Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Der Drittklässler Max, zum Zeitpunkt der Beobachtungen das erste Jahr an der Frei­en Schule, besuchte zuvor eine reguläre staatliche Schule. Die Gründe für seinen Schulwechsel benennt er im Interview selbst:

„Na, (…) Mama hat gedacht, ich kann in der Schule hier besser lernen, weil in der an­deren, da mussten wir alle gleich machen und hier machen wir ja nicht immer alle das Gleiche. Das war da verschieden. Ich hatte da Probleme, weil wenn alle da so zusam­men arbeiten, da komm ich nicht durch. Mama hat gedacht, dass ich hier dann vielleicht auch ins Gymnasium, ein gutes, komme. Ich will ja auch unbedingt in die Sportschule.“

Im Untersuchungszeitraum gestaltet sich das Schreiben des Wochenplans bei Max recht unterschiedlich. In der ersten Beobachtungswoche steht das Vorbereiten und Gestalten selbst sehr im Vordergrund: Max verbringt fast eine halbe Stunde damit, Zeilen und Spalten zu ziehen, Datum und Überschrift einzutragen und den Plan Zeile für Zeile und Spalte für Spalte farbig zu gestalten. In der zweiten Beobachtungswoche hingegen erledigt er sowohl das Schreiben des Plans als auch das Ein­tragen der Materialien und Aufgaben innerhalb von fünf Minuten. In diesem Falle nicht bunt, aber dennoch übersichtlich und genau:

Im Interview antwortet Max auf die Frage, wie er seinen Wochenplan erstelle:

„Na, erst mal mache ich Zeilen, dann muss ich Zahlen hinschreiben: 1, 2, 3, 4, am bes­ten, wenn ich bis 5 zähle und dann kann man da was rein schreiben. Wochenplan oben. Ja, erst mal mach ich Zeilen, dann Wochenplan oben, Datum und dann schreib ich ein.“

Obwohl Max jeden Montag einen Wochenplan schreibt, entspricht dieser oft nicht den von ihm selbst erläuterten Vorgaben, wie die Durchsicht seines Wochenplanbuches ergibt: Mal schreibt er die Überschrift doppelt, benutzt mehrere Zeilen für die Überschrift, lässt das Datum vollständig weg, schreibt es nachträglich unter den Plan oder trägt es nicht vollständig ein. Die Orthografie von Max ist häufig derart man­gelhaft, dass sich einzelne Planaufgaben nur erahnen lassen. Korrekturen durch die Lehrerinnen finden sich lediglich in wenigen vereinzelten Plänen.

Die Maßgaben seiner Planung für die Woche erläutert Max im Interview wie folgt:

„Man kann das alles planen, wie man will, aber Mathe und Deutsch muss dabei sein. Man kann dreimal Deutsch und einmal Mathe oder auch andersrum machen. Das ist egal.“

In der Auswahl der Materialien sieht Max sich relativ frei:

„Na, ich kann mir einfach auch mal andere Dinge aussuchen, irgendwelche anderen, die ich noch nie gemacht habe. Einfach mal rein schreiben und dann mal ausprobieren. Aber eigentlich muss man auch mal Dinge weitermachen, die man angefangen hat. Aber man kann eigentlich alles mal ausprobieren.“

Anhand seiner Wochenpläne lässt sich tatsächlich feststellen, dass er im Verlauf des Schuljahres vielerlei Materialien begonnen und ausprobiert und sich zumeist über längere Zeiträume mit ihnen beschäftigt hat. Er wählt seine Aufgaben hauptsächlich durch Vergleichen des Wochenplans der Vorwoche und knüpft somit an die begon­nenen Arbeiten und Materialien an. Die Pensenlisten, die zu Beginn der Beobach­tungen eingeführt wurden und für jeden Schüler im Raum ersichtlich alle verbindli­chen Materialien aufzeigen, erwähnt Max nicht.

Es liegen allerdings Wochenpläne vor, die der Vorgabe, mindestens drei Planungspunkte zu notieren und somit auch Max‘ Angabe innerhalb des Interviews, stets vier bis fünf Materialien auszuwählen, nicht entsprechen. Es finden sich etwa Pläne mit ausschließlich ein bis zwei Planungspunkten oder auch gar keinen Eintragungen:

Im Interview am Ende der Woche bemerkt Max dann zum Beispiel, dass für die laufende Woche gar kein Plan existiert:

„Ich hab, glaube ich, diese Woche meinen Wochenplan vergessen zu schreiben. Ich weiß nicht ganz genau, aber ich glaub es.“

Max hat bis dahin den Wochenplan also gar nicht vermisst, er kommt offenbar auch ohne zurecht.

Auf die Frage, ob er seinen Wochenplan alleine schreibe oder „mit Hilfe“, antwortet Max:

„Na, das erste Mal, also, die ersten zwei Wochen habe ich immer von Anne Hilfe be­kommen, aber dann konnte ich schon allein. Ich schreibe komplett allein. Nur manch­mal muss ich fragen wegen verschiedenen Wörtern.“

Die Beobachtungen zeigen allerdings ein anderes Bild: In beiden Wochen beginnt Max erst nach Aufforderungen durch die Lehrerinnen, sich dem Schreiben des Wochenplans zu widmen, das sich in einem Fall dann auch als eine intensive Aushand­lung zwischen Max und der Lehrerin gestaltet:

Max möchte am Computer des Lernraums seine Geschichte abschreiben und drucken, da die Schuldruckerei montags geschlossen ist. Evas (der Lehrerin) Nachfrage, ob er seinen Wochenplan bereits geschrieben hat, muss er verneinen, woraufhin sie ihn auf­fordert, dies nachzuholen. Anschließend benötigt Max fast eine viertel Stunde für das Vorzeichnen der Zeilen und Spalten und das Eintragen der Überschrift „Wochenplan“. Eva kommt zu Max: „Schreib deinen Wochenplan!“ (auffordernd) „Ich muss erst den­ken.“ (genervt) „Ich helfe „„dir.“„Ich mache das selbst!“ (gereizt, Eva bleibt bei ihm ste­hen) „Schreib das Datum. 2. Juni…“ (auffordernd) „Ich mache das!“ (gereizt) „Ich schau dann nach dir. Du kannst vieles beenden, was du vor den Ferien begonnen hast!“ Eva lässt ihn allein weiterarbeiten, er trägt das Datum selbst ein.

In diesem kleinen Dialog kommt die ganze Ambivalenz der „verordneten Selbst­ständigkeit‘ zum Ausdruck (vgl. Heid 1996). Max insistiert auf dem Anspruch der selbstständigen Planung, der zugleich ein Anspruch an ihn ist und sein Anspruch gegenüber der Lehrerin. Es gibt die Pflicht, einen Wochenplan zu schreiben, der er auf Aufforderung auch nachkommt, aber in den Details der Ausführung bzw. der Vorbereitung strapaziert Max die Geduld der wartenden Lehrerin. Auf ihr Drängeln hin erklärt Max „ich muss erst denken“ – womit er sich vollständig konsistent auf die Logik des Planens bezieht, denn eine sinnvolle Planung will wohl überlegt sein. Den Sprechakt der Lehrerin „ich helfe dir“, der weniger ein Angebot als eine Fest­stellung darstellt, weist Max zurück, indem er auf die Norm der Selbstständigkeit rekurriert. Auch eine zweite, ganz konkrete Aufforderung der Lehrerin weist er mit dem Verweis auf die Selbsttätigkeit ab. Da die Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit der Schüler die obersten Leitbilder bei der Wochenplanarbeit darstellen, muss die Lehrerin nachgeben und sich zurückziehen. Dies tut sie allerdings nicht ohne den Verweis auf ihre Kontrollfunktion {„ich schaue dann nach dir“) und nicht ohne einen – allerdings sehr vagen – Hinweis auf ein Kriterium für seine Planungen („du kannst vieles beenden, was du vor den Ferien begonnen hast“).

Max hat einen Teilsieg erreicht, aber das Ringen um Autonomie und Kontrolle ist noch nicht beendet. Als Eva einige Zeit nach diesem ersten Dialog sieht, dass Max seine Planungstätigkeit noch nicht beendet hat, kommt sie zurück und wird konkre­ter:

Eva blättert im Wochenplanbuch zur Vorwoche. „Da steht Hundertertrainer. Hast du den fertig?“„Nein.“ „Also schreib das auf!“ (Max schreibt)

Was hast du für Deutsch drin stehen?“„Ich will meine Geschichte schreiben.“„Das kannst du machen, wenn du die anderen Sachen hast! Was steht noch drin für Deutsch?“ (Eva blättert zur Vorwoche zurück) „Kann ich mal an den Computer? Ich muss dringend was nachschauen!“ (unruhig, aufgeregt) „Ich kann dir vorschlagen, wenn du diese Woche den Wortartenkurs machst, dann kannst du nächste Woche am Computer arbeiten.“

Jetzt gestaltet sich die Wochenplanung als eine ganz konkrete Aushandlung, wobei die Lehrerin in die Position der Anweisenden bzw. Genehmigenden rückt. Die Norm der Selbstständigkeit scheint suspendiert. Hat Max durch seine zu zögerliche und zeitaufwändige Planungstätigkeit das Recht auf Selbstständigkeit in dieser Situation verwirkt? Ist seine „Hilfsbedürftigkeit“ erwiesen, weil er nach einer gewissen Zeit keine eigenständige-Planung vorweisen kann? Jedenfalls beansprucht die Lehrerin jetzt unwidersprochen die Rolle der Entscheiderin. Max‘ Wunsch am Computer etwas „nachzuschauen“ benutzt die Lehrerin für einen Handel, indem sie ihm ein Angebot macht, das die Arbeit am Computer als Belohnung für den Wortartenkurs enthält. Dieses Angebot verkennt allerdings zum einen die Aktualität des Wunsches von Max (es geht darum bringend, was nachzuschauen“; nicht darum, am Computer zu arbeiten), zum anderen wird hier implizit eine deutliche Wertigkeit der Tätigkei­ten etabliert: Die Pflicht des Wortartenkurses wird durch das Zugeständnis der Computerarbeit belohnt.

Max ist also jetzt in der Rolle desjenigen, der sich die Realisierung seiner eigenen Planungen erst durch die Erfüllung eines vorgegebenen Programms „verdienen“ muss. Eine kleine Pointe allerdings verkneift er sich nicht: Als die Lehrerin von einem Mitschüler gerufen wird und ihn verlässt, schreibt er seinen Planungspunkt „Geschichte“ noch auf – so nimmt er sich wenigstens einen Teil der ihm genommenen Planungshoheit zurück.

Was lässt sich nun über die Bedeutung des Wochenplans für Max‘ tatsächliches Arbeiten sagen? Schaut er in seinem Wochenplan nach, was er sich vorgenommen hat? Im Interview erläutert Max zu dieser Frage:

„Nee, das brauch ich eigentlich nicht machen, weil ich weiß, was in meinem Wochen­plan steht. Weil’s doch nur ’ne Woche ist. Ich arbeite dann auch nur an den Sachen, die im Wochenplan stehen.“

Die Beobachtung seines Arbeitens bestätigt, dass er von sich aus während der Wo­che nicht in das Wochenplanbuch schaut. Er führt durchaus einige der Vorhaben aus seiner Planung durch, greift aber auch immer wieder zu anderen Lernmaterialien, die sein Interesse wecken und die nicht im Plan stehen. Die Tätigkeiten außerhalb seines Wochenplans trägt er in der Regel auch nicht nachträglich ein, wie es andere Kinder zum Teil tun.

Gelegentlich wird Max allerdings von den Lehrerinnen aufgefordert, sein Wochenplanbuch zu Rate zu ziehen, wie es der folgende Protokollausschnitt dokumentiert:

Max beendet die Arbeit an einem Material und sitzt unschlüssig an seinem Platz. Anne, die Lehrerin, fordert ihn dazu auf, in seinem Wochenplanbuch nachzuschauen, was er sich weiterhin vorgenommen hat. Max holt sein Wochenplanbuch, lässt dieses jedoch, ohne einen einzigen Blick hinein zu werfen, geschlossen auf dem Tisch liegen. Schließ­lich räumt er es zurück in das Regal, da Anne zu einer Besprechung ruft.

Das Wochenplanbuch wird in dieser Szene zur Instanz, auf die die Lehrerin sich beruft, als Max so wirkt, als fehle ihm die Orientierung. Max entzieht sich dem Versuch der Lehrerin, indem er das Wochenplanbuch zwar holt, aber nicht benutzt. Offenbar handelte es sich bei Max‘ Phase der Untätigkeit weniger um ein Problem der Orientierung als um eines der Motivation. Interessant erscheint an dieser Szene, dass das Wochenplanbuch zwar keine sichtbare Relevanz in der Organisation der laufenden Arbeit für die Kinder selbst hat, dass es aber als Instanz in der Kommuni­kation zwischen Lehrerinnen und Schülern dient: Dort steht geschrieben, was sie sich vorgenommen haben, darauf können die Schüler auch verpflichtet werden. Ist die Funktion des Wochenplans möglicherweise stärker in der Interaktion zwischen Lehrerinnen und Schülern zu suchen als in der Organisation der eigenen Arbeit durch die Kinder?

Auch um fertiggestellte Aufgaben abzuhaken, nimmt Max nur selten das Wochenplanbuch zur Hand, wie er selbst im Interview feststellt:

„Ich mach das nicht immer. Ich bin da ’n bisschen faul.“

Das bestätigt sich anhand der Kopien der Wochenpläne – oft fehlen jene Kreuze, die das Erledigen einer Arbeit kennzeichnen:

Auch wenn Lehrerinnen ihn daran erinnern, markiert Max die Erledigung von Vor­haben im Wochenplanbuch oft nicht. Das hat zur Folge, dass er gelegentlich nicht mehr nachvollziehen kann, welche Aufgaben fertiggestellt wurden und welchen er sich erneut widmen muss. Jedenfalls ist festzuhalten, dass das „Abhaken‘ von Auf­gaben im Wochenplan als solches Max keine besondere Befriedigung zu verschaffen scheint; dies ist ein interessanter Kontrast im Vergleich zu dem Befund aus der Beo­bachtung der Arbeit mit vorgegebenen Wochenplänen, wonach ebenjenes Abhaken der Aufgaben bisweilen als eigentliches Ziel des Arbeitens angesehen wird (vgl. Huf 2006, Huf & Breidenstein 2009).

Max‘ Handhabung des individualisierten Wochenplanunterrichts wirft Probleme auf. Er nimmt selbstbewusst die Rolle desjenigen in Anspruch, der seine eigene Arbeit plant. Aber sowohl seine Planungstätigkeit als auch der konkrete Vollzug seines Arbeitens unter der Woche sind oft dergestalt, dass die Lehrerinnen sich genötigt fühlen, einzugreifen, Max zu ermahnen, ihn auf seine (eigenen) Vorhaben zu ver­pflichten oder ihm (ungefragt) Unterstützung anzubieten. Welche Handlungsprobleme und Paradoxien sich daraus für die Handhabung der Lehrerrolle ergeben, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Dies ist aber auf jeden Fall eine eigene Betrach­tung Wert. – Ein ganz anderes Bild ergibt die Befragung und Beobachtung von Lina.

Literaturangaben:

Heid, Helmut (1996): Was ist offen im offenen Unterricht? In: Zeitschrift für Pädagogik. 34. Beiheft, S. 159-171.

Huf, Christina (2006): Didaktische Arrangements aus der Perspektive von Schulanfängerlnnen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Huf, Christina / Breidenstein, Georg (2009): Schülerinnen und Schüler bei der Wochenplanarbeit. Beobachtungen zur Eigenlogik der „Planerfüllung“. In: Pädagogik. 61. Jg., H. 4, S. 20-23.

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.

http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=1911

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