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Falldarstellung

Klasse 4y, 15.03.1999, Übergang Pause – Unterricht (10h25-10h26)

Frau Kasek erscheint auf dem Flur außerhalb des Klassenraums. Cennet geht zwischen den auf der Türschwelle stehenden Paul und Andre hindurch in Richtung ihres Sitzplatzes. Andre weicht dabei in den Klassenraum zurück. Die Lehrerin betritt die Türschwelle und zieht die Tür langsam hinter sich zu. Paul schiebt sich zeitgleich weiter nach draußen. Frau Kasek dreht sich um, bewegt sich zurück in den Flur und öffnet die Tür dabei wieder. Andre geht hinter ihr aus dem Klassenraum hinaus. Birgiel geht zur Tür und erreicht sie in dem Augenblick, in dem Paul und Andre und kurz darauf Frau Kasek wieder im Türdurch­gang erscheinen. Für einen Moment stehen Frau Kasek, die die Tür hinter sich schließt, sowie Andre, Paul und Birgiel zugleich im Türdurchgang. Birgiel wendet sich um und geht rasch zu ihrem Sitzplatz. Andre geht langsam zu seinem Sitzplatz. Paul stellt sich vor die im Türrahmen stehende Lehrerin, sagt in erregtem Ton etwas zu ihr, worauf sie ruhig antwortet. Paul geht zu seinem Platz, nimmt dort eine Flasche, trinkt stehend etwas und schaut auf Frau Kasek, die einen Schritt weiter in den Raum hineingeht und so vor der nun geschlossenen Tür steht, als weitere Kinder auf sie zukommen. Als Paul Frau Kasek ver­läßt, geht Martin von seinem Platz zu Frau Kasek. Zeitgleich geht Canel von seinem Sitz­platz aus ebenfalls auf Frau Kasek zu, erreicht diese vor Martin, nimmt einen Lolli aus dem Mund, zeigt ihn ihr und spricht mit ihr. Frau Kasek neigt den Kopf leicht nach links und zuckt mit den Achseln. Canel ist mit ihrer Antwort offenbar zufrieden, steckt den Lolli wieder in den Mund und geht zurück. Anschließend spricht Martin kurz mit Frau Kasek, geht dann zu seinem Platz zurück und setzt sich hin.

Interpretation

Dieses Geschehen schließt sich unmittelbar an den weiter oben (3.1.1, erstes Beispiel) vorgestellten Ausschnitt an. Zumindest Pauls und Andres, evtl. auch Cennets Präsenz im äußeren Türbereich hängen also noch mit der zuvor erfolgten gemeinsamen Vertreibung eines klassenexternen Jungen von der Türschwelle zusammen. So gestaltet sich der Eintritt der Lehrerin hier zu­nächst als ein sich hin- und herschiebendes dichtes Geknäuel. Ob damit be­reits eine Gemeinschaft der Lehrerin mit den Schülern ihrer Klasse entsteht, läßt sich nicht eindeutig entscheiden. Daß Cennet den Türbereich in Richtung ihres Sitzplatzes verläßt, spricht eher dafür, daß auch hier, zumindest eben aus Cennets stiller Wahrnehmung, mit dem Auftritt der Lehrerin auf der Türschwelle ein Impuls zu einer unterrichtsspezifischen Ordnung gegeben ist. Pauls Verhalten und Frau Kaseks anschließendes Verhalten im Türbe­reich spricht dagegen eher für die Entstehung eines Lehrer-Schüler-Bünd­nisses, einer Gemeinschaft derer im Klassenzimmer gegen die draußen. Denn Paul sieht sich durch die Anwesenheit der Lehrerin offenbar eher in der Ver­treibung des Klassenexternen und der Sicherung der Klassengrenzen unter­stützt, geht jedenfalls nicht ins Klassenzimmer hinein zu seinem Platz, son­dern bewegt sich in Richtung Flur. Frau Kasek ihrerseits reagiert darauf nicht mit einer Ermahnung oder einem nonverbalen Hereinziehen Pauls, sondern wendet sich im Gegenteil selbst wieder dem Flur zu, schiebt die Tür wieder auf und geht sogar soweit hinaus in den Flur, daß Andre hinter ihr ebenfalls die Türschwelle in Richtung Flur übertreten kann. Birgiels darauffolgende Türannäherung läßt sich so deuten, daß diese gemeinsame Hinausbewegung von Lehrerin und mehreren Schülern eine Sogwirkung auf andere Klassen­mitglieder ausübt. Als körperliche Aufführung entfaltet die gemeinsame Hinausbewegung von Lehrerin und zweier Kinder eine solche performative Kraft, daß sie sich in mimetischen Bewegungen anderer Kinder wiederholt und fortsetzt. Scheint in der anfänglichen gemeinsamen Bewegung Paul zu dominieren, so hat in der unmittelbar folgenden, immer noch ensemblearti­gen Szene Frau Kasek das Primat. Sie ist es, die die Tür hinter sich und den zugleich auf der Türschwelle stehenden drei Kindern schließt.

Während Birgiel und Andre nun das schon bei Cennet und in der Klasse 5x beobachtete Muster entfalten, nämlich auf das Türschließen eines Lehrers hin den eigenen Sitzplatz aufzusuchen, stellt sich Paul vor die Lehrerin und

hindert sie so, möglicherweise unter Verweis auf die vorherige Störung der Klassengrenze durch den klassenexternen Jungen, die Türschwelle in Rich­tung des Lehrerpults zu verlassen.

Erscheint die Eintrittsverzögerung beim Lehrer in der Klasse 5x als des­sen autonomer Akt, der auf das Zusammenspiel mit der Herstellung der Un­terrichtsordnung durch die Schüler zielt, so erscheint die Eintrittsverzögerung

bei der Lehrerin in der Klasse 4y selbst schon als ein Zusammenspiel mit den Schülern, zunächst im Ensemble und nun, hier initiiert durch Paul, an ande­ren Tagen durch andere Schüler der Klasse, in Dyaden. Auf das Gespräch mit Paul folgt, nur einen Schritt weiter, die Zweierkommunikation mit Canel und schließlich die mit Martin. Was andere Lehrer der Beobachtung nach vor­zugsweise am Pult ermöglichen, nämlich das Herantreten einzelner Schüler an den Lehrer und die Aufnahme dyadischen Kontakts, ist in dieser Klasse und bei dieser Lehrerin Teil des Eintrittsrituals. Es verleiht dem Türraum bei geschlossener Tür und der aus Sicht der Schüler davor stehenden Lehrerin den Charakter einer durch Betonung der Vertikale und Reduzierung der kommunikativen Vielfalt besonders strukturierten Nische, in der durch per­sönliche Zwiesprache Fürbitte geleistet und Wünsche geäußert werden kön­nen. Während dies in einer Kirche allerdings vor einem Madonnen- bzw. Heiligenbild im Dunkel einer kleinen Seitenkapelle oder gar im Beichtstuhl geschehen würde, ist es im Klassenraum eine für alle Kinder sichtbare Auf­führung, zu der auch die jeweilige Antwort der Lehrerin gehört.

Gleich ob die Eintrittsgestaltung des Lehrers bzw. der Lehrerin vorrangig als autonomer Akt oder als Zusammenspiel mit den Schülern erscheint, in beiden Fällen und Eintrittsformen zeigt das Lehrerhandeln ein „rituelles Wis­sen“ (Jennings 1998), in das sich Schülerhandeln mimetisch einstimmen kann. Im Insgesamt dieser Eintrittsperformance, der je spezifischen Form des Lehrereintritts und dem – diese als rituelles Wissen aufgreifenden – Ein­stimmen der Schülerhandlungen, bildet sich eine spezifische Unterrichtsge­meinschaft.

Literaturangabe:

Jennings, Theodore W. Jr.: Rituelles Wissen. In: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (hrsg.): Ritualtheorien. Opladen/Wiesbaden 1989, S. 157-172

Mit freundlicher Genehmigung des VS-Verlages
http://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-322-91361-6_4 

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