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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Wie vielfältig Übergänge den Schulalltag strukturieren, soll die Analyse der folgenden Szene zeigen. Im sog. „Pausenausleihprojekt“ geht es um die Ausleihe von Spielgeräten auf dem Schulhof an und durch Kinder. Die Ausleihe ist in einer renovierten, ehemaligen Garage auf dem Schulhof untergebracht. Immer drei Kinder der 3. bzw. 4. Klassen („Ausleihkinder“) halten sich in diesem Raum auf und leihen Spielgeräte an Kinder auf dem Schulhof aus; im wöchentlichen Turnus wechseln die Dreier-Gruppen. Jedes Kind der Schule hat eine Karte, mit der es sich ein Spielgerät ausleihen kann.

Getrennt vom Schulhof wird der Raum mit den Spielgeräten durch eine Tür, in deren Türrahmen auf Hüfthöhe der Kinder eine abnehmbare Kette hängt. Die Einrichtung des Raumes wurde von Erwachsenen übernommen, dazu gehört auch die Einführung der Kette. Diese Kette vor der geöffneten Tür ist ein Markierer für einen räumlichen Übergang. Sie hatte zunächst eine regulierende Funktion, die ihr durch die Institution Schule zugeschrieben wurde. Bei Eröffnung des Projektes wurde die Ausleihe von den Kindern stark nachgefragt; viele Kinder standen während der Hofpause in einer Schlange an, ohne rechtzeitig ein Spielgerät ausleihen zu können. Die Kette sollte den Ausleihprozess routinieren: Bei Erreichen der Kette war die ersehnte Möglichkeit zur Ausleihe gegeben. Während der Beobachtungsphasen gab es eine solche Nachfrage nicht mehr, selten liehen sich Kinder Spielgeräte aus.

Ein Mädchen ruft laut auf den Schulhof: „Hallooo, leiht sich jemand was aus?“ Keine Reaktion von draußen erkennbar. Mit weniger Begeisterung in ihrer Stimme höre ich dann: „Keine Antwort ist auch eine Antwort …“. Die Frage wird häufiger nach draußen gerufen, einmal kommt die Antwort: „Nöö, ich hab nichts dabei.“ Das bezieht sich auf die Kärtchen, die die Kinder zum Ausleihen brauchen.

Die Kinder zeigen unterschiedliche Reaktionen, mit dem mangelnden Interesse an den Spielgeräten umzugehen: In dieser Situation wird mit Ausrufen versucht, auf das Angebot der Ausleihe aufmerksam zu machen. Die Situation wird mit einem witzigen Spruch wieder auf eine „würdige“ Ebene gehoben. Das Mädchen versucht, ihrer Funktion gerecht zu werden, die sie durch die Vergabe des Privilegs „Pausenausleihe“ erhalten hat. Die Funktion, die sie zu realisieren versucht, würde sie in erster Linie in die Rolle der Kontrollierenden und Zuweisenden bringen, die auch mit einer Machtposition verbunden ist (Erst wenn du mir deine Karte gibst, bekommst du ein Spielgerät.). Sie kann diese Rolle nicht einnehmen, da es nicht ausreicht, dieses Privileg von der Schule zu erhalten und in Anspruch zu nehmen, dieses Privileg wird auch von den Mitschüler(inne)n vergeben. Hier kommt sie eher in die Rolle der Fragenden und Bittenden, die sie durch Humor zu gestalten versucht.

Die anderen Kinder reagieren wohlwollend; auch wenn die Bitte abgewiesen wird („Nöö, ich hab nichts dabei.“), erfolgt die Ablehnung sachlich, mit Tatsachen begründet und wahrt den Status, den das Ausleihkind eigentlich innehat. Damit gewinnt die Kette eine neue Funktion: Sie nimmt eine Grenzziehung zwischen drinnen und draußen vor, die von den Kindern als Anlass genutzt werden kann, ihre Positionen innerhalb der Beziehungsstruktur der Kindergruppe auszuhandeln.

Bei der Frage nach der Bedeutsamkeit von Übergängen im Leben eines Kindes wird regelmäßig der Wechsel zwischen den Bildungsinstitutionen thematisiert, allem voran die Einschulung und der Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule. Vielfach unberücksichtigt bleibt die Tatsache, dass der Grundschulalltag selbst durch zahlreiche Übergänge strukturiert ist. So finden sich räumliche Übergänge innerhalb des Schulgebäudes, die z.B. durch Türschwellen markiert werden. Daneben lassen sich zeitliche Übergänge ausmachen, etwa strukturiert die Pausenglocke den Übergang vom Unterricht zur Pause und umgekehrt. Soziale Übergänge sind wahrscheinlich die am häufigsten in der Schule anzutreffenden Umformungen, so verändert sich z.B. mit der Bildung von zwei Fußballmannschaften, die in der Pause auf dem Schulhof miteinander spielen, die soziale Struktur der Kindergruppe (vgl. dazu auch Kelle/Breidenstein 1998).

Bedeutsam sind Übergänge insofern, als dass sie als „Schwellenzustände“ eingeordnet werden können. „Zustände“ zeichnen sich in Anlehnung an Turner (2005/1969, S. 94) durch ihre Stabilität und relative Eindeutigkeit aus. Die „Schwellen“ dazwischen, die Übergänge, sind eher durch Unbestimmtheit und fehlende Zugehörigkeit zu Raum und Personen gekennzeichnet. Übergänge stellen damit besondere Anforderungen an Kinder wie Lehrer(inne)n: Mit dem Überwinden der Türschwelle betreten die schulischen Akteure nicht nur das Klassenzimmer, sondern formieren sich gleichzeitig als Schulklasse (vgl. Breidenstein 1998, 39). Der Pausengong leitet nicht nur eine neue Zeitphase ein, sondern fordert von Kindern und Lehrer(inne)n ein verändertes Verhalten, so wechseln in der Regel die Kinder von der Peer-Identität zur Schüler-Identität bzw. umgekehrt (vgl. auch Wagner-Willi 2005, S. 283ff.).

Übergangssituationen werden häufig als Belastung oder auch als Herausforderung angesehen. Die dargestellte Szene zeigt, dass Übergänge ganz selbstverständlich zum Schulalltag gehören und von den Akteuren ohne größere Schwierigkeiten und routiniert gemeistert werden. Darüber hinaus weist die Szene eine dynamische Entwicklung auf, in der die Kette ihre ursprüngliche Funktion verliert und eine neue als Grenze und Anlass für Interaktionen erhält. Auch die den Kindern ursprünglich zugewiesenen Rollen beeinflussen das Geschehen nur noch am Rande, dafür werden neue Zuschreibungen vorgenommen. Hier zeigt sich, dass Schule nicht nur ein Lern- und Arbeitsort mit pädagogischen Angeboten, sondern auch ein komplexer Lebensraum ist, indem die pädagogischen Angebote oft nicht so genutzt werden, wie von Lehrer(inne)n ursprünglich beabsichtigt.

Literatur

Breidenstein, G.: Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: VS Verlag 2006.

Kelle, H./Breidenstein, G.: Geschlechteralltag in der Schulklasse. Ethnographische Studien zur Gleichaltrigenkultur. Weinheim: Juventa 1998.

Turner, V.: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2005/1969.

Wagner-Willi, M.: Kinder-Rituale zwischen Vorder- und Hinterbühne – Der Übergang von der Pause zum Unterricht. Wiesbaden: VS Verlag 2005.

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