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Falldarstellung

Der Umgang der Lehrer mit der Klassenzimmertür und dem Türbereich äh­nelt im ersten Moment keineswegs dem eingangs als erstes skizzierten Ver­haltensmuster eintretender Klassenmitglieder, sondern eher dem schulopposi­tionaler Peers oder klassenexterner Schüler. Den Beobachtungen zufolge gehen die Lehrer nämlich keineswegs zügig durch die Tür hindurch direkt zu ihrem Sitzplatz, sondern verharren zunächst auf der Schwelle. Die nähere Betrachtung des gesamten Procedere verschiedener Lehrereintritte legt zwei Deutungsvarianten nahe. Der Türeintritt wird entweder als Ordnungsritual oder als Kontaktritual gestaltet, wobei in beiden Fällen eine Unterrichtsge­meinschaft mit den anwesenden Schülern angebahnt und reinitiiert wird.

Es folgt zunächst ein als Ordnungsritual gestalteter Lehrereintritt:

Klasse 5x, 16.03. 1999, Übergang Pause – Unterricht (10h26-10h27)

Jemand ruft „Herr Maier ist da“. Uzman kommt in den Raum und geht in Richtung seines Tisches, ruft „Herr Maier“, nimmt seine Arme halb hoch und bewegt sie einige Male swingend hin und her, während er weitergeht. Durch die Tür folgt ihm mit eiligem Schritt Medine, dann Ömer, der an der Tafel vorbei hinter das Lehrerpult rennt. Medine geht zügig an der rechten Wand in Richtung ihres Sitzplatzes weiter und ruft lachend „Herr Maier“, wobei sie ihre Arme kurz hin und her bewegt. Nach Ömer kommt Hatice herein und durchquert den Raum. Herr Maier kommt herein, verweilt einen Augenblick auf der Tür­schwelle, blickt geradeaus nach vorne und schließt die Tür. Er hat Blätter in der linken Hand. Verhältnismäßig langsam geht er zum Lehrerpult. Aus dem Raum hinter dem Pult kommen zügig zunächst Ömer und David, dann weniger geschwind Yussif und lächelnd Tacim hervor und gehen zu ihren Sitzplätzen. Am Pult angekommen, wendet Herr Maier den Kopf nach links und überblickt den Raum. Fast alle Kinder haben ihre Plätze einge­nommen bzw. sind dabei, sich zu setzen. Einige rücken den Stuhl zurecht oder beugen sich unter den Tisch und holen ein Heft o.ä. hervor. Herr Maier nimmt ein großes Geodreieck vom Pult, geht mit diesem in der Hand an der Tafel vorbei, hängt es zwischen Tafel und Schrank an die Wand und geht zurück zum Pult.

Interpretation

In diesem Beispiel kultiviert der Lehrer die Verzögerung. Drei Verhaltensse­quenzen zeigen dies an: Zunächst verweilt er auf der Türschwelle. Dann geht er langsam zum Pult. Schließlich geht er einmal den Raum vor der Tafel der Breite nach auf und ab, als er das Geodreieck aufhängt. Seine Kultivierung der Verzögerung mag eine Reaktion darauf sein, daß mehrere Schüler den Klassenraum erst unmittelbar vor ihm betreten. Deren Verhalten wiederum mag mit dem späten Erscheinen des Lehrers (offizieller Unterrichtsbeginn: 10h25) oder mit der, oben festgestellten, stark ausgeprägten Peergroup-­Orientierung von Schülern dieser Klasse zusammenhängen.

Jedenfalls wirkt die betonte Langsamkeit des Lehrereintritts und seine Aufführung des Ordnung-Schaffens als rituelle Sequenz, in welche die Schü­ler mit einem selbstverständlich ablaufenden, offenbar vertrauten Muster einstimmen, indem sie nämlich die ihnen schulorganisatorisch zugewiesenen Plätze einnehmen, ihren Arbeitsplatz für den Unterricht einrichten und so die Ordnung einer Unterrichtsgemeinschaft herstellen.

Daß dem Lehrer an solcher Ordnung gelegen ist, läßt sich an zwei Passa­gen des rituellen Ablaufs erkennen. Zum einen an dem Blick, den er nach Erreichen des Pults auf die gesamte Klasse wirft. Er erscheint als Kontrolle, ob das Ritual wirksam ist, ob also die Schüler seine beiden ersten Verzöge­rungen (Verharren auf der Türschwelle; langsames Zum-Pult-Gehen) in ih­rem Verhalten angemessen, nämlich sitzplatzaufsuchend und unterrichtsvor­bereitend, aufgreifen. Zum anderen zeigt sich die Ordnungsorientierung des Lehrers an der abschließenden, den offiziellen Unterrichtsanfang hinauszö­gernden Aktivität, daran, daß er das Geodreieck an seinen „richtigen“ Platz hängt.

Im Vergleich zu dem erörterten Lehrereintritt in Klasse 5x findet in dem folgenden Eintritt der Lehrerin in Klasse 4y zwar ebenfalls die Anbahnung bzw. Reinitiierung einer Unterrichtsgemeinschaft statt, allerdings weniger durch ein an der Ordnung der gesamten Klasse orientiertes als durch ein an der Herstellung dyadischer Beziehungen orientiertes Ritual:

Literaturangabe:

Jennings, Theodore W. Jr.: Rituelles Wissen. In: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (hrsg.): Ritualtheorien. Opladen/Wiesbaden 1989, S. 157-172

Mit freundlicher Genehmigung des VS-Verlages
http://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-322-91361-6_4 

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