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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

In Rheinland-Pfalz sollen „Möglichkeiten des Übens und Verwendens der deutschen Sprache [..] Bestandteil der alltäglichen Sprachförderung“ (MBFJ 2004a, S. 41) in der Kindertagesstätte sein, doch das „Landesprogramm Sprachförderung und Maß­nahmen des Übergangs zur Grundschule“ sieht ausdrücklich für Kinder mit beson­derem Förderbedarf in der deutschen Sprache ein isoliertes Sprachförderprogramm durch externe Fachkräfte vor (vgl. Landesprogramm o.J“ S. 7). Regelkräfte der Einrichtung dürfen die gezielte Sprachförderung nur durchführen, wenn dies außer­halb ihrer regulären Arbeitszeit geschieht (vgl. ebd.).

Entsprechend ist auch die Deutsch als Zweitsprache (DaZ)-Förderung in der hier vorgestellten Kindertagesstätte konzipiert: Zweimal die Woche kommt eine Pädago­gin (Frau A.), die jeweils ca. 45 Minuten lang zwei Kleingruppen ä 5 Kindern mit Migrationshintergrund in einem separaten Raum mit einem speziellen Förderprogramm unterrichtet, während im Gruppenraum nebenan Gruppenaktivitäten, Frühstück oder Freispiel weitergehen. Durch diese Separation ist die Sprachförderung zum einen attraktiv für die Kinder, die nicht an dieser Maßnahme teilnehmen, weil sie so abgeschlossen‘ etwas ,Besonderes‘ hat. Oft bitten Kinder die Sprachförder­kraft Frau A. auch „mitkommen“ zu dürfen. Manchmal haben sie Erfolg:

[…] Als ich ins Büro komme, in dem die DaZ-Förderung stattfindet, sitzen die Kinder schon um den Tisch. Frau A. ist noch im Gruppenraum. Ich frage Reyhan [1], warum sie heute hier sei. „Weil ich Frau …“, Reyhan stockt. Miriam hilft ihr: „Frau A..“ „Frau A. gefragt habe, ob ich mitkommen darf‘, setzt Reyhan ihren Satz fort. „Und die hat ja ge­sagt“, lächelt sie. [2] […]

Sind an einem Tag nicht alle Sprachförderkinder da und es bietet sich didaktisch an, dass eine größere Gruppe an der Sprachförderstunde teilnimmt, erlaubt Frau A. es Kindern, die sie darum bitten, an der Förderstunde teilzunehmen. Dabei achtet sie darauf, dass jedes Kind, das möchte, mal zum Zuge kommt. Nach eigenem Bekun­den ist Frau A. der Meinung, dass alle Kinder ein Recht auf Förderung hätten. So kommt es, das Reyhan an diesem Tag mit im Sprachförderraum ist. Sie scheint zufrieden mit sich zu sein, dass sie Frau A. gefragt und auch die Erlaubnis erhalten hat, denn sie lächelt freudig, was bei Reyhan eher selten der Fall ist.

Im Gegensatz zur erbetenen, freiwilligen Teilnahme werden Kinder, die regelmäßig Deutsch als Zweitsprachförderung erhalten, immer wieder aus ihren Aktivitäten und Interaktionen im Gruppenraum herausgerissen:

[…] Kevser sitzt am Spieletisch und puzzelt ein Puzzle mit sehr vielen Teilen. Als Frau A. Kevser zur Sprachförderung ruft, erwidert Kevser laut: „Ich will nicht!“ Während ich mich auf den Weg ins Büro zur Sprachförderung mache, höre ich, wie Kevser Frau A. fragt, ob sie nicht in der zweiten Gruppe mitmachen könne, was Frau A. jedoch di­rekt ablehnt.

Drei Mädchen sitzen schon im Stuhlkreis im Büro, als ich eintrete. Sie unterhalten sich über ihre Schultüten und beginnen das Spiel »Mein rechter, rechter Platz ist frei«. Nach einer Weile kommt Frau A. mit einem Jungen herein, blickt sich um und fragt: „Wo ist denn Kevser?“ „Die will nicht“, meint Ilmiye. Frau A. sagt mit erstaunter Stimme: „Wie, die will nicht?“ In diesem Moment kommt Kevser durch die Tür und unter­streicht: „Ich will nicht!“ Darauf geht Frau A. nicht ein und Kevser setzt sich mit einem grimmigen Gesicht auf den letzten freien Stuhl. [3] […]

Kevser ist zu Beginn dieser Szene intensiv mit einem Puzzle beschäftigt und möchte dieses beenden, bevor sie an der Sprachförderung teilnimmt. Dies wird deutlich, weil sie sich erst mit „Ich will nicht!“ wehrt und anschließend fragt, ob sie nicht in der zweiten Gruppe mitmachen könne. D.h. Kevser hat nicht grundsätzlich keine Lust auf Sprachförderung, sondern nicht in diesem Moment. Die Sprachförderkraft Frau A. scheint Kevsers Bedürfnis, zunächst ihre Aktivität zu Ende zu führen, nicht wahrzunehmen, denn sie geht auf Kevsers Wunsch, an der zweiten Sprachfördergruppe teilzunehmen, nicht ein und zeigt sich kurze Zeit später im Büro erstaunt, dass Kevser noch nicht da ist und ,nicht will‘. Für Frau A. ist es selbstverständlich, dass die Kinder, wenn sie von ihr zur Sprachförderung gerufen werden, alles stehen und liegen lassen und voraus ins Büro gehen. Ilmiye hingegen hat sehr genau regis­triert, dass Kevser wirklich nicht zur Sprachförderung will – sie weiß wie es ist, wegen der Sprachförderung aus einer Beschäftigung herausgerissen zu werden. Ihren Unwillen betont Kevser auch noch einmal, als sie das Büro betritt. Doch Frau A. übergeht die Äußerung, obwohl Kevsers Gesicht die Ablehnung deutlich anzuse­hen ist. Die Sprachförderkraft hat über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg darauf geachtet, dass die Kinder in ihren festen Kleingruppen zusammenbleiben. Nur in Ausnahmefällen hat sie die Gruppen zusammengelegt oder ein Kind, weil es zu spät kam, in der anderen Gruppe mitmachen lassen. Möglicherweise hat sie sich in ihrer Reaktion auf Kevser von diesem Grundsatz leiten lassen und das starke Bedürfnis des Kindes, erst zu Ende zu puzzlen und dann zur Sprachförderung zu gehen, nicht bemerkt.

Durch die Separation wird diese gezielte Sprachförderung nicht allen Kindern der Gruppe zuteil, obwohl nach Einschätzung der Erzieherinnen und der Leitung der Kindertagesstätte alle Kinder der Gruppe, auch die ohne Migrationshintergrund, eine Sprachförderung „bräuchten“.

Dennoch findet nur vereinzelt ein Austausch zwischen der Sprachförderkraft Frau A. und den Erzieherinnen (Frau C. und Frau D.) über die Inhalte der Sprachförde­rung und/oder die sprachlichen Fortschritte und Schwierigkeiten der Kinder statt, obwohl die Fördermaßnahme in das pädagogische Gesamtkonzept der Kindertages­stätte eingebunden sein sollte (vgl. MBFJ 2004b, S. 2) und Kooperationsgespräche vorgesehen sind, für die sich die externen Fachkräfte Stunden anrechnen lassen können (vgl. Landesprogramm o.J., S. 7f). Eine Einbindung in den institutionellen Alltag erscheint jedoch möglich, denn in der DaZ-Förderung werden alltägliche Themen wie „Ich bin krank“, „Ich komme in die Schule“ behandelt oder Spiele gespielt und kleine Gedichte und Lieder gelernt, die auch mit der gesamten Kita- Gruppe gespielt und gesungen werden könnten. So aber wird die Isolation der Sprachförderung noch verstärkt, indem es für die Kinder Spiele, Bücher, Lieder, Reime und (sprachliche) Inhalte gibt, die nur innerhalb der Sprachfördergruppe zum Einsatz kommen.

Ein eher integriertes Konzept von Erst- und Zweitsprachförderung konnte dagegen in Luxemburg beobachtet werden. Anhand eines weiteren Beispiels aus dem Schulvormittag wird ersichtlich, dass die dort stattfindende Sprachfördermaßnahme zur Wortschatzerweiterung in den pädagogischen Alltag der Gesamtgruppe integriert ist. Die Übung findet im Rahmen einer Sitzkreisphase statt, die zum ritualisierten Ab­lauf jedes Schulvormittags gehört und an der täglich alle Kinder teilnehmen. Inhalt­lich wird die Übung in das aktuelle Schwerpunktthema „Insekten“ eingebunden, mit dem die Gruppe sich seit mehreren Tagen anhand verschiedener Aktivitäten (einem Ausflug in den Wald, Beobachtungen in der Natur, Buchbetrachtungen, Liedern und Bastelarbeiten) beschäftigt. So ist die Sprachfördermaßnahme für die Kinder weder als solche definiert, noch erfolgt sie selektiv für einzelne.

Kinder und Lehrerin sitzen gemeinsam im Stuhlkreis. Gerade werden anhand von Bildkarten, die in der Mittel liegen, unterschiedliche Insekten benannt und bespro­chen. Das Unterrichtsgespräch erfolgt dabei auf Luxemburgisch.

[…] Giulia [4] ist an der Reihe und wählt eine Bildkarte aus, die einen Grashüpfer zeigt. Sie betrachtet die Karte kurz und benennt sie dann korrekt als „Heesprenger“ (das lu­xemburgische Wort für Grashüpfer). Die Lehrerin nickt und erfragt die entsprechende Bezeichnung auf Portugiesisch. Sie erhält jedoch keine Antwort und hakt nach: „Wat ass dat? D‘ portugisesch Kanner – weess dat keen?“ („Was ist das? Die portugiesischen Kinder – weiß das niemand?“) Als noch immer keines der Kinder antwortet, nennt die Lehrerin den portugiesischen Begriff („gafanhoto“) und lässt die portugiesischen Kin­der das Wort wiederholen. Dann fragt sie nach der italienischen Übersetzung. Giulia antwortet spontan mit dem richtigen Wort („cavalletta“). Zuletzt spricht die Lehrerin Cathy [5] auf ihre Bezeichnung für Grashüpfer an. „Grasshopper“, antwortet diese und lächelt. [6] […]

In der beschriebenen Sitzkreisphase führt die Lehrerin mit den Kindern eine Übung durch, bei der verschiedene Bildkarten benannt werden sollen. Auf sprachlicher Ebene fällt auf, dass die Übung auf eine Wortschatzerweiterung im Luxemburgi­schen hin angelegt ist, gleichzeitig aber die Erstsprachen der Kinder mit einbezogen werden. Die Lehrerin erfragt neben dem luxemburgischen Begriff auch die entspre­chenden Übersetzungen ins Portugiesische, Italienische und Englische. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Erstsprachen der Kinder nicht nur dann eine Rolle spielen, wenn sie von diesen selbst eingebracht werden, sondern auch von der Leh­rerin selbst aktiv einbezogen bzw. sogar explizit eingefordert werden. Dies zeigt sich insbesondere, als der Gruppe der portugiesischen Kinder die Übersetzung des Begriffes Grashüpfer nicht präsent ist. Die Lehrerin selbst bringt die portugiesische Bezeichnung in das Unterrichtsgespräch ein und lässt ihn von den Kindern wieder­holen. So wird deutlich, dass ihr auch die Förderung der Erstsprachen wichtig ist. Als zumindest vorteilhaft, wenn nicht unverzichtbar erweist sich dabei, dass sie über entsprechende Sprachkenntnisse verfügt [7].

In der Folgeszene aus dem Gruppenraum der Kindertagesstätte in Rheinland-Pfalz ist die mangelnde Sprachkenntnis sowohl der Erzieherin Frau C. als auch von mir (K.G.) jedenfalls nicht sprachförderlich. Im Gegenteil:

[…] Frau C. zeigt Ilmiye die Abbildung einer Engelsfigur und fragt, was das sei. Ilmiye betrachtet das Bild, überlegt und sagt dann: „Auf Türkisch heißt das süs.“ Frau C. nennt ihr das Wort ,Engel‘. Ilmiye wiederholt es mit einer Intonation, die auf einen Wiedererkennungseffekt schließen lässt. Weil ich nicht genau verstanden hatte, wie Ilmiye den Engel auf Türkisch bezeichnete, frage ich sie: „Wie heißt Engel auf Türkisch?“ „Süs“, antwortet sie. [8] […]

Frau C. ist dabei, für Plakate zu den Vokalen Abbildungen aus alten Werbeprospekten und Katalogen auszuschneiden, die den Anlaut A, E, I, O oder U haben. Ab und zu fragt sie ein Kind, das vorbei kommt oder das mit am Tisch sitzt, was das Ausge­schnittene sei, um, wie sie mir erklärt, sicherzugehen, dass die Abbildungen für die Kinder „eindeutig“ (Zitat Frau C.) sind. Deshalb zeigt sie Ilmiye die Abbildung der Engelsfigur und fragt sie, was das sei. Der aber fällt in dem Moment die deutsche Bezeichnung nicht ein, so dass sie auf ihren erstsprachlichen Wortschatz zurück­greift [9]. Frau C. nennt Ilmiye die vermeintliche deutsche Übersetzung: Engel. Zu­hause aber stellte ich (K.G.) beim Nachschlagen im Türkisch-Deutsch-Wörterbuch fest, dass die korrekte Übersetzung für ,Engel‘ ,melek‘ ist und ,süs‘ .Schmuck, Verzierung, dekorativer Gegenstand zum Hinstellen‘ bedeutet. In der Tat war der Engel auf der gezeigten Abbildung eine kleine Engelsfigur zur Weihnachtsdekorati­on.

Nun kann nicht erwartet werden, dass die Erzieherinnen die Erstsprachen aller Kin­der sprechen. Doch interessanterweise ist es der einzige Protokollausschnitt in den fünf Monaten, die ich in der Kindertagesstätte teilnehmend beobachtet habe, in dem ein Kind in der Interaktion mit einer Pädagogin ein Wort in seiner Erstsprache be­nutzt, und das, obwohl die Bildungs- und Erziehungsempfehlungen für die Kinder­tagesstätten in Rheinland-Pfalz ausdrücklich „das Kennenlernen verschiedener Be­zeichnungen für eine Sache“ (MBFJ 2004a, S. 42) unter der Überschrift „viele ver­schiedene Sprachen“ (ebd.) fordern.

So dürfen die Kinder in der beobachteten Einrichtung zwar ihre Erstsprachen benut­zen. In Sprachfördersituationen werden sie aber nicht mit einbezogen, weder in der Gesamtgruppe noch in den speziellen Fördermaßnahmen.

Fußnoten:

[1] Reyhan gehört nicht zu den regelmäßig teilnehmenden Kindern.

[2] Protokollantin Kerstin Graf, Datum: 15.05.2007.

[3] Protokollantin Kerstin Graf, Datum: 26.06.2007.

[4] Das Mädchen ist italienischer Abstammung.

[5] Cathys Erstsprache ist Englisch.

[6] Protokollantin Nadine Christmann, Datum: 17.05.2007.

[7] Die Lehrerin spricht neben den offiziellen Landessprachen Luxemburgisch, Deutsch und Französisch auch Portugiesisch, Englisch und Italienisch.

[8] Protokollantin Kerstin Graf, Datum: 05.06.2007.

[9] Nach Jeuk (2003, S. 289) können Begriffe und semantische Netzwerke der Erstsprache „für den Zweitspracherwerb nutzbar gemacht werden.“ An anderer Stelle weist er darauf hin, dass der Einsatz der Erstsprache zu den Verhaltensweisen gehört, die „mit einem erfolgreichen Erwerb des Lexikons in Verbindung gebracht werden können“ (Jeuk 2003, S. 270).

Literaturangaben:

Jeuk, Stefan (2003): Erste Schritte in der Zweitsprache Deutsch. Eine empirische Untersuchung zum Zweitspracherwerb türkischer Migrantenkinder in Kindertageseinrichtungen. Freiburg im Breisgau: Fillibach.

Landesprogramm Sprachförderung und Maßnahmen des Übergangs zur Grundschule. .Zukunftschance Kinder – Bildung von Anfang an“. Arbeitshilfe zur Umsetzung. (o.J.) URL: http://www.mbfj.rlp.de/kita-arbeitshilfen/Zukunftschancen_Kinder_Arbeitshilfe_I9_Sprachf0rderung_Massnahmen.pdf, Abruf: 03.01.2007.

Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend, Rheinland-Pfalz (MBFJ 2004a): Bildungs- und Erziehungsempfehlungen für Kindertagesstätten in Rheinland-Pfalz. Weinheim u. Basel: Beltz.

Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend, Rheinland-Pfalz (MBFJ 2004b): Förderrichtlinie Zusätzliche Sprachförderung für Kinder im Kindergartenalter ohne hinreichende Deutschkenntnisse vom 02.02.2004. Mainz. URL: http://www.mbwjk.rlp.de/fileadmin/Dateien/Downloads/Bildung/sprachfoerderung.pdf, Abruf: 02.02.2009.

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.

http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=1911

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