Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

Klasse 4y, 25.03.1999, Übergang Pause – Unterricht (10h27-10h28)

Ein nicht zur Klasse gehörender Junge, Yussif aus der 5x, betritt den Raum. Er trägt mit beiden Händen zwei große Besen überkreuzt vor sich, etwa einen Meter über dem Boden. Er steuert geradewegs auf Frau Kasek, die im Tafelbereich stehende Lehrerin zu, geht den Mittelgang entlang nach vorne, vorbei an Sören, Andre, Canel und Martin, der am Overhead-Projektor im Mittelgang steht und Yussif zum Vorbeigehen Platz macht. Frau Kasek wendet sich Yussif zu und nimmt ihm einen der Besen mit dem Kommentar „schön“ ab. … Martin beobachtet Yussif und die Besenübergabe. Samuel tritt (von vorne) an den Beistelltisch am Lehrerpult heran und hebt eine Dose aus einem Kasten kurz hoch, blickt zu Yussif und den Besen und bleibt einen Moment stehen. Sybille steht vor ihm und beobachtet die Besenübergabe. … Yussif nimmt den Besen der Klasse 5x in die Hand, drückt den Stift in die ihm offen hingehaltene Hand von Frau Kasek und geht. Er trägt den Besen etwa einen halben Meter über dem Boden davon, in schnellem Schritt, den Mittelgang entlang, biegt nach links zur Tür und verläßt den Raum. Birgiel blickt, den Kopf umwendend, Yussifs Gang durch den Raum nach.

Interpretation

Hier trägt der nicht zur Klasse gehörende Junge die Legitimation seines Eintritts und damit des Überschreitens der Türschwelle gegenständlich vor sich her: die Besen. Dieses Vor-Sich-Hertragen eines auf den ersten Blick als schulorganisatorisch funktional und institutionell legitimiert erkennbaren Geräts kann als stille Botschaft gelesen werden. Das gilt übrigens auch für das im anderen Beispiel erwähnte Kleidung-Vor-Sich-Hertragen Andres. In nicht-kommunikativen Situationen würden die Kleidung und hier die Besen wohl eher neben dem Körper getragen, entweder in der Hand am Ende eines herunterhängenden Arms oder unter dem Arm eingeklemmt. Das Vor-Sich-Hertragen nutzt den Gegenstand nicht nur zum Freibahnen des Weges und als Schutz vor möglichen Aggressionen, sondern führt ihn vor. Es macht ihn zum Requisit ritualisierter Interaktion, in der sein Träger eine Art Prozession aufführt. Der Besen wird von einem funktionalen Ding zu einem Symbol schulisch-institutioneller Ordnung und verleiht seinem Träger entsprechende Macht. Dass die Transformation von Funktionalem in Symbolisches über eine körperliche Aufführung (Besentragen) geschieht, spricht für die hohe, gegenüber der Verbalsprache lange unterschätzte, soziale Wirksamkeit von Performance.
Ob es nun allein die vorgezeigten Besen sind, die hier den Zutritt legitimieren, oder ob Yussif die Türschwelle der Klasse 4y auch deshalb ungehindert überschreiten kann, weil er zur Klasse 5x gehört und die Lehrer beider Klassen eng kooperieren und diese Klassen mehr miteinander zu tun haben als andere Klassen, ist nicht mit Gewissheit zu sagen. Für ersteres spricht allerdings das weitere Procedere, die Eindeutigkeit von Yussifs Weg (von der Tür auf kürzestem Weg zur Lehrerin und wieder zurück) und die funktionale Eindeutigkeit seines Aufenthalts im Raum (beide Besen zur Lehrerin tragen, ihr einen Besen übergeben, die Besen beschriften, mit einem Besen zurück zur Tür gehen und den Raum verlassen).
Die Tür wandelt sich rückblickend von einer Schwelle bzw. einem Übergang zu einem Durchgang. Das Beispiel zeigt, dass Ein- und Austritt nicht zur Klasse gehörender Schüler ein eng zusammengehörendes und (im Vergleich zu Ein- und Austritten von Klassenmitgliedern im Übergang zwischen Pause und Unterricht) niedrig komplexes, leicht lesbares Interaktionsmuster bilden. Unzögerlicher Eintritt, vor dem Körper getragenes Signal, eindeutige Gehrichtung, Beschränkung der Aufenthaltsdauer auf funktionale Notwendigkeit, direkter Rückweg zur Tür und unzögerlicher Austritt bilden ein ritualisiertes Ganzes.

Mit freundlicher Genehmigung des VS-Verlages
http://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-322-91361-6_4 

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