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Falldarstellung

Klasse 5x, 16.03.1999, Übergang Pause -Unterricht (10h23-10h26)

Nachdem Uzman seine Überjacke an der Garderobe abgelegt hat, geht er schnellen Schrittes zurück in Richtung Tür und verläßt den Raum. Etwa eine Minute später betritt er wieder den Türbereich, macht einzelne Schritte auf der Schwelle, den Körper in Richtung Flur gewandt. Als Martina sich ihm vom Klassenraum her nähert und an ihm vorbei hinausgeht, blickt sich Uzman kurz nach hinten um, dann wieder in Richtung Flur und tritt auf den Flur hinaus. Kurze Zeit später kehrt Martina in den Raum zurück, gefolgt von einem nicht zur Klasse gehörenden Jungen, der einen Moment an der Türschwelle verharrt und in den Klassenraum blickt. Dann wendet er sich wieder ab. Uzmans Arm ist im Türbereich erkennbar, wie er in schneller hinausweisender Geste dem Jungen den Weg zum Flur hinauszeigt. Martina verläßt erneut den Raum. Uzman kommt herein; den Blick nach außen gerichtet, schließt er die Tür. Er wendet sich um, geht ein paar Schritte in den Raum hinein und bleibt bei Carlos, der an seinem Tisch sitzt, stehen. Die beiden sprechen miteinander. Die Tür wird von außen geöffnet. Uzman wendet sich sofort um und blickt zur Tür. Martina kommt erneut herein. Die Tür geht hinter ihr allmählich zu. Auf Uzmans Bewegung in Richtung Tür hin wendet sich Martina um, ergreift die Türklinke und zieht die Tür hinter sich zu. Uzman geht zur Tür, öffnet sie, lehnt sich eine Weile nach draußen, schaut auf den Flur, kommt wieder herein, schließt die Tür und geht in Richtung Tafel.

Die Tür wird von außen geöffnet. Ein Junge, der nicht zur Klasse gehört, bleibt an der Schwelle stehen. Eine Hand an der Türklinke, lehnt er sich in den Raum hinein. Eine Stimme ruft: „Raus!“ Uzman, einige Meter entfernt in Richtung Raummitte gehend, wendet sich sogleich zur Tür um, streckt den linken Arm halbhoch vor und ruft: „Raus!“ Der Junge läßt mehrere Sekunden lang einen hohen jaulenden Ton ertönen. Uzman geht auf ihn zu, deutet mehrere Sekunden mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger in Richtung Flur, schüttelt den Kopf (Nein-Signal) und ruft etwas (unverständlich). Erneut johlt der Junge laut, während er sich aus dem Türbereich entfernt. Gleichzeitig springt Ayla vom Flur aus an dem Jungen vorbei über die Türschwelle in den Raum hinein. Sie dreht sich einen Moment um, ruft ihm hinterher „Blöder Ochse!“, wendet sich wieder um und geht weiter. Zur selben Zeit geht Uzman zur Türschwelle und lehnt sich nach draußen, in die Richtung, in die der klassenexterne Junge verschwunden ist.

Interpretation

Wieder sind hier Handlungs- und Interaktionsformen zu erkennen, die die Klassengrenzen fokussieren, nach außen sichern und so konfirmieren. Nur sind sie hier vorrangig einem bestimmten Einzelnen zugeordnet, nämlich Uzman, der auch an anderen Tagen (z.B. 19.03.1999, 10h25) in dieser Form aktiv ist. Uzman bewegt sich immer wieder im Bereich der Türschwelle, geht mehrmals hinein und hinaus und hantiert insgesamt viel mit der Tür. Er schließt die Tür von innen, ohne dass ein Lehrer im Raum ist. Schon das kann als Sicherung der Klassengrenze interpretiert werden. Auch seine anderen Interaktionen sprechen für diese Deutung.
Als Martina hereinkommt und die Tür nicht selbst hinter sich zuzieht, bewegt sich Uzman sofort in Richtung Tür, worauf Martina diese umgehend hinter sich schließt. Als Uzman unmittelbar darauf selbst die Tür öffnet, tut er dies nur partiell, schaut durch einen Spalt hinaus wie der Torwächter einer mittelalterlichen Burg, bewegt sich über der Schwelle hin und her, als könne er sie sich dadurch körperlich aneignen, und schließt wenig später erneut die Tür. Sein wiederholtes Schließen der Tür, gekoppelt mit seiner Hin- und Her-Bewegung auf der Türschwelle, macht aus der Funktion des Schließens einen rituellen Akt.
In der Auseinandersetzung zwischen Uzman und dem klassenexternen Jungen findet die rituelle Konfirmation der Klassengemeinschaftsgrenze einen dramaturgischen Höhepunkt, der dem Szenario aus dem Material zur Klasse 4y ähnelt. Auch ist hier deutlich zu erkennen, dass Uzman nun, wo es um die Sicherung der Klassengemeinschaftsgrenze gegenüber einem bestimmten, nicht zur Klasse gehörenden Schüler geht, nicht alleine steht. Ähnlich wie im Beispiel aus der Klasse 4y greifen die Interaktionen der Klassenmitglieder gegenüber dem Externen ohne Absprache ineinander, als handele es sich um ein kollektiv habitualisiertes und prompt aktualisierbares Interaktionsmuster. Ähnlich wie Andre im ersten Beispiel ruft hier ein Schüler der Klasse „Raus!“. Ähnlich wie Paul im ersten Beispiel greift hier ein anderer Schüler der Klasse – nicht zufällig eben Uzman, der Türwächter – den Ruf auf und setzt ihn in gestisch feindlich erscheinende Annäherung an den Eindringling um. Partizipiert das im ersten Beispiel beteiligte Mädchen, Cennet, nur inaktiv, so nimmt das hier beteiligte Mädchen, Ayla, mit dem an den Klassenexternen gerichteten Ruf „Blöder Ochse!“ aktiv an der Vertreibung des Eindringlings teil.
In diesen gemeinsam vollzogenen Ritualisierungen der Ausgrenzung wird zum einen allen Anwesenden signalisiert, wer schuloffiziell zu diesem Raum gehört und dass dieses Territorium einer spezifischen Zugangsberechtigung bedarf. Zum anderen stabilisiert die Konfirmation der gemeinschaftlichen Grenze und der mimetisch ineinandergreifende Vollzug der Ausgrenzung die Klassengemeinschaft und deren kollektiven Habitus. Notwendiger Bestandteil beider Vertreibungsszenen ist der Auftritt des Fremden bzw. der Auftritt eines Akteurs, dem Fremdheit zugeschrieben werden kann. Erdheim hat aus ethnopsychoanalytischer Sicht darauf hingewiesen, welch hervorragende Rolle das Fremde in der Dynamik zwischen Familie und Kultur spielt, sei es als Verlockung, die zur Veränderung eigener familiärer und später allgemeiner kultureller Verhältnisse anregt, oder als Gefahr, die zur Konfirmierung bestehender Verhältnisse nötigt. Um seinen Hinweis für das Feld schulischer Wirklichkeit zu nutzen, müssen zumindest zwei weitere seiner Argumente einbezogen werden: dass Institutionen dahin tendieren, die Struktur der Familie wiederherzustellen, und, dass es in der Latenz- und Pubertätszeit darum geht, sich der Kultur zuzuwenden, als deren Formbeispiele er ausdrücklich sowohl Schule als auch Jugendgruppen angibt (Erdheim 1988). Aus dieser Sicht werden sowohl die Schule als auch die Peergroup als kulturelle Einrichtungen erkennbar, die den Kindern einen Aufbruch in eine neue nichtfamiliäre Welt ermöglichen und zugleich selbst wieder familiäre Strukturen herstellen und anbieten. Beide Kulturformen sind Orientierungsangebote, die sich nicht ausschließen müssen, in der alltäglichen Schulwirklichkeit jedoch häufig nicht übereinstimmen. Dementsprechend unterscheiden sich die betreffenden ritualisierten Interaktionen von Kindern einer Schulklasse hinsichtlich der Frage, ob und inwiefern einem klassenexternen Kind Fremdheit zugeschrieben wird. Im bisher vorgelegten empirischen Material geht es um ritualisierte Grenzregelungen, in denen die Orientierung an der schulisch-institutionell vorgegebenen Klassenmitgliedschaft überwiegt. Klassenexterne Kinder erscheinen hier als bedrohliche Fremde, die kollektive Abwehrmuster auslösen. Im folgenden Abschnitt geht es dagegen um Interaktionen im Türbereich, in denen Klassenexterne nicht als Fremde erscheinen oder ihre Fremdheit als Verlockung aufgegriffen wird.

Fußnoten:

(1) Vergleiche hier und bei den folgenden empirischen Beispielen die entsprechende Sitzordnungsgrafik der Klasse 5x ((1. Version) und (2. Version)) sowie der Klassen (4y) und (5y) (…).

Literaturangabe:

Erdheim, Mario: Die Repräsentanz des Fremden. In: Ders.: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur. Frankfurt/M. 1988, S. 237-251

Sitzanordnungen:

Mit freundlicher Genehmigung des VS-Verlages
http://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-322-91361-6_4 

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