Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Exemplarisch stelle ich in der Feinanalyse die Erzählungen von zwei Mädchen der 4. und 5. Jahrgangstufe gegenüber, beide thematisieren ihren Misserfolg beim Übertritt in die weiterführende Schule. (Hervorhebungen durch die Autorin).

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Mädchen 5. Jahrgangstufe, Hauptschule (Pseudonym Maria)

Maria erzählt zuerst von vielen Tests in der 4. Klasse, in Mathe und Deutsch mit „so um die 100 Wörter“ und deutet an, dass die 4. Klasse anstrengend war. Nach Nachfrage: „Was weißt Du noch vom Ende der 4 Klasse?“

„Da, da weiß ich noch ganz genau, meine Lehrerin, die hat mir nicht so ’ne gute Note gegeben. Ich hätte locker ne 2 gekriegt … hah dann doch ne 3 gekriegt, und das W.II nicht so toll, weil, ja also, wenn man auf die Hauptschule kommt, da denkt man auch am Anfang schon, (em) ja das ist nicht so toll… derweil macht die Hauptschule gar keinen großen Unterschied. Und, und das Umstellen, da muss man sich auch von den Freundinnen manchmal trennen.“

Maria erzählt von der in ihren Augen ungerechten Benotung, deren Konsequenzen für den Übertritt klar erkennbar sind. Maria fährt in ihrer Erzählung fort, dass sie einen Eignungstest in eine Realschule gemacht habe:

„Ja (em) ja, ich wollte auf die Realschule gehen, und (em) ja, da bin ich dann, hab ich den Test gemacht, hab ihn aber fast bestanden, ja (Pause) und da war ich schon besser wie der Junge (P) das war nicht schwer, (P) aber man muss halt feste lernen, dass man das schafft.“

Die Aufregung und Angst beim Test wird konfrontiert mit der stolzen Betonung, dass sie besser als ein Junge war, trotzdem, so argumentiert sie nun sich selbst ermahnend: „man muss halt feste lernen“. Nach einer weiteren Nachfrage wechselt sie die Textform und begründet:

„…weil man da als Loser herkommt, das ist dann in der Klasse nicht immer so das Beste. (P) da hast du dann schon (P): Oh Gott, schaff ich das? Und wir waren halt im Urlaub davor und das war, da denkt man eigentlich dann gar nicht dran, zu lernen, ich hab’s dann zwar mitgenommen, aber (P). Ja, aber da, da sind, manche sind weitergekommen, da, aber ich war auch ganz knapp, ganz knapp hätte ich’s geschafft.“

Erst nach der erneuten Nachfrage findet Maria den Mut, die Angst vor dem Test als eine Angst vor der zukünftigen Anerkennung in der Klasse mitzuteilen: die Blamage ein „Loser“ zu sein, lebt nochmals auf. Sie beruhigt sich durch die Textwahl, erklärt „wir waren halt im Urlaub davor“. Die Textform erlaubt eine innere Distanz zu dem verletzten Selbstwertgefühl. Ihre „schwache“ Position sieht sie darin liegen, den Übertritt in die Realschule nicht durch den Notendurchschnitt geschafft zu haben. Eine Integration in die mögliche neue Klasse, wohin die Freundinnen gegangen sind, wäre schwierig, da sie ihre Situation als beschämend empfindet. Der Erfolg in der Schule ist bei Maria nicht zu trennen von der sozialen Anerkennung – auch in der neuen Klasse:

„… Ja, und mir gefällt’s da unten (Hauptschule, d. A.) jetzt besser. Am Anfang hab ich auch schon ein bisschen Angst gehabt, aber das wird dann schon, weil, der Abschied von den Freundinnen, das ist halt schon ein bisschen hart. Aber unsere Klasse, was bei unserer Klasse gut ist, wenn jemand nicht gut lesen kann, wie zum Beispiel ich, der wird nicht ausgelacht.“ … Erzählt über Hausaufgaben und wie und was sie lernt: „Und ja, und so schreib ich die Noten, schreib ich dann gut, und da ist man auch stolz auf sich selbst, wenn man da gelernt hat, und sonst sagt man eigen! lieh meistens, die ganze Arbeit ist umsonst, was ich jetzt da geleistet habe.“

Die Leistung, die Maria erbringt, setzt sie in direkten erzählerischen Zusammenhang mit der Nachsicht der Klassenkamerad/innen. Erst über die Sicherung der sozialen Anerkennung, wird die Leistung für Maria thematisierbar: die Arbeit soll sich für sie lohnen.

Die biografische Reflexion von Maria ist auf die Konsequenzen aus der Vergangenheit gerichtet, die ihr Bewältigungsprobleme bereiten, die sie jedoch in der Gegen wart, letztlich in der Interpretation ihres Handlungsspielraums in der Hauptschule einer Lösung zuführen kann: Maria bewältigt den Übertritt in die Hauptschule, der ihr anfangs als Misserfolg erscheint, aufgrund der angenehmen Klassensituation, in der keiner ausgelacht wird, wenn er etwas nicht so gut kann. Auch der Schwache ist anerkannt, während dies in der Realschule – aufgrund des Eingangstestes – nach ihrer Sicht nicht zu erwarten steht. Maria gibt sich mit ihrer schulischen Situation zufrieden, da sie nun ihre Ehre, nicht als „Loser“ dastehen zu müssen, gerettet sieht.

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