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Der Übergang auf das exklusive Gymnasium – eine erste Kontrastierung der Fälle Rainer, Henriette und Clemens
Wie im vorhergehenden Abschnitt sollen auch in dieser Kontrastierung der Fälle Rainer, Henriette und Clemens die folgenden Dimensionen behandelt werden:
– Verlauf der Schulkarriere;
– die antizipatorische Bedeutung und die Ankunft auf dem exklusiven Gymnasium;
– die familiäre Bildungsorientierung und -unterstützung;
– Bewältigungs- und Enaktierungspotential sowie die Deutung schulischen Erfolgs und Misserfolgs;
– der Stellenwert von Schule im individuellen Orientierungsrahmen
– sowie abschließend die Prognosen zur weiteren Schullaufbahn auf der Grundlage einer ersten vorläufigen Typenbildung.
1. Der Verlauf der Schulkarriere:
Die Grundschulzeit von Rainer ist gekennzeichnet durch durchweg sehr positive Bezüge und ebenfalls fast durchweg positive Erfahrungen mit den schulischen Anforderungen und den durch Leistungsbeurteilungen vermittelten Statusplatzierungen. Schon die Einschulung wird für Rainer als Beginn eines neuen und bedeutsamen Lebensabschnitts in der Familie initiiert. Rainer ist dann von Anfang an ein sehr leistungsstarker Schüler, der auch über die schulischen Themen hinaus sehr interessiert und wissbegierig ist. Er fühlt sich ebenfalls in der Schulklasse von Beginn an sehr wohl und genießt – obwohl er sich mit seiner Bildungsorientierung von den Mitschülern distinktiv abgrenzt – die Anerkennung der Mitschüler. Das liegt vor allem auch daran, dass Rainer trotz der hochgradigen Passung in Bezug auf die schulische Lern- und Leistungsanforderungen kein angepasster Schüler ist. So finden sich einige wenige Situationen in der Grundschulzeit, in denen Rainer mit Lehrern zusammenstößt, weil diese nicht – aus seiner Sicht – angemessen seinen Status als exzellenter Schüler berücksichtigen. Die fast „perfekte Grundschulzeit“ setzt sich auch in der Sekundarstufe fort. Rainer wechselt durch den Willen der Familie an ein innerhalb der städtischen Gymnasiallandschaft als besonders exklusiv ausgewiesenes traditionsreiches Gymnasium. Hier kann er bis zum Zeitpunkt des 2. Interviews nahezu kontinuierlich und ohne große Einbrüche an seine Leistungen in der Grundschule anknüpfen. Als Krisenmoment lässt sich bei Rainer jedoch bestimmen, dass er sich jetzt nicht mehr so deutlich wie in der Grundschule von den Mitschülern absetzen kann. Insgesamt steht Rainer für eine kontinuierliche und passförmige Erfolgskarriere.
Ähnlich wie Rainer beginnt auch Henriette ihre Schulkarriere in einer sehr positiven Art und Weise. Sie ist aufgeregt und freut sich auf die Einschulung. Sie findet schnell ein positives Verhältnis zu den Mitschülerinnen und den Lehrern. Und sie ist sehr positiv auf die schulischen Leistungsanforderungen und Leistungsbeurteilungen der Schule bezogen. Im Verlauf der Grundschulzeit kristallisiert sie sich als eine der besten Schülerinnen ihrer Klasse heraus. Sie ist sogar, was die Leistungsbewertungen anbelangt noch erfolgreicher als Rainer. Auf dem Zeugnis der 4. Klasse hat sie außer einer Zwei in Sport alles Einsen. Im deutlichen Kontrast zu Rainer wird von Henriette dieser schulische Erfolg jedoch nicht offensiv nach außen getragen oder gar als Distinktionsmoment eingesetzt. Während sie also anfangs noch selbst den eigenen Fähigkeiten etwas misstraut und – anders als Rainer – vor Klassenarbeiten sehr nervös ist, verstärkt sich diese Zurückhaltung durch einige Mitschüler, die in ihren schuldistanzierten und -oppositionellen Haltungen als Bedrohung erlebt werden. Neben ihren sehr guten schulischen Leistungen und der Orientierung auf den Entwicklungssprung, ist es auch die Orientierung der Vermeidung solcher bedrohlicher Peerkontakte, die Henriette sich auf das exklusive gymnasiale Bildungssegment beziehen lässt. Sie besteht die Aufnahmetests an drei exklusiven Gymnasien und entscheidet sich mit der Mutter für das renommierteste. Hier kann Henriette nun – obwohl sie von den Noten her günstigere Ausgangspositionen zu haben scheint – nicht wie Rainer kontinuierlich an die Leistungen der Grundschule anknüpfen. Hier „rutscht“ sie in das Leistungsspektrum zwischen 2 und 3 „ab“. Auch auf der Ebene der Integration in die Schülerschaft schichten sich Probleme auf. Henriette fühlt sich auch nach einigen Wochen noch immer fremd und kritisch beäugt von den anderen Schülern. Insgesamt kann damit ihre bisherige Schulkarriere auch trotz der positiv-optimistischen Haltung Henriettes als diskontinuierliche, deutlich abgebremste Erfolgskarriere mit deutlicheren Krisenpotentialen gefasst werden.
Im Kontrast zur Schulkarriere von Rainer und auch von Henriette verläuft der Beginn der Schulkarriere von Clemens in der Grundschulzeit deutlich diskontinuierlicher und weniger erfolgreich. Zudem weist die Schulkarriere gegenüber den anderen beiden eine Besonderheit auf, die in der engen Verkopplung mit seiner Karriere im Städtischen Chor besteht. Clemens erzielt über die Zeit in der Grundschule gute, aber keine herausragenden Leistungen. Auf dem ersten Zensurenzeugnis zum 1. Halbjahr der 3. Klasse hat er drei Dreien (u.a. in Mathematik). In diesem Zusammenhang wird ihm auch bewusst, dass er im Klassenspektrum nicht zu den besten Schülern gehört. Durch vermehrte Anstrengungen und schulische „Investitionen“, die von der Mutter ausgehen, gelingt es ihm aber, seinen Leistungsstand im oberen Mittelfeld zu stabilisieren und diese Leistungsverbesserung als eigenen Erfolg zu verbuchen. In dieser Erfahrung verstärkt sich sein positiver Schulbezug, der neben den Freunden auch darüber hergestellt wird, dass die erlernten Kulturtechniken als Autonomiegewinn verbucht werden können. Mit diesen Orientierungen und den stabil eingerichteten Schulleistungen, die ihm die gymnasiale Schullaufbahnempfehlung einbringt, bezieht sich Clemens – trotz des teilweise vorliegenden Schulversagens und der darin begründeten Schuldistanz – aufstiegsorientiert auf das gymnasiale Segment der Schullandschaft. Durch die langfristigen Planungen der Mutter bewirbt er sich auf dem exklusiven Gymnasium mit dem Spezialprofil in Musik und schafft den Zugang über die Sonderbedingungen der Aufnahme für diesen Spezialzweig. Weil Clemens keine Vorstellungen über den tatsächlichen Status dieses Gymnasiums und seine Leistungsanforderungen hat und vor allem mit Kontinuitätserwartungen den Übergang vollzieht, ist das Ankommen auf dieser Schule durch Brüche und Irritationen gekennzeichnet. Gegenüber Rainer und Henriette finden sich bei Clemens am deutlichsten Leistungseinbrüche. In den ersten Klassenarbeiten einiger Fächer bekommt er eine Vier. Nur in Musik sind seine Leistungen konstant. Zudem kommt bei Clemens – ähnlich wie bei Henriette – das Empfinden der Fremdheit gegenüber der Schule und den Mitschülern hinzu. Er fühlt sich teilweise deplatziert und nicht wohl in seiner Haut und reduziert seine Kontakte auf die Schüler des Musikzweiges und des Chors. Erhöhte Anstrengungen erscheinen nun auch am Gymnasium, die bewährte Bearbeitungsform der Leistungseinbrüche zu sein. Sie sind aber angesichts der generell gestiegenen Anforderungen und der wachsenden Einbindung in die Chorarbeit schwierig umzusetzen. Die Schullaufbahn von Clemens kann deshalb als diskontinuierliche, labile Aufstiegskarriere bezeichnet werden, die Fähigkeitsdefizite durch vermehrte Anstrengung auszugleichen versucht.
2. Die antizipatorische Bedeutung und die Ankunft auf dem exklusiven Gymnasium:
Auch unter diesem Kriterium lassen sich für die ausgewählten Fälle des exklusiven Gymnasiums deutliche Kontraste aufzeigen. Für den Übergang von Rainer ist sowohl innerhalb seines individuellen Orientierungsrahmens als auch im Horizont der Familie völlig klar, dass nur eine gymnasiale Schullaufbahn und darin der Besuch eines besonders exklusiven Gymnasiums infrage kommen. Dabei ist Rainer – ähnlich auch bei Clemens und Henriette – ein Wissen über die Rangordnung und Exklusivitätsgrad der städtischen Gymnasien verfügbar. Innerhalb des Orientierungsrahmens von Rainer bildet das exklusive Gymnasium den positiven Bezugshorizont und verspricht eine hohe Passförmigkeit. Allerdings hat Rainer selbst zunächst ein anderes stark naturwissenschaftlich profiliertes Gymnasium im Blick, das jedoch nicht mit einer derart langen Tradition aufwarten kann. In weiten Kreisen wird innerhalb der Familie die Übergangsentscheidung diskutiert und das traditionsreiche exklusive Gymnasium schließlich als richtige Wahl auch gegenüber Rainer durchgesetzt. Darin lagert für ihn ein leichtes Krisenpotential. Mit der Ankunft auf dieses Gymnasium nach dem Übergang zeigt sich sofort, dass die antizipatorischen Erwartungen weitestgehend aufgehen. Während etwa die Kontinuität von Freundschaftsbeziehungen oder die Entfernung des Schulweges bei der Entscheidung keine Rolle gespielt haben, ist Rainer gegenüber den hohen Leistungsanforderungen sofort positiv eingestellt. Umstellungsschwierigkeiten gibt es jedoch in Bezug auf die weniger deutlichen Absetzungsmöglichkeiten innerhalb der nun viel homogeneren leistungsstarken Schülerschaft. Die vor allem sprachliche Ausrichtung wird akzeptiert, gleichwohl die Alternative des anderen naturwissenschaftlichen Gymnasiums weiterhin eine Rolle spielt.
Ganz andere antizipatorische Deutungen des Übergangs auf dieses Gymnasium sowie Ankunftserfahrungen finden sich bei Henriette. Vom exzellenten Leistungsstand in der Grundschule kann sie sich begründet auf ein exklusives Gymnasium beziehen. Antizipatorisch verbindet Henriette damit einerseits einen deutlichen Entwicklungsschub und das Erreichen einer neuen Statusstufe im Entwicklungsverlauf sowie andererseits die Hoffnung, in weniger problematische Peerzusammenhänge hineinzukommen als in der Grundschule. Gerade weil Henriette in der Grundschule die Spannungen zwischen ihren schulnahen Orientierungen und den eher schulfernen und -oppositionellen Orientierungen als Bedrohung erlebt hat, bezieht sie sich in ihren Erwartungshorizont auf das obere exklusive gymnasiale Segment. Dabei wird diese Vermeidungsorientierung durchaus über die sehr schulkonformen Bezüge ihres individuellen Orientierungsrahmens gedeckt, so dass – ähnlich wie bei Rainer – dieses Gymnasium ihrem positiven Gegenhorizont entspricht. Sie kann sich jedoch nicht in der Selbstverständlichkeit, die wir bei Rainer finden, auf diese Schule beziehen und ist im Prozess des Ankommens mit deutlichen Momenten der Fremdheit und Distanz konfrontiert. Diese Momente der Fremdheit zeigen sich auch in den Bezügen ihrer Mutter, die in ihren Reaktionen mit der euphorischen Freude zugleich deutlich macht, dass Henriette nicht selbstverständlich auf diese Schule gehört. Diese Fremdheit scheint sich zudem in dem Leistungsabfall zu bestätigen, den Henriette nach dem Übergang erlebt.
Der Übergang auf das exklusive Gymnasium steht bei Clemens unter dem Vorzeichen einer deutlich verkennenden antizipatorischen Deutung. Da Clemens nicht die Exklusivität und das hohe Anforderungsniveau dieses Gymnasiums realisiert, was durch den Sondermodus seiner Aufnahme an diese Schule über eigene musikbezogene Eignungsprüfungen unterstützt wird, geht er von einem ganz normalen Gymnasium aus, dass sich in den Anforderungen kaum von denen der Grundschule unterscheidet. Schon als „ganz normales Gymnasium“ erscheint der Übergang dabei als Wagnis, das als Chance nicht selbstverständlich ist und genutzt werden muss. Als Aufstiegsorientierung markiert das normale Gymnasium eine Option im positiven Horizont seines individuellen Orientierungsrahmens. Neben dieser Chancenorientierung wird der Übergang von Clemens normalisiert und quasi verautomatisiert, weil der Musikzweig der Schule „immer“ die Mitglieder des städtischen Chors aufnimmt und das Gymnasium damit beinahe organischer Bestandteil des Chors ist. Entsprechend der verkennenden Erwartungen für den Übergang manifestieren sich mit dem Ankommen Irritationen und Brüche. Clemens muss hier schmerzlich realisieren, dass diese Schule wohl weit über seinen positiven Gegenhorizont hinausgeht. Das gelingt aber nur ansatzweise. Der Schleier des Verkennens wird auch in der Deutung dieser Irritationen und Brüche nicht gelüftet. So bleiben z.B. die Leistungseinbrüche für Clemens über weite Strecken unerklärt („in der grundschule in der letzten klassenarbeit hatte ich in mathe war ich der beste in der klasse und bin halt auf der a-schule plötzlich sone schlechte note“). Zwar sind die Leistungseinbußen relational betrachtet denen von Henriette vergleichbar, jedoch drohen Clemens im Vergleich mit Rainer und Henriette am deutlichsten leistungsbezogene Abstiegsprozesse.
3. Familiäre Bildungsorientierung und –unterstützung:
Die Familie von Rainer ist in hohem Maße bildungs- und distinktionsorientiert. Gerade in der Selbstverständlichkeit, mit der innerhalb der Familie nach einem exklusiven Gymnasium für den Übergang gesucht wird, mit der hohen Wertigkeit, die innerhalb der Familie der Aneignung kulturellen Kapitals zugewiesen wird, und mit der Familientradition, dieses Gymnasium zu besuchen, zeigt sich eine vor allem statusreproduktive, „natürliche“ Passung zwischen Familie und Schule. Dabei sind es gar nicht so sehr die einzelnen schulischen Leistungen und Leistungsanforderungen, die Thema innerhalb der Familie sind, sondern es sind die Aneignung, Präsentation und Anwendung (z.B. als Distinktion) von kulturellem Kapital insgesamt, die Bezüge auf dieses Gymnasium innerhalb der Familie kennzeichnen. Bildung und Wissensaneignung werden in dieser Familie allein schon durch ihre hohe Wertschätzung unterstützt. Zudem kann Rainer zur Erfüllung der schulischen Anforderungen auf die gegebenen familialen Ressourcen (Bücher, Zeitungen aber auch Kollegen und Freunde der Familie) zurückgreifen. Eine explizit schulische Unterstützung etwa im Sinne einer Hausaufgabenhilfe liegt – weil sie nicht notwendig ist – nicht vor.
Im Vergleich zu Rainer sind die familialen Bezüge von Henriette deutlich anders zu kennzeichnen. Die Familie ist – auch wenn die Mutter das Abitur abgelegt hat – in Differenz zur Familie von Rainer deutlich weniger bildungsorientiert. Die exzellenten schulischen Leistungen der Tochter während der Grundschulzeit sind für die Eltern (v.a. für die Mutter) eine Überraschung und Anlass für euphorisch-emotionale Akklamationen. Besonders, dass Henriette die Aufnahme auf dieses Gymnasium schafft („wenn das von der a-schule kommt und du kommst da rein dann spring ich bis an die decke“), zeigt, dass vor dem Hintergrund der familialen Orientierungen hier eine leicht aufstiegsorientierte Bezugnahme auf Schule vorliegt. Die vermutete besondere Leistungsfähigkeit („du bist ja superschlau“) soll hier qua Gelegenheit dazu genutzt werden, den Status über das erfolgreich absolvierte exklusive Gymnasialsegment aufzuwerten. Die Fremdheit und Distanz liegt dabei aber nur für dieses obere, exklusive Gymnasialsegment und nicht für die gymnasiale Schullaufbahn prinzipiell vor. Gleichzeitig ist hier auch nicht von einer Überanpassung der Familie an die Schule auszugehen, weil insgesamt betrachtet aus der Perspektive von Henriette in der Familie eher zu wenig Bezug auf die Schule genommen wird. Auf Misserfolge reagieren die Eltern wohlwollend, auf Erfolge überrascht und euphorisch. Im Großen und Ganzen ist jedoch Henriette – auch wenn sie die Mutter z.B. bei den Hausaufgaben fragen kann – in der Erfüllung der schulischen Anforderungen auf sich selbst verwiesen.
Bei Clemens tritt vor allem die Mutter (teilweise zusammen mit der Großmutter) als Anwältin seiner Schulkarriere auf. Für die Mutter, die zu ihrer Zeit auch das Abitur absolviert hat, inzwischen aber als Buchhalterin arbeitet, ist der Statusaufstieg durch Bildung das ausgemachte Ziel für ihren Sohn Clemens. Von langer Hand plant sie die Einfädelung in die städtische Schullandschaft und die Einmündung auf dieses exklusive Gymnasium über die frühzeitige Mitgliedschaft im städtischen Chor. Dabei steuert und plant die Mutter nicht nur im Hintergrund, sondern sie kontrolliert die jeweilige Erfüllung der schulischen Leistungsanforderungen und gibt vor, wie intensiv und ausdauernd Clemens für die Schule zu üben hat. Hier liegen im Vergleich zu Rainer und Henriette drei sehr unterschiedliche familiäre Bezüge vor. Während die Familie bei Henriette außer ihrer belobigenden Verstärkung nicht direkt in die Schulkarriere und die Erfüllung der schulischen Leistungsanforderungen eingreift, ist der Einfluss der Mutter/der Familie bei Rainer strukturell ähnlich stark wie bei Clemens. Der Unterschied zwischen beiden besteht jedoch darin, dass bei Rainer die familialen Bildungsorientierungen bereits in Fleisch und Blut übergegangen sind und deutlich von Rainer als individuelle Orientierungen ausagiert werden, scheinen die Bildungsorientierungen der Mutter von Clemens, diesen – auch aufgrund der Verschleierungen – fremd und äußerlich zu bleiben. Neben einem fein austarierten Belohnungs- und Bestrafungssystem (bei einer 1 gibt es 50 Cent, bei einer 6 werden 50 Cent abgezogen), weist sie die Berichtigung von misslungenen Klassenarbeiten an. Aber auch dabei wird die starke schulische Aufstiegsorientierung mit pädagogischen und lerntheoretischen Argumenten verschleiert. Der familiäre Bezug auf Schule kann deshalb als verschleiert-aufstiegsorientierte Überanpassung an die Schule gefasst werden. Zugleich bietet die Familie Clemens aber auch – neben der Verstärkung der schulischen Anforderungen – Unterstützung bei der Erfüllung dieser Anforderungen. So hilft der Großvater beim Anfertigen der Hausaufgaben oder Clemens nutzt den Computer im Laden seines Vaters. Diese Unterstützungsangebote und -leistungen sind jedoch nicht gegen das dominante Aufstiegsziel gerichtet, sondern bestärken dieses.
4. Bewältigungs- und Enaktierungspotential sowie die Deutung schulischen Erfolgs und Misserfolgs:
Für die Kennzeichnung der Enaktierungspotentiale und die Frage der Bewältigung von schulischen Erfolg oder Misserfolg ist bei Rainer zentral, dass er bislang in seiner Schulkarriere nur wenig mit schulischen Misserfolg konfrontiert wurde. Objektiv betrachtet, d.h. auf die Skala der in der Schule vergebenen Zensuren bezogen, gab es nur sehr seltene Situationen, in denen Rainer eine 3 oder 4 bekommen hat. In diesen Fällen begrenzte sich die Bewältigung und Deutung dieses Misserfolgs darauf, den Status der Fächer als den von Nebenfächern kenntlich zu machen und für sich klarzustellen, dass er eben keine Lust auf diese Anforderungen hatte. Es handelt sich also um Misserfolg, der nicht als Versagen relevant wird, z.B. weil keine Bezüge zum verbürgten kulturellen Kapital ersichtlich sind. Demgegenüber wird der Erfolg dem eigenen Können zugewiesen, und das in Form eines Begabungs- und Fähigkeitsentwurfs, bei dem es um eine nicht steuerbare, sondern allenfalls durch äußere Konstellationen eingeschränkte Befähigung geht. Mit diesem Selbstentwurf verbindet sich nun aber ein umso stärkeres Misserfolgserleben, wenn in den kulturell besonders verbürgten Kapitalien nicht die maximalen Erfolge erreicht werden. Hier kann bereits die Eins ohne volle Punktzahl oder erst recht die Zwei mit deutlichen emotionalen Einbrüchen verbunden sein. Aufgrund der dominanten Deutung von Erfolg im Sinne einer naturgegebenen Begabung und Befähigung verbindet sich nun, dass gegenüber den schulischen Anforderungen kaum konturierte Enaktierungspotentiale bestehen. Anders als bei Clemens kommen für Rainer Strategien des Übens und Lernens gar nicht in den Blick. Es geht allenfalls um naturgegebene Aneignungsprozesse durch Lesen, Hören und Sehen von Kulturkapitalträgern, zu denen auch die Unterrichtsmaterialien gehören.
Henriette hat bereits über die leistungserfolgreiche Grundschulzeit eine aktiv-optimistische Haltung gegenüber den schulischen Anforderungen ausgeprägt. Wenn eine Leistung mal nicht ganz so gut war, dann galt immer, dass die nächste Arbeit besser werden würde. Ohne das Henriette dabei im Detail deutlich gemacht hätte, wie das genau von statten gehen sollte, zeigte sich hier doch ein diffuses Enaktierungspotential und eine große Zuversicht bzw. ein starkes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Diese Haltung bleibt auch nach dem Übergang auf das Gymnasium bestehen. So besteht, obwohl sie sehr deutlich hinter den einstigen exzellenten Leistungen der Grundschule zurückbleibt, eine optimistische und zuversichtliche Einstellung dazu, dass ihre Leistungen am exklusiven Gymnasium nicht weiter „abrutschen“ werden. Sie stellt dazu im Interview fest, dass sich die Anforderungen am Gymnasium auf jeden Fall gesteigert haben, dass sie diese aber dennoch bewältigen kann („ja also, es is auf alle fälle mehr als in der alten schule aber, ja ich krieg das schon alles hin“). Dabei bezieht sich ihr Enaktierungspotential vor allem auf logistische Optimierungen und effizientes Management. Im Unterschied zu den zuversichtlichen Haltungen gegenüber den gestiegenen Leistungsanforderungen ist Henriette in Bezug auf die bestehenden Peerproblematiken weniger optimistisch. Hier scheint die Überwindung der Fremdheit durch Festhalten an alten Beziehungen eher kontraproduktiv.
Weil bei Clemens der Einfluss der Mutter auf seine Schulkarriere so enorm und gleichzeitig für ihn so undurchsichtig ist, finden wir in seiner Deutung und Bewältigung von Schulerfolg und Schulversagen sowie bei seinen Enaktierungspotentialen deutliche Widersprüche sowie eine ausgeprägte Ambivalenz. Auf der einen Seite gibt es die Strategie der Erweiterung der Investitionen in Schule, das Mehr an Üben, wenn die Leistungsanforderungen schwieriger zu erfüllen sind. In dieser Linie ist eine Deutung von Erfolg und Versagen impliziert, die den Eigenanteil, die Eigenverantwortung und vor allem die Gestaltbarkeit im Bezug auf Schule betont. In dieser Linie hat Clemens Erfolg und Versagen selbst in der Hand. Als Enaktierungspotential und Haltung des Strebens kommt es nur darauf an, auf steigende Schwierigkeiten mit wiederum gesteigerten Investitionen zu reagieren. Noch mehr üben, noch länger Lernen, noch öfter Wiederholen. Dieser in den Kategorien von Schütze als handlungsschematischer Entwurf zu bezeichnende Bezug auf Schule ist jedoch nur die eine Seite. Auf der anderen Seite finden sich bei Clemens immer wieder Haltungen, die deutlich machen, dass ihm Schule, ihre Anforderungen, ihre Beurteilungen, ja ihr Funktionieren insgesamt völlig unverfügbar und unbegreifbar bleiben. In dieser Linie, die im Schütze’schen Sinn eher der Kontur der Aufschichtung und Entfaltung einer Verlaufskurve entspricht, ist gerade kennzeichnend, dass Enaktierungspotentiale nicht vorhanden sind. Erfolg und vor allem Versagen entziehen sich hier einem deutenden Zugriff. Die einzelne Note ist Ergebnis einer heteronomen und kontingenten Konstellation, an die in ihrer Unverfügbarkeit Clemens keine Deutungsversuche zu verschwenden braucht. Es ist deutlich, dass diese beiden Deutungslinien spannungsvoll zueinander stehen und nicht gleichzeitig berücksichtigt werden können. In der bisherigen Schulkarriere scheint die erste Linie bei schulischem Erfolg und die zweite Linie bei schulischem Misserfolg die Oberhand zu gewinnen. Eine wirkliche Freisetzung einer handlungsschematischen Bezugnahme auf Schule setzt jedoch voraus, dass Clemens die heteronomen Einflüsse in seine Schulkarriere erkennt und sich davon befreit.
5. Der Stellenwert von Schule im individuellen Orientierungsrahmen:
Es ist für Rainer bereits mehrfach deutlich gemacht, dass schulisches Lernen und die Schulleistungen an prominenter Stelle in seinem individuellen Orientierungsrahmen verortet sind. Darin gründen sich ja die positiven und sehr affinen bzw. passförmigen Bezüge auf Schule und schulische Selektion. Allerdings zeigt sich auch, dass schulisches Lernen und Schulleistungen nicht per se hochbedeutsam sind, sondern in Abhängigkeit davon, wie stark ihre Nähe zum aneignungswerten kulturellen Kapital eingeschätzt wird. Der Stellenwert von Schule innerhalb des individuellen Orientierungsrahmens wird also danach bestimmt, wie weit es sich in die Bedeutung der Aneignung kulturellen Kapitals eingliedern kann. Es geht bei Rainer also vor allem um die Statusreproduktion durch die Aneignung kulturellen Kapitals, das zu einem großen Teil durch Schule verbürgt wird. Ein Scheitern in Schule kann demnach dann leichter bearbeitet werden, wenn es sich nicht auf die Kernbereiche des aneignungswerten kulturellen Kapitals bezieht. Ähnlich wie bei Rainer, kann man auch bei Henriette davon ausgehen, dass Schule einen zentralen Bestandteil des individuellen Orientierungsrahmens ausmacht. Deutlicher als bei Rainer geht es bei Henriette jedoch nicht um die Aneignung kulturellen Kapitals allgemein, innerhalb dessen Schule einen Teil abdeckt, sondern wir haben hier eine gewissermaßen in Reinform vorliegende Schulorientierung. Dabei wird der Schulbezug vor allem auch relevant, weil damit problematische Peerbezüge in der Schulklasse vermieden werden sollen. Für Henriette liegt damit ein schulaffiner individueller Orientierungsrahmen vor, der an das Erreichen jeweils höherer Entwicklungsstufen geknüpft ist und zugleich zur Vermeidung problematischer Peerbezüge dient. Dass sich nun auch auf diesem Exklusiv-Gymnasium problematische Peerbeziehungen andeuten, verweist darauf, dass Henriette von ihrem Orientierungsrahmen auch hier zu einem Großteil der Schüler nicht passförmig ist. Das Gefühl, komisch von den anderen angeguckt zu werden, oder aber es selbst aufregend zu finden, „die anderen zu sehen“, verdeutlicht, dass ihr Schulbezug weder in der Grundschule noch auf dem Gymnasium von allen affirmativ verbürgt wurde. Nun muss hier aber auch angemerkt werden, dass bei Henriette auch kein Orientierungsrahmen vorliegt, in dessen Zentrum die Peerbeziehungen stehen würden. Diese kommen im Gegenteil nur soweit zu Geltung, als es um grundlegende Fremdheits-, Ausgrenzungs- oder Übergriffsgefährdungen geht.
Schule nimmt auch bei Clemens – allerdings in einer fremdgesteuerten Ausprägung – einen zentralen Platz innerhalb seines individuellen Orientierungsrahmens ein. Neben dem Chor und seiner musikalischen Ausbildung sind es vor allem die schulischen Anforderungen, um die sich der Tages- und Wochenablauf dreht. Dabei werden aber diese eher außengeleiteten schulischen Bezüge angedockt an die Bestimmung von Schule als verlässlicher und Sicherheit spendender Zusammenhang. Schule ist damit im Orientierungsrahmen von Clemens vor allem ein Orientierung, Sicherheit und Stabilität gewährender und verbürgender lebensweltlicher Zusammenhang. Dabei geht es aber nicht um die Ermöglichung fester intimer Freundschaftsbeziehungen, sondern um den integrativen Zusammenhang als Ganzes. Die Erfüllung schulischer Leistungsanforderungen und erst recht die Aneignung kulturellen Kapitals spielen hier allenfalls als außengeleitete Bezüge (der Mutter) eine Rolle.
6. Krisen- und Chancenpotentiale – Prognosen zur weiteren Schullaufbahn auf der Grundlage einer ersten vorläufigen Typenbildung:
Die bisherige Schulkarriere von Rainer und die rekonstruierten auf Schule und schulische Selektion bezogenen Aspekte seines individuellen Orientierungsrahmens verweisen insgesamt auf eine dominant chancenreiche und erfolgreiche Schulkarriere. Mit der starken Bedeutung der Aneignung kulturellen Kapitals und dem Einmünden in eine gymnasiale Schullaufbahn an einem traditionsreichen „exklusiven“ Gymnasium liegt auf einer ganz grundlegenden Ebene eine stabile Passung vor. Auf dieser Grundlage ist für Rainer vom Typus einer kontinuierlichen, statusreproduktiven Erfolgskarriere auszugehen. Dass Rainer auf dieses Gymnasium eingemündet ist, muss zunächst vor allem als primäres Chancenpotential betrachtet werden. Das wird besonders darüber deutlich, wenn man Rainer hypothetisch auf einer anderen weniger exklusiven und renommierten Schule platziert und die dort auftauchenden Krisenpotentiale vergegenwärtigt. Er ist gewissermaßen in Bezug auf Schule im positiven Gegenhorizont seines individuellen Orientierungsrahmens angekommen und verortet. Die gestiegenen Anforderungen entsprechen seinem hohen Leistungsvermögen. Es gibt in Bezug auf die schulischen Leistungsanforderungen und die Selektionen keine Irritationen oder Fremdheiten. Dennoch liegen für Rainer prognostisch auch Krisenpotentiale vor, die jedoch stärker auf einer sekundären Ebene anzusiedeln sind. Ein erstes deutliches Krisenpotential bezieht sich auf die mit dem über die bisherige Schulkarriere gefestigten Selbstentwurf von Begabung und Exzellenz verbundene Problematik, dass Rainer an diesem Gymnasium mit einer homogeneren und leistungsstärkeren Schülerschaft nicht einfach seinen einzigartigen Status kontinuierlich fortschreiben kann. Die Statusplatzierungen werden neu vorgenommen und der Abstand zu den Anderen ist bisher nicht zu sehen. Insofern gerät sein Selbstentwurf als Aspekt des individuellen Orientierungsrahmens deutlich unter Druck. Die offene Frage ist hier, ob Rainer auch in diesem Kontext an seinen Selbstentwurf der Exzellenz anknüpfen kann oder ob dieser Selbstentwurf transformiert werden muss. Ein zweites ebenfalls sekundäres Krisenpotential bezieht sich ebenfalls auf diesen Selbstentwurf, der ja maßgeblich verhindert, dass Rainer Enaktierungspotentiale für die Bewältigung der gestiegenen schulischen Anforderungen zur Verfügung stehen. Solange Rainer am Entwurf einer naturgegebenen Begabung und Befähigung festhält, beraubt er sich der Möglichkeiten, handlungsaktiv und mit bestimmten Strategien auf seine schulische Situation Einfluss zu nehmen. Insgesamt ist aber eher anzunehmen, dass aufgrund der hohen Passförmigkeit zwischen individuellen Orientierungsrahmen und dem exklusiven Gymnasium sowie den deutlichen Ressourcen in der Familie diese sekundären Krisenpotentiale im Falle ihrer Manifestation erfolgreich bearbeitet würden und Rainer eine weiterhin erfolgreiche Schulkarriere absolviert. Bei Henriette ist vom Verlauf der bisherigen Schulkarriere und dem rekonstruierten individuellen Orientierungsrahmen vom Typus einer deutlich gebremsten, aufstiegsorientierten Schulkarriere auszugehen, die sich jedoch auf einem zurückgefahrenen Leistungsniveau stabil eingerichtet zu haben scheint. In der Bestimmung der Krisen- und Chancenpotentiale ist dabei bei Henriette deutlich zu machen, dass hier die Bereiche Leistungsanforderungen und Peers stark getrennt werden müssen. In Bezug auf die Leistungsanforderungen kann für das exklusive Gymnasium ein Krisenpotential insofern markiert werden, als Henriette mit dem Übergang nicht nahtlos an ihre exzellenten schulischen Leistungen in der Grundschule anschließen kann. Die Verschlechterung ihrer Leistungen um wenigstens eine Note scheint sich auf einem Niveau stabilisiert zu haben, auf dem sie sich arrangieren kann. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass aufgrund des hohen Stellenwertes von Schule und den schulischen Leistungen dieses Zurückbleiben mittel- oder langfristig problematischer erlebt wird. Erst recht wird von den schulischen Leistungsanforderungen ein starkes Krisenpotential ausgehen, wenn sich diese weiter steigern und sich Henriette nicht mehr, wie bisher, von noch schlechteren Mitschülern absetzen kann. Ein für den gegenwärtigen Zeitpunkt noch stärkeres Krisenpotential ist für den Bereich der Peers auszuweisen. Hier macht sich für Henriette bemerkbar, dass die habituelle Differenz und Fremdheit zur Schülerschaft dieses exklusiven Gymnasiums zuvor nicht antizipiert worden ist und sie nun – in der Absicht, den bedrohlichen Habitusformationen der „wilden Jungs“ zu entkommen – wieder unter Fremden angekommen ist. In den Äußerungen im Interview scheint es manchmal so, als würde ein Ethnologe von einer Expedition in eine andere Kultur berichten. Sollte es Henriette also nicht gelingen, den Kontakt und Vertrautheit zu den Mitschülern herzustellen, die sie noch nicht aus der Grundschule kennt, dann droht eine Schulkarriere mit Ausgrenzung und Marginalisierung. Insgesamt kann jedoch der Übergang auch als Chancenpotential gesehen werden, insofern es bislang gelungen ist, sich ohne dramatische Brüche in der fremden Exklusivkultur dieses Gymnasiums in einem labilen Gleichgewicht einzurichten.
Vor dem Hintergrund der statusprogressiven, kontingenten und heteronom gerahmten Schulkarriere und im spannungsvollen Nebeneinander der handlungsschematischen und verlaufskurvenförmigen Erfahrung von Schule, sind für Clemens folgende Chancen- und Krisenpotentiale zu markieren. Angesichts der Aufschichtung von Verschleierung, Verkennung, negativem schulischen Fähigkeitsselbstentwurf und einer fatalistischen, heteronomen Deutung von Schule, sind die Chancenpotentiale bei Clemens allerdings sehr begrenzt. Neben dem Umstand, dass der Besuch dieses exklusiven Gymnasiums und die hohe Anhäufung kulturellen Kapitals auch der Mitschüler bei Clemens Bildungs- und Aneignungsschübe anstoßen können, liegt ein vordergründig festzustellendes Chancenpotential für ihn besonders darin, die bestehenden Verkennungen und die heteronomen Steuerungen seiner Schulkarriere durch die Mutter aufzudecken und sich verfügbar zu machen. Damit könnte es dann gelingen, einen neuen und mit den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten abgestimmten Bezug zu diesem exklusiven Gymnasium herzustellen. Deutlicher sind jedoch die Krisenpotentiale heraus zu stellen. Das zentrale, dominante und primäre Krisenpotential geht von den schulischen Leistungsanforderungen aus. Das trifft bereits auf den Status Quo zu. Erst Recht aber wird Clemens in größere Schwierigkeiten kommen, wenn die schulischen Leistungsanforderungen ansteigen. Dann ist fraglich, ob er mit den Anforderungen des exklusiven Gymnasiums Schritt halten kann oder eventuell auf ein „normales“ Gymnasium oder eine andere Schule „absteigen“ muss. Für ihn selbst läge dabei jedoch nur sekundär ein Abstieg vor (es wäre vor allem ein Abstieg in der Perspektive der Mutter), weil er sich ja schon auf einem „normalen“ Gymnasium wähnte. Mit den schulischen Anforderungen ist ein zweites – jedoch eher sekundäres – Krisenpotential verbunden. Wenn es Clemens gelingt, auf steigende Anforderungen mit steigenden Investitionen zu reagieren, bleibt immer noch das Problem, dass diese Investitionen nicht beliebig auszuweiten sind, sondern durch die eigene Kondition, die Tages- und Nachtzeiten und besonders auch durch die Anforderungen des Chors begrenzt bleiben. Hier deuten sich bereits zum Zeitpunkt des zweiten Interviews Überlastungssymptome an, die sich dann zu einem Zusammenbruch und „burn out“ steigern können. Ein drittes Krisenpotential – das zunächst gegenüber den beiden hier genannten weniger bedeutsam erscheint, jedoch stärker in den Kern des individuellen Orientierungsrahmens hineinreicht – bezieht sich darauf, innerhalb des Gymnasiums die Orientierungssicherheit zurück zu gewinnen, die für die Grundschule bestanden hatte. Hier hängt es vor allem davon ab, ob Clemens mit der Zeit das „komische“ Gefühl des Fremdseins ablegen und z.B. weitere neue Freunde finden kann. Gelingt dies nicht, dann könnten sich dauerhafte Ausschluss- und Abwertungserfahrungen aufschichten, die wiederum nachteilig auf die Erfüllung der schulischen Leistungsanforderungen wirken würden.
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