Bedeutung besitzen und mit dem schulischen Bereich konkurrieren. Michelle ist zwar darauf orientiert, einen guten schulischen Abschluss zu erhalten, gleichzeitig bezieht sie sich im Interview nicht uneingeschränkt positiv auf Schule. Vielmehr kristallisiert sich der positive Horizont heraus, sich ein Stück weit den schulischen Anforderungen zu entziehen und von der Schule zu lösen. Dies zeigt sich zum Beispiel anhand der Passage, die die antizipierte Zukunft auf der neuen Schule thematisiert:
I: und was denkst du wie wird es jetzt für dich da weitergehn auf dieser schule die nächsten jahre
M: weiß nicht auf jeden fall streng ich mich ganz doll an da ich auch n guten abschluss kriege […]
I: was meinst du mit anstrengen wie sieht das aus
M: ja äh dass ich das alles kann also dass ich meine hausaufgaben gut mache also immer mache äh dass ich äh dass ich zuhöre dass ich das auch kann und dass ich das ich … vielleicht auch schneller kann und so was und meine freundin die hat mir auch gesagt wenn man das alles an der haupt kann dann brauch man auch keine hausaufgaben mehr zu machen
Michelle äußert den Vorsatz, sich auf jeden Fall und in gesteigertem Maße anstrengen zu wollen. Dies wird an das Ziel eines guten Schulabschlusses gebunden. Hiermit verknüpft sich eine vorsichtig optimistische Haltung, über erhöhte Anstrengung auch einen guten Abschluss bekommen zu können. Gleichzeitig steht am Ende der Bemühungen auch die Verheißung, keine Hausaufgaben mehr machen zu müssen und sich damit der Ausdehnung der Schule in den Freizeitbereich entziehen zu können. In die Orientierung, in Schule investieren zu wollen, wird damit antizipatorisch eine Begrenzung eingeführt. Zudem wird erkennbar, dass sich die vorgesehenen Bemühungen auf ganz grundlegende schulische Kompetenzen richten, welche die Basis für den Umgang mit dem Unterrichtsstoff bilden. Die formulierte gesteigerte Anstrengung verweist darauf, dass diesen grundlegenden Anforderungen auch am Ende der Grundschule nicht mit einer Selbstverständlichkeit entsprochen werden kann, sondern es nötig ist, die eigenen Bemühungen in gesteigertem Maße hierauf zu konzentrieren. Insgesamt zeigen sich, sowohl in der Schwierigkeit, den schulischen Anforderungen zu entsprechen, als auch in dem Wunsch einer Ablösung von Schule, schulische Distanzierungen. In dieser Passage scheinen damit zwei unterschiedliche Orientierungen auf, einerseits die Ausrichtung auf Schule und Zertifikate und andererseits der positive Horizont, sich von der Schule lösen zu können. Diese differenten Orientierungen zeigen sich auch in einer anderen Passage, welche die Schulkarriere des Bruders thematisiert. Neben dem Wunsch der Ablösung von der Schule wird hierüber auch eine abstrakte Wahrnehmung des schulischen Rankings und eine hieran gebundene Statuszuweisung erkennbar:
I: welche klasse ist dein bruder M: ähm , der is äh sitzengeblieben auch in der ersten //hae// ja und jetzt ((er)) jetzt kann er war er ja in der haupt und jetzt ist er haupt ‚und’ real //ja// weil das gut besser ist als die haupt //ja// und g irgendwie auch genauso , ja un ähm , da k weil er , ,gut’ (betont) war is er jetzt in ne sechsten gekommen ist er von die fünften auf die sechste gekommen weil er hat die schule ge- wechselt er war zu gut dafür //mh// ja und jetzt kommt er schon inne siemten da braucht er nicht mehr so viel zur äh von schule
Diese Erfolgsgeschichte des Bruders stellt eine positiv besetzte Vergleichskarriere dar. Obwohl der Bruder, genau wie sie selbst, einen problematischen Einstieg in die schulische Karriere hatte, konnte er sich deutlich verbessern, so dass er vom Hauptschulzweig auf den Realschulzweig oder sogar, was nicht ganz deutlich wird, auf eine Realschule wechseln konnte.
Erkennbar wird hier, dass Michelle die Realschule, wenn auch etwas diffus, höher gewichtet als die Hauptschule. Stellvertretend über die Geschichte des Bruders wird ein Möglichkeitsraum des Aufstiegs eröffnet, ohne dass hierin eine konturierte eigene Orientierung auf eine Realschulkarriere erkennbar wird. Letzteres zeigt sich auch darin, dass daneben der positive Horizont eines zumindest partiellen Ablöseprozesses von Schule und schulischen (Vermittlungs-) Leistungen deutlich wird („da braucht er nicht mehr so viel zur äh von schule“).
Damit lässt sich insgesamt ein inkonsistenter schulischer Bezug rekonstruieren, innerhalb dessen Schule und Zertifikate einerseits Bedeutung besitzen, andererseits diese Orientierung aber durch immer wieder aufscheinende Fremdheit und Distanz gegenüber Schule brüchig wird und es gleichzeitig die Orientierung einer schrittweisen Ablösung von der Schule gibt.
Um diese Ableitungen konkreter zu prüfen, werden im Folgenden spezieller die individuellen Orientierungen in Bezug auf Leistungsanforderungen und Noten betrachtet. Auch diesbezüglich bestätigt sich der inkonsistente schulische Bezug zwischen Bedeutsamkeit und Distanz.
Im Anschluss an Michelles Zurückstellung in der zweiten Klasse, die von ihr knapp und undramatisch eingeführt wird, entwirft sie eine positive Leistungstransformation: „ja und ähm , wird auch immer besser , früher hat ich meistens nur sechsen . ja und äh jetzt hab ich äh , dreien (betont) und so , zwei und ne eins hat ich noch nie gehabt“. Wie bereits in der Beschreibung der Grundschulzeit deutlich wurde, hat Michelle aber gerade in den Kernfächern, besonders in Deutsch noch erhebliche Leistungsschwierigkeiten. Angesichts dessen rückt eine Note im oberen Leistungsbereich in den Kernfächern für sie in unerreichbare Ferne:
M: ne zwei und ne eins hat ich noch nie gehabt , //mhmh/ hätt ich aber gerne schon wenn ich ne zwei nur hätte . dann war ich nämlich schon zufrieden
Zum einen zeigen sich hier die Anerkennung der schulischen Bewertung und eine geteilte hohe Wertschätzung guter Noten. Zum anderen wird erkennbar, dass eine Platzierung im oberen Notenbereich einem herausragendem Ereignis, beinahe einem magischen Moment gleichkommt, der aus dem eigenen Wirkungsbereich herausgerückt wird. Zwar hat sie in Musik auf dem Zeugnis eine Zwei bekommen. Jedoch schätzt sie dieses Fach weniger wichtig ein, als die Kernfächer: „find ich nicht so do n dass man nur äh ähm dass man so äh a sich anstrengn muss wie bei rech äh mathe und so //mhmh// weil das eigentlich nur andre sind rechtschreibung und so sind ja hauptfächer“.
Hier wird ein begrenzter schulischer Bezug deutlich, innerhalb dessen es darauf ankommt, seine Anstrengungen auf die Hauptfächer zu konzentrieren. Dabei geht es nicht vordergründig um schulische Inhalte und den Wissenserwerb oder um das Erlernen von Kulturtechniken, sondern darum, in den Fächern gute Noten zu erreichen. Allerdings handelt es sich mit den Kernfächern genau um die Bereiche, in denen sie verstärkt Leistungsprobleme hat.
Somit wird in dieser Passage zur Leistungsbewertung eine schulische Orientierung erkennbar, innerhalb derer die schulischen Bewertungen und die daran geknüpfte Statusplatzierung als bedeutsam anerkannt werden. Gleichzeitig gibt es aber die Erfahrung, dass ihr die positive schulische Anerkennung über den oberen Notenbereich in den Kernfächern versagt bleibt. Die Orientierung auf gute Noten besteht, allerdings ohne die Möglichkeit der Freisetzung von Enaktierungspotentialen.
Neben Verbürgung und Anerkennung schulischer Bewertungen werden auch diesbezüglich Distanzierungen und Verunsicherungen deutlich, wie sie sich zum Beispiel in der Thematisierung der Rückgabe von Klassenarbeiten zeigen:
M: dann äh sch will ich erst mal noch nicht aufschlagen da mach ich erst mal so die seite aber guck noch nicht an das ding //ja// und dann so ((..)) a soll ich jetzt gucken oder nich und dann guck ich
Michelle schildert hier ihr Ritual des Umgangs mit solchen Rückgabesituationen. In der Art und Weise der Darstellung dokumentiert sich ein innerer Kampf, der auf eine implizite Befürchtung schließen lässt, den schulischen Anforderungen nicht zu entsprechen. Ein Gewahrwerden dessen erhält über das Hinauszögern einen Aufschub, der jedoch immer damit endet, schließlich zu „gucken“. Über die Darstellung einer sich wiederholenden Handlungsroutine, dokumentiert sich der Versuch, die Brisanz der Situation zu bannen. In der Formulierung „ding“, die hier für die Note steht, drückt sich eine deutliche Distanz, Befremdung und Unbestimmbarkeit aus.
Eine Fremdheitserfahrung wird auch bezüglich der herausgehobenen schulischen Bewährungssituation deutlich:
I: wie ist das dann im unterricht wenn du aufgerufen wirst an die tafel zu kommen (fragend)
M: ähm ja dann geh ich hin und rechne aber manchmal wenn ähm das ein mal eins kann ich nicht so gut //mh// da is mir das schon n bisschen peinlich weil dann kann ich das nicht so gut aber so peinlich ist mir das nicht weil ich die schüler kenn
Hierin zeigt sich einerseits die Orientierung, den schulischen Anforderungen nachzukommen. Gleichzeitig wird aber erkennbar, dass es Situationen gibt, die für sie mit einer Beschämung verbunden sind. Eine solche Beschämung wird hier an die eigenen Fähigkeitsgrenzen geknüpft, die vor der Klasse öffentlich gemacht werden. Mit der Einführung des gesteigerten negativen Gegenhorizonts der Exponierung vor einer fremden Gruppe, anstelle der vertrauten Klasse, werden die Scham, wie auch die, über das „aber“ aufscheinende implizite Opposition gegen die Anforderungen der Situation gebannt. In dieser Passage scheint der Zwiespalt zwischen der Orientierung, der Bewährungssituation entsprechen zu wollen, und der Erfahrung der eigenen Fähigkeitsgrenzen auf, die sich vor der Öffentlichkeit der Klasse deutlich zuspitzt und zur Beschämung wird.
Eine Distanz gegenüber Schule wird auch darin deutlich, dass Michelle mit ihren eigenen Interessen eher an Randbereichen von Schule anknüpfen kann. So gibt es ausführlichere Darstellungen zu den durch die Schule initiierten Ausflügen oder anderen schulischen Ausnahmesituationen, während die formelle Seite von Schule, deren Unterrichts- und Vermittlungssituationen, eher knapp und wenig ausführlich dargestellt werden. Eine solche Ausnahmesituation stellt beispielsweise der Einzug von Michelles Klasse in einen Container dar:
M: und dann kam ich auch in die dritten und in der dritten da war ich im container ja und da hat ähm ham wir immer erst wo wir das erst mal ankamen also das erste mal hier waren haben wir erst mal gezeigt was ähm was hier wie das äh läuft und dann kamen auch die eltern und so und da sind wir nur bis zehn uhr hier geblieben ja und dann konnten wir wieder gehen und wir ham noch äh so die ganze zeit vom wochenende erzählt
Auch hier handelt es sich damit um eine vom Unterricht abweichende Erlebnisdimension. Über die Art und Weise der Erzählung wird deutlich, dass sich Michelle auf den verkürzten und anders gestalteten Schultag besonders positiv beziehen kann. Hieran lässt sich, neben anderen Beispielen, eine starke Anziehung von Situationen in Schule finden, die sich nicht mit der „typischen“ Funktion von Schule decken.
Nachdem die grundlegenden Orientierungen in Bezug auf Schule, schulische Bewertung und Leistungsanforderungen in den Blick genommen wurden, soll nun dargelegt werden, wie der schulische Übergang und die Übergangsentscheidung innerhalb des individuellen Orientierungsrahmens verortet sind. Michelle erhält von der Schule die Schullaufbahnempfehlung für den Besuch der Hauptschule. Sie selbst nimmt aber zunächst in Bezug auf die Übergangsentscheidung eine deutlich autonome Setzung vor und stellt ihre selbstbestimmte Entscheidung in den Vordergrund:
M: und ähm ich konnt mir aussuchen gesamt aber haupt na klar ähm konnt ich auch real , ähm , die lehrerin hat gesagt haupt wäre besser und gesamt will ich äh wollt ich nich weil ähm alle sagen da wird man mitgezogen bis zur , achten klasse //mh// und den rest muss man alleine machen, ob man sechsen nur hat oder so wird man überall mitgezogen und da ist meine freundin auch drauf also meine exfreundin.
Hierüber wird deutlich, dass der Möglichkeitshorizont der Wahloptionen zwar eröffnet wird, es aber eine Einengung auf die Hauptschule gibt und die Alternativen nicht gleichberechtigt nebeneinander stehen. Mit dem Ausschluss der Realschule orientiert sich Michelle an der Meinung der Lehrerin. Dabei wird die objektiv abgewertete Hauptschule als die bessere Schule dargestellt. In einer anderen Textstelle zeigt sich, dass Michelle unsicher ist, ob sie den Leistungsanforderungen der Realschule entsprechen kann: „ich will auch nicht inne realschule vielleicht wär das zu schwierig für mich“. Für den Ausschluss der Gesamtschule ist ein Argument ausschlaggebend, das beinhaltet, dort auch als Schüler mit schlechten Leistungen bis zur achten Klasse „mitgezogen“ und schließlich mit den höheren Leistungsanforderungen allein gelassen zu werden. Diese Aussage Anderer wird als Orientierungspunkt für die eigene Entscheidung genommen, ohne dass eine weitere Auseinandersetzung mit dieser Schulform erfolgt. Darin, dass sie dieses Argument für den Ausschluss der Gesamtschule anführt, zeigt sich, dass Michelle für sich selbst antizipiert, davon betroffen zu sein und sich somit die Gesamtschule mit dem hohen Risiko einer Überlastung verbindet. Mit dem Ausschluss dieser beiden im schulischen Ranking höher stehenden Schulen bleibt schließlich die Hauptschule übrig und bildet innerhalb des individuellen Orientierungsrahmens die Schule, die in ihren Leistungsanforderungen am ehesten als passförmig antizipiert wird. Dies wird allerdings nicht explizit ausformuliert, sondern sie wird eher diffus als die beste Alternative dargestellt: „aber haupt ist irgendwie besser“. Zudem besuchen Michelles Bruder, ihre beste Freundin, und auch viele ihr über die Freizeit bekannte Kinder und Jugendliche diese Schule:
M: und anner haupt ((ausatmen)) da wi da wollt ich auch wegen mein bruder und wegen meine freundin auch hin //mhmh// joa weil da kenn ich alle aus der haupt wie ich gesagt habe und die haupt ist näher dran und diese haupt war ich ja auch früher da war ja die ähm waldstraße
Hierüber wird erkennbar, dass Michelle die Hauptschule über die soziale Welt der Peers bereits als eine umfassend bekannte Schule entwirft. Dieser Aspekt des positiven Bezogenseins auf die Hauptschule kann nun deutlich und konkret benannt werden. Das kommende Neue stellt sich damit bereits als etwas Vertrautes dar. Es zeigt sich zudem, dass die kontinuierlichen Peerbeziehungen in Bezug auf den Übergang eine hohe Bedeutung innerhalb ihres Orientierungsrahmens besitzen und einen positiven Horizont markieren. Weiterhin führt sie den kurzen Schulweg, als auch die Bekanntheit des Gebäudes, in dem sie in den ersten Jahren der Grundschule unterrichtet worden ist, als Argumente für die Hauptschule an. Das Erleben und Erfahren des neuen Vertrauten wird ungeduldig erwartet und verknüpft sich mit dem Wunsch, den Übergang bereits vor dem Übergang zu vollziehen:
M: und ich will am liebsten jetzt schon dahin […] hier macht das keinen spaß mehr , ich will da se jetzt ‚sofort’ (betont) dahin //hae// will ich , aber geht ja nicht muss das ja erst zu ende machen und die sommerferien will ich auch nicht haben erst will ich da hin ((kurzes einatmen))
Hier wird deutlich, dass die neue Schule eine hohe Anziehungskraft besitzt, während die Grundschule etwas darstellt, das überwunden werden soll. Auch eine enge Bindung an die Peerzusammenhänge der Grundschule wird nicht deutlich.
Insgesamt zeigt sich dabei, dass es sich mit der eigenen Entscheidung für und der positiven Bezogenheit auf die Hauptschule um keinen bewussten und gezielten Prozess handelt. Michelle orientiert sich an der Empfehlung der Lehrerin, an den Vorzügen des Nahen und Vertrauten und in Abwendung vom negativen Gegenhorizont einer antizipierten Überlastung an den Schulen mit höherem Status. In der Entscheidung für die weiterführende Schulform ist Michelle auf sich selbst verwiesen. Ihre Mutter nimmt hier eher eine passiv gewährende und keine aktiv beratende Rolle ein.
Zusammenfassung zum individuellen Orientierungsrahmen und Ausblick auf die weiterführende Schule
Bei Michelle wird ein individueller Orientierungsrahmen deutlich, der einen sehr inkonsistenten schulischen Bezug aufweist. Sie misst einerseits Schule, deren Zertifikationen und den daran geknüpften Statuszuweisungen Bedeutung bei. Allerdings wird deutlich, dass diese Orientierung auf die formelle Seite der Schule eher abstrakt bleibt, was sich auch darüber zeigt, dass keine expliziten Enaktierungspotentiale zur Darstellung kommen. Der Erhalt guter Noten in den Kernfächern wird außerhalb des eigenen Wirkungsbereiches verortet. Schulische Investitionen und Anstrengungen werden eher als Vorsatz oder zukünftiges Vorhaben benannt. Gleichzeitig scheinen immer wieder auch Momente schulischer Distanz auf. So kristallisiert sich ein positiver Horizont heraus, der einen Ablösungsprozess von der Schule beinhaltet. Zudem zeigt sich, dass ein deutlich positiver Bezug auf Schule dann möglich ist, wenn sich diese von ihren Routinen löst, da hierüber die Möglichkeit besteht, mit den eigenen Interessen an Schule anzuknüpfen.
Mit der Thematisierung des Überganges zeigt sich bei Michelle eine positive Bezugnahme auf die Hauptschule. Zum einen wird so der Bedrohungshorizont der Überlastung, der sich an die Real- oder Gesamtschule bindet, vermieden. Zum anderen stellt diese Schule über die Welt der Peers einen vertrauten Ort dar, da sie hier auf Kinder und Jugendliche trifft, die ihre Freizeitbeschäftigungen und Interessen teilen. Die Entscheidung für die Hauptschule steht zwar in Spannung zu Michelles diffuser Orientierung auf die Realschule, dennoch bleibt über die Erfolgsgeschichte des Bruders der Möglichkeitshorizont eines solchen Aufstieges auch mit dem Besuch der Hauptschule bestehen. Bei Michelle zeigt sich, dass sie in ihrer Schulübergangsentscheidung weitgehend auf sich gestellt ist und signifikante Andere als Berater für ihre Schullaufbahn ausfallen. Allerdings bezieht sie sich unkritisch auf Urteile und Meinungen anderer, z.B. der Lehrerin und ihrer Freundin.
In Bezug auf die beiden scheinbar gegensätzlichen Orientierungen, einerseits der Schulbezogenheit und andererseits der positive Gegenhorizont, sich von Schule zu lösen, bleibt die Frage, ob sich dies so aufrechterhalten und umsetzen lässt. Durch die Kombination dieser beiden Orientierungen im individuellen Orientierungsrahmen deutet sich damit ein Konfliktpotential für die weitere Schullaufbahn an.
Durch Michelles eher schulferne Freizeitinteressen, die einen hohen Stellenwert innerhalb ihrer Orientierungen einnehmen, kann sich prognostisch in Konfrontation mit dem formal schulischen Bereich ein Krisenpotential entwickeln. Dabei liegt alles daran, ob beide Bereiche sich miteinander vereinbaren lassen bzw. nebeneinander bestehen können. Würde die Schule sehr stark die formell schulische Seite betonen und diese zudem in hohem Maße, zum Beispiel über Hausaufgaben, in den Freizeitbereich ausdehnen, so würde sich hier ein Konfliktpotential entwickeln, das in seiner Zuspitzung zu einem Abwenden von Schule führen kann. Mit Beginn der Adoleszenz und einer verstärkten Peer-Einbindung könnte sich dieses Krisenpotential noch einmal verstärken.
Beschreibung des Ankommens
Michelles Eintritt in die neue Schule gestaltet sich sehr positiv. Sie freut sich vor allem auf ihre neuen Mitschüler und darauf, dort neue Freunde finden zu können. Positiv bezieht sie sich auch auf das schulisch initiierte Eröffnungsritual des ersten Tages, innerhalb dessen jeder Schüler, anstatt einer Klasse a, b oder c einer bestimmten Tiergruppe zugeordnet und über diese vergemeinschaftet wird. Ihre Klasse ist durch das tierische Symbol einer Katze repräsentiert. Die Schule gestaltet den Beginn sehr spielerisch und eher abweichend vom schulischen Kernbereich, wodurch sich die Schüler über ihre Schülerrolle hinaus aufeinander beziehen können. Diese durch die Schule initiierte Vergemeinschaftung endet nicht mit dem ersten Tag, sondern weitet sich auch auf die nächsten Tage aus. Insgesamt wird deutlich, dass Michelle diese Form der Einführung in die Schule sehr entgegenkommt und dass die Vergemeinschaftung der Peers dabei eine große Rolle für sie spielt. Eine Freundin aus der Grundschule besucht mit ihr zusammen die Klasse der Katzen. Zudem sagt sie, dass sie viele neue Freunde kennengelernt hat. Daneben besucht ihre beste Freundin Nici, die jetzt bereits in der siebten Klasse ist, die Hauptschule. Allerdings wird im Laufe der Anfangszeit an der Hauptschule deutlich, dass es auch auf der Peer-Ebene Spannungen gibt und manche Schüler sie ärgern. Wie in dem ersten Interview folgen auch im zweiten ausführliche Erzählungen zu schulisch initiierten Ausflügen und Unternehmungen.
Im Leistungsbereich zeigt sich, dass Michelle ihre Noten, zumindest in einigen Fächern, gegenüber der Grundschule verbessern kann. Zwar bereitet ihr Mathe immer noch Schwierigkeiten, aber in Deutsch erhält sie in einer Arbeit eine Zwei plus, über die sie sich sehr freut. Außerdem bekommt sie einige Einsen in Musik und Kunst. Bezogen auf die neuen Fächer folgen detailliertere Erzählungen zum Fach Physik, in dem ihr die Experimente sehr gefallen. Positiv bezieht sie sich auf das neu erhaltene Fach Geschichte, in dem sie etwas über den „weltenlauf“ erfahren kann. Allerdings berichtet sie auch von Fächern, die sie langweilig findet und davon, dass ihr die langen Unterrichtszeiten nicht gefallen. Auch die Hausaufgaben, von denen sie sagt, dass sie sie jetzt immer erledigt, empfindet sie dennoch weiterhin als ungewünschten Eingriff in den Freizeitbereich: „ähm da ver- schwendet man eigentlich viel zeit bei da kann man nich gehen da muss man erst sitzen nachdenken manchmal sind schw- äh die aufgaben äh schwer“. Deshalb macht sie diese am liebsten abends („weil da hab ich den tach hinter mir“) und meistens allein. Nur wenn es zu viele sind, trifft sie sich mit einer Freundin, um diese mit ihr zusammen zu erledigen. Michelle sagt, dass sie sich in der neuen Schule mehr anstrengt und es ihr auch besser gelingt zuzuhören. Probleme bereiten ihr Bewährungssituationen, in denen sie vor der Klasse exponiert wird, da die Klasse sie bei Fehlern auslacht. Neben den Erzählungen zur Schule, die zumindest im Bezug auf Leistungen und schulische Anforderungen meist sehr knapp gehalten sind, gibt es auch im zweiten Interview ausführliche Darstellungen der eigenen Freizeitaktivitäten, wie den mit Freunden gegründeten Tanzkurs und ihren Eintritt in einen Fußballverein, die deutlich machen, dass diese außerschulischen Interessen nach wie vor einen hohen Stellenwert besitzen.
Eine positive Einmündung – Ergebnisse der Reflektierenden Interpretation des zweiten Interviews
Michelle bezieht sich zu Schulbeginn bereits sehr positiv auf die neue Schule und bindet dies besonders an die neuen Mitschüler:
M: ja , also wo wir ‚den’ (leise) ersten tach zur ähm , ,schule gegangen sind’ (stimme gehoben) äh ähm warn wir alle also ich war . hat mich gefreut d- äh dass ich in ne neue ‚schule komm’ (stimme gehoben) hab mich auf die neuen mitschüler gefreut und , dass ich ‚freunde finde’ (stimme gehoben)
Dadurch, dass der Eintritt in die neue Schule vor allem unter der Perspektive der Gleichaltrigenbeziehungen betrachtet wird, deutet sich hier, wie schon im ersten Interview, eine hohe Relevanz der Peerzusammenhänge an. In diesem positiven Bezogensein auf die neuen Mitschüler, bis hin zu einer Gewissheit darüber, dort neue Freundschaften schließen zu können, zeigt sich, dass Michelle hier Mitschüler antizipiert, von denen sie annimmt, dass diese zu ihr passen und schnell zu neuen Freunden werden können. Michelle thematisiert somit, dass sie an der Hauptschule auf Peerzusammenhänge trifft, die ihrem positiven Horizont entsprechen.
Unter dieser Perspektive sieht sie diese Schule für sich als den richtigen Ort an. Somit wird die im Schulranking objektiv abgewertete Hauptschule über die Peervergemeinschaftung für Michelle zu einem passförmigen Ort. Für sie stellt der schulische Übergang den positiven Bruch mit dem Alten dar. Mögliche Spannungsmomente oder die Eventualität eines nicht so reibungslosen Knüpfens von Freundschaftsbeziehungen bleiben ausgeblendet.
Über die Schule wird nun in ihrem Eröffnungsritual eine symbolisierte Vergemeinschaftung vollzogen. Die Kinder erhalten von den Lehrern Tiersymbole, über die sie einer Gruppe zugeordnet werden:
M: äh da kam die ähm lehrerinnen und lehrer , und die ham die=dann ausge- äh gesagt wer nach vorne kommen soll und die sollten sich dann ‚kärtchen’(betont) abholn und diese kärtschen äh da war ne katzen und ein delph- äh katze , vom fliegenden krokodil , und ‚ein hund’ (langsam) ja und äh dann ham die aufgerufen sind wir nach vorne gegang , da wurd ich auch aufgerufen sind wir nach vorne gegang da hm die nach gnachn namen gefagt ham die das auf, auf , die katze geschrieben weil ich bin mit bei herr felber ((bei)) die katze
In der Formulierung: „da wurd ich auch aufgerufen sind wir nach vorne gegangen“ wird erkennbar, dass sie sich bereits hier in der symbolisierten Gruppe verortet. Vorn bei den Lehrern angelangt, wird der Name eines jeden Schülers auf das Tier der Gruppe geschrieben und der Einzelne damit als Mitglied einer Gemeinschaft gekennzeichnet. Michelle gehört nun zur Gruppe der Katzen, zu der auch der Lehrer als große Katze zugeordnet wird.
Im weiteren Verlauf heften sich die Schüler das Tiersymbol an den Pullover und gehen, als ob sie „inner entenfamilie“ wären, zu ihren Klassenräumen. Über Kennenlernspiele, die sie im Kreis vollführen, werden dann die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft füreinander sichtbar.
Dieser Ablauf des ersten Tages wird so detailliert erinnert und erzählt, dass kenntlich wird, dass es sich um einen für sie sehr bedeutsamen Tag handelt, der in hohem Maße positiv konnotiert wird. Die über die Schule initiierte symbolisierte Vergemeinschaftung, das spielerische Kennenlernen und hierüber eine von der formalen Schule abweichende Gestaltung der Eingangsphase, wird von Michelle begrüßt und ist passförmig zu ihren eigenen Relevanzen der Peerbezogenheit. Dagegen fällt die Darstellung der an diesem Tag ebenfalls vollzogenen formal schulischen Handlungen sehr knapp aus. Diese können nicht mehr genau erinnert werden: „und äh da ham wir auch ,glaub ein arbeitsblatt’ (stockend, langsam) gemacht aber ich weiß nicht mehr so genau […] und hinterher ham wir die halbe stunde noch gerechnet“. Auch der Sprachduktus wird diesbezüglich ein anderer. Damit gibt es, bezogen auf die Thematisierung des rollenförmig Schulischen, einen deutlich geringeren Detaillierungsgrad. Die Einführung des formell Schulischen wird akzeptiert und nicht kritisiert. In der Art und Weise der Thematisierung wird aber deutlich, dass es nicht im Vordergrund steht und hierzu keine solch positiven Bezüge hergestellt werden können.
Michelle berichtet schließlich von ihren ersten Hausaufgaben, die sie an der neuen Schule aufbekommt:
M: und dann ähm hatten wir auch hausaufgaben auf wir sollten , das äh lieblings- äh lieblingsgegenstand mitbring was äh wieso wir das gut finden und am nächsten tag sind wir ah ham wir auch ähm , das mitgebracht
Über diese Hausaufgabe wird deutlich, dass es auch am zweiten Tag eine vom leistungsbezogenen Kernbereich der Schule abweichende Unterrichtsgestaltung gibt. Mit dieser Hausaufgabe, den Lieblingsgegenstand mitzubringen, verbindet sich eine Öffnung der Schule, sich als partikulare diffuse Person mit den eigenen Interessen und emotionalen subjektiven Bezügen zu beteiligen. Die Schule lädt damit ein, das einzubringen, was in Michelles eigenem positiven Gegenhorizont angesiedelt ist und damit hohe subjektive Bedeutung besitzt. Mit der Darstellung dieser Hausaufgaben tritt Michelle wieder in die Erzählung ein, was darauf verweist, dass sie sich hierauf mit ihren Orientierungen wieder positiv beziehen kann. Sie selbst bringt am nächsten Tag eine kleine Plüschkatze mit in die Schule:
M: ja und ich hatte ein , ein so ne ‚katze’ (betont)[…] die hat mir meine freundin aus polen mitgebracht , weil meine freundin ist polin die is auch hier auf der schule
Der Lieblingsgegenstand der Katze symbolisiert damit eine enge freundschaftliche Bindung.(1) Als jemand der Katzen gern mag, wird Michelle der Klasse der Katzen zugeordnet und bringt nun von sich aus diesen, für sie hochbedeutsamen Gegenstand in die Gemeinschaft der Katzen ein und verstärkt nun auch von ihrer Seite aktiv die schulisch initiierte Vergemeinschaftung. Hierin dokumentiert sich auf mehreren Ebenen die hohe Passförmigkeit der eigenen Orientierungen zu der Art und Weise, wie diese Schule ihr in der Eröffnungsphase begegnet.
Die Hauptschule suggeriert in der Anfangsphase eine Nichtrollenförmigkeit und entwirft sich als Raum der Peervergemeinschaftung. Michelle fühlt sich angenommen, da die Schule damit das anspricht, was in ihrem Orientierungsrahmen hohe Bedeutung besitzt und einen positiven Gegenhorizont bildet. Die Orientierung auf die Peervergemeinschaftung stellt dabei eine zentrale individuelle Orientierung dar. Das formell Schulische markiert hier eher den negativen Gegenhorizont.
Noten und schulische Leistungsanforderungen werden im Interview von Michelle selbst nur sehr knapp thematisiert. Auch auf Nachfragen zeigt sich im Gegensatz zur detaillierten Erzählung des Beginns ein anderer Sprachduktus. Es wird erkennbar, dass Michelle sich in Deutsch verbessert hat und hier mit einer Zwei plus die bisher unerreichbar geglaubte Grenze zum oberen Notenbereich überschreiten konnte. Darüber hat sie sich auch sehr gefreut: „ich wär am liebsten in de luft gesprungen“. Insgesamt zeigt sich, dass der Bezug auf Noten innerhalb ihres Orientierungsrahmens zwar Bedeutung besitzt, jedoch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit steht und gegenüber der Peerorientierung eine untergeordnete Rolle einnimmt. Dies zeigt sich u.a. daran, dass Michelle, bis auf Deutsch, ihre Noten nicht auflistet und sie dadurch keinen Überblick über diese besitzt:
M: in mathe vergess ich das eigentlich immer […] sonst in kunst kriegen ja sehr viel in textil weiß ich nich . weil da sacht die das eigent- lich nich , und in de andre fächer weiß ich das auch nich . das kann ich erst sagen so wenn in de halbjahreszeugnis is . kann ich die andre noten äh , sagen
Hierin wird deutlich, dass sie selbst erst mit Erhalt des Zeugnisses ihrer Noten gewahr wird. Es kommt auch kein Aktivitätspotential zum Ausdruck, diese in Erfahrung bringen zu wollen. Michelles Orientierung auf Schule und Noten bleibt damit weiterhin größtenteils abstrakt. Es werden keine expliziten Enaktierungspotentiale erkennbar.
Dass die formell schulische Seite gegenüber der Orientierung auf die Peervergemeinschaftung eine untergeordnete Rolle einnimmt, zeigt sich verdichtet anhand der Reaktion auf die Aufforderung des Interviewers, sich unter einer Leistungsperspektive in der Schulklasse zu verorten und damit eine Unterscheidung vorzunehmen:
M: eigentlich mittelmäßig weil manche sin eigentlich schlecht=also ich würd sagen so fast gute klasse äh direkt beurteilen würd ich das auch nich //mh// weil äh meine freundin die is auch sch- n bisschen schlecht , ich auch , finde ich außer so in manche fächer , also . und die anderen sind eigentlich gut
Hier wird ein Zwiespalt deutlich, einerseits der durch den Interviewer eingeführten schulischen Logik der Leistungsunterscheidung zu folgen und andererseits die eigene dominante Orientierung der Vergemeinschaftung aufrechtzuerhalten. Michelle nimmt zwar Unterscheidungen vor, versucht aber anschließend die Gemeinschaft über Kompromissformeln wiederherzustellen. So überführt sie die erste Unterscheidung schließlich in die Formulierung einer fast guten Klasse, in der zwar Unterschiede angedeutet bleiben, aber dennoch die Klasse als Ganzes bestimmt werden kann. Eine implizite Zurückweisung der Frage des Interviewers dokumentiert sich in der Äußerung „aber direkt beurteilen würde ich das nicht“, an die sich die Begründung anschließt, dass ihre Freundin im unteren Notenbereich zu verorten ist. Diese Unterscheidung der Freundin wird aber nicht stehen gelassen. Obwohl Michelle sich zu Beginn im Mittelfeld der Klasse einordnet, solidarisiert sie sich nun mit der Freundin, indem sie auch sich selbst im unteren Leistungsbereich verortet. Somit zeigt sich in dieser Passage ein Oszillieren zwischen der formellen Logik der Schule und der dominanten Orientierung der Peervergemeinschaftung. Die formelle schulische Logik, die hier über den Interviewer eingeführt wird, steht den eigenen Orientierungen der Peervergemeinschaftung diametral gegenüber. Die eigenen dominanten Orientierungen geraten über die Aufforderung der Unterscheidung in Bedrängnis. Über Kompromissformeln und dem Geringhalten von Unterschieden wird versucht, diese Spannung zu bearbeiten.
Zusammenfassung und Ausblick auf die weitere Schullaufbahn
Über die Eingangspassage des zweiten Interviews wird erkennbar, dass Michelle sich zunächst, vor allem über eine erwartete Passförmigkeit der Peer-Welt, in hohem Maße positiv auf die Hauptschule beziehen kann. Dies steigert sich über das Eintrittsritual der Schule, in dem diese sich als Raum der Vergemeinschaftung und der Anerkennung der Person, über ihre Rollenförmigkeit als Schülerin hinaus, darstellt. Hierüber markiert die Schule einen positiven Gegenhorizont, auf den sich Michelle ohne Momente der Distanzierung beziehen kann. Auch auf der Leistungsebene konnte sie an der neuen Schule Erfolge erzielen, so dass, trotz weiter bestehender Leistungsschwierigkeiten in Mathematik, auch in dieser Hinsicht von einer guten Einmündung gesprochen werden kann. Schulische Leistungen und Bewertungen besitzen innerhalb des individuellen Orientierungsrahmens Bedeutung, treten aber hinter die dominante Orientierung auf eine Peervergemeinschaftung zurück. Diese Orientierung steht jedoch diametral der schulischen Praxis der Unterscheidung gegenüber, so dass Leistungsunterschiede entthematisiert und verschleiert werden müssen.
Für den weiteren Verlauf der Schulkarriere sind Chancen und Risiken antizipierbar: Gelingt es der Schule, ihre formellen Prozesse zu flankieren und abzufedern, und bietet die Klasse tatsächlich den gewünschten vertrauten Rahmen, so besteht die Chance, dass sich Michelle auch stärker auf Schule beziehen kann. Wird aber diese Vergemeinschaftung innerhalb der Schule zum Beispiel durch Leistungsunterscheidungen bedroht und bietet die Klasse, so wie es sich zum Teil schon im Interview andeutet, nicht den vertrauten Rahmen, so besteht die Gefahr, dass sich Michelle von Schule abwendet und stärker auf außerschulische Vergemeinschaftungen Bezug nimmt. Dies könnte sich zudem noch einmal mit dem Eintritt in die Adoleszenz verschärfen.
Fußnoten:
(1) Aus beiden Interviews wird zudem deutlich, dass Michelle sich sehr für Katzen interessiert.
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