Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Dienstag, 13.11.200J (9:15 Uhr), am Gruppentisch bei Ali, Dennis, Erol und Manu­el; ich sitze zwischen Erol und Manuel[1]:

Frau M. fängt mit dem Diktieren an, wobei sie die Wörter dehnend ausspricht: „Al­so noch mal. Das erste Wort heißt /booo…t/“.

Erol beginnt sofort mit dem Lautieren des Wortes, “/booo…booo/“ und schreibt schnell ein <B> auf.

„ /Booo… booo… booo/ wiederholt Ali und fragt: „ Wie geht ein <bo>, Manuel? “ Manuel, der in der Regel auf Alis Fragen reagiert, gibt diesmal keine Antwort. Er scheint konzentriert zu sein und ist gerade dabei ein <t> zu schreiben.

Frau M. diktiert inzwischen das nächste Wort: „Das zweite Bild haben wir gesagt, zeigt einen /sss… aaa… um… mmm/“.

Manuel lautiert das Wort sehr leise: ,,/ssss… aaa…/, ein /s/und dann ein /a/, ja!“ stellt er fest. Er schreibt zügig weiter, ohne dabei auf seine auf dem Tisch liegende Anlauttabelle zu schauen.

Dennis hat schon <Bo> für das Wort Boot‘ aufgeschrieben und nimmt sich schnell Manuels Anlauttabelle: „Ich brauche ein /t/, wo ist hier ein /t/?“ fragt er. Auch auf diese Frage wird keine Antwort gegeben.

Erol, der inzwischen auch <Bo> aufgeschrieben hat, sucht jetzt zusammen mit Den­nis in der Anlauttabelle. Während die beiden noch nach dem /t/suchen, schreibt Ali das komplette Wort (Bot) von Manuel ab.

Kurz darauf gibt Erol die Suche auf und schreibt das <t> von Manuel ab, er sitzt ihm gegenüber. Dennis, der gegenüber von Ali sitzt, schreibt nun das <t> von ihm ab.

Erol lautiert jetzt das Wort Saum‘: „/sss, sss… aaa…, sss/, ein /sss…/, oder?“ Auf seine Frage reagiert niemand. Er beginnt das Wort von Manuel abzuschreiben, der inzwischen, dem Rhythmus des Diktierens folgend, mit dem Lautieren und Schreiben des dritten Wortes (‚Rosine‘) beschäftigt ist. Erol schreibt <SDum> für ‚Saum ‚hin, da Manuels kleines <a>, aus seiner Perspektive betrachtet, wie ein großes <D> aussieht. Erol schreibt weiter Wort für Wort ab. Auch bei ‚Leiter‘ und ‚Mauer‘ taucht bei seinen Schreibungen ein <D> auf (LDitD – MDuwD), und zwar genau dort, wo Manuel ein <a> aufschreibt (<Laita>, <Mauwa>).

Das geht die ganze Zeit so weiter: Frau M. diktiert, Manuel lautiert und schreibt auf, Erol und Ali schreiben von ihm ab, während Dennis von Ali abschreibt.

Ali steht zwischendurch auf um das Blatt von Manuel näher betrachten zu können. Beim Wort ‚billig‘ hat Manuel <Belich> geschrieben und Ali möchte gerne wissen, ob er den Buchstaben <e> richtig erkannt hat. Er fragt nach: „ Was ist das denn Manuel, ein /e/? “ Manuel nickt und schreibt weiter. Beim Wort ‚Schimmel‘, hat Manuel <Semel> geschrieben und Ali fragt wieder nach, da er den letzten Buchsta­ben nicht erkennen kann. Auf die Antwort von Manuel, das sei ein /el/, schreibt Ali ein <L> nicht an der richtigen Stelle hin, sondern ergänzt das beim Wort „billig“ (<Belich L>), das eigentlich bereits fertig sein sollte.

Beim Wort ‚Strumpf hat Manuel anscheinend Schwierigkeiten, er radiert und fangt zweimal von vorne an, so dass die anderen Jungen Zeit gewinnen. Doch nur Erol schafft es alle Wörter komplett abzuschreiben, Ali schreibt die letzten beiden Wörter nur ansatzweise ab. Dennis, der die ganze Zeit von Ali abschreibt, merkt das, bevor Manuel aufsteht, um sein Blatt abzugeben, und radiert jetzt das unvollständige Wort (<Lokom>) weg. Er malt für dieses und auch für das letzte Wort ein Sternchen (*) hin.

Erol, Ali und Dennis stehen fast gleichzeitig auf, um ihre Blätter abzugeben, und sind somit zusammen mit Manuel die Ersten, die mit der Aufgabe fertig sind. Alle anderen Kinder arbeiten noch weiter.

In der oben dargestellten Unterrichtszene hat ein Ko-Konstruktionsprozess (vgl. Speck-Hamdan 1998, 102f.) zur Bewältigung einer schulischen Leistungssituation stattgefunden. Die Konstruktionsleistung der Kinder können wir aber nicht „würdi­gen“, wenn wir uns nur auf die tatsächliche Leistung, auf die angeblichen Leistungs­ergebnisse – gemessen an der Intention der Lehrerin, an den Anforderungen der sachbezogenen Diagnostik und des konkreten Tests – beziehen würden. Wenn wir die Bedingungen einer Testdurchführung im Unterrichtsalltag, beispielsweise mittels teilnehmender Beobachtung und Feldstudien, rekonstruieren und bei unseren Deu­tungen berücksichtigen, können wir einerseits die Perspektive der Lehrenden und andererseits die Perspektive der Lernenden, hier die Perspektive der beteiligten Schulanfänger, die zum ersten Mal mit einer Testsituation im Unterricht konfrontiert wurden, verstehen:

Nach den Hinweisen zur Testdurchführung, und da Schulanfängerlnnnen aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen mit Schrift und Schriftlichkeit auch unterschiedlich viel Zeit fürs Schreiben ungeübter Wörter benötigen, sollten zunächst die einzelnen Bilder bzw. Wörter erläutert werden und im Anschluss daran sollte genug Zeit für die Bewältigung der Aufgabe zur Verfügung gestellt werden. Hingegen hat das Diktieren der einzelnen Wörter durch die Lehrerin, Manuels Orientierung an dem Diktierrhythmus der Lehrerin sowie die Orientierung der anderen Jungen an Manu­els Schreibrhythmus insgesamt den im Protokoll beschriebenen Zeitdruck erzeugt. Dieser hat wiederum nicht nur – wie von der Lehrerin erwartet – „Schreibstrategien“ (bei Manuel), sondern auch „Abschreibstrategien“ (bei Ali, Dennis und Erol) her­vorgerufen, letztere wurden auch von anderen Schülerinnen und Schülern dieser Anfangsklasse sowohl in der hier diskutierten Testsituation als auch in weiteren Leistungssituationen konsequent eingesetzt. Und dennoch: In der oben dokumentier­ten Testsituation bringen alle drei Jungen – durch ihre Lautierungsversuche oder durch ihre Suche nach dem passenden Buchstaben („ ich brauche ein /t/, wo ist hier ein /t/?‚) in der Anlauttabelle, die sie nach den Anweisungen ihrer Lehrerin benut­zen durften – deutlich zum Ausdruck, dass sie sehr wohl in der Lage wären, mit dieser Leistungsaufgabe umzugehen, wenn sie dafür die Zeit bekommen hätten.

Die hier beschriebene Testsituation im Unterrichtsalltag deutet ebenfalls daraufhin, dass nicht der Test an sich oder die Tatsache, dass die Lehrerin sich für seinen Ein­satz entschieden hat, sondern die Bedingungen seiner Durchführung den im Unter­richt wirksamen Diagnose- und Leistungsbegriff deutlich werden lassen. Anders ausgedrückt: Dass die Lehrerin sich nicht an den Anweisungen für eine „korrekte“ Testdurchführung orientiert bzw. gehalten hat, hat einen Leistungsdruck bei den Kindern erzeugt, der in dieser Anfangsklasse auch außerhalb von Testsituationen, wie die oben beschriebene, beobachtbar war[2].

Dies verdeutlicht aber zugleich folgende Problematik: In der Unterrichtspraxis kön­nen Testinstrumente – auch unabhängig von ihrer ursprünglichen Konzeption – umgedeutet bzw. an die jeweiligen Unterrichtsbedingungen angepasst werden, so dass sie die bereits existierende Lern- und Leistungskultur der jeweiligen Schulklas­se bedienen können, ohne diese hinterfragen zu müssen.

Durch die Einbeziehung der Perspektive der getesteten Schülerinnen und Schüler innerhalb von alltäglichen Leistungs- und Diagnosesituationen lässt sich aber über diese Problematik reflektieren. Dafür ist allerdings auch eine Umdeutung der Lernbeobachtung, so wie diese in Grundschulklassen, aber auch in grundschulbezogenen Forschungsarbeiten praktiziert wird, von Bedeutung. Sowohl in der Praxis als auch in der Forschung werden also punktuelle Lernstandserhebungen wiederholt und kontinuierlich eingesetzt, die jedoch nicht die Bedingungen, unter denen diese Leis­tungen gefordert werden und entstehen sollen, erfassen. Man könnte paradoxerweise feststellen, dass es sich hierbei um eine Lernbeobachtung ohne Kontext bzw. ohne Beobachtung handelt. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: „Erol hat mich positiv überrascht“, teilte mir die Lehrerin nach der Auswertung dieser Lernstandserhebung mit, „ihn konnte ich bisher überhaupt nicht einschätzen“.

Fußnoten:

[1] Die Namen der Jungen wurden pseudonymisiert.

[2] Der Protokollausschnitt stammt aus der bereits erwähnten Feldstudie, in der über zwei Schuljahre hinweg diverse Lern- und Leistungssituationen erfasst und analysiert werden konnten.

Quellenangabe:

Speck-Hamdan, Angelika (1998): Individuelle Zugänge zur Schrift. Schriftspracherwerb aus konstruktivistischer Sicht. In: Huber, Ludowika / Kegel, Gerd / Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Einblicke in den Schriftspracherwerb. Braunschweig: Wester­mann, S. 101-109.

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.
http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=1307
 

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