Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Aus Beobachtungen im 1. Schuljahr mit 24 SchülerInnen (acht Mädchen und 16 Jungen) gemacht wurden (vgl. Schultz 2007).

„Und Mama und Papa begrüßen sich so: Hallo! Hallo!“ – Einsprachige Rituale im Unterrichtsalltag

Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 28. Februar 2007: Morgenkreis

Frau König beginnt das Begrüßungslied zu singen und die Schülerinnen singen ohne ihre Hilfe weiter: „Wir woll‘n uns begrüßen und machen das so…Hallo! Hallo! Schön das ihr heut hier seid und nicht anderswo. Hallo! Hallo! Und wie sagt die Katze am Morgen zum Floh? Hallo! Hallo! Und wie sagt der Wärter zum Affen im Zoo? Hallo! Hallo! Und Mama und Papa begrüßen sich so: Hallo! Hallo! Und auch meine Schwester die singt auf dem Klo…Hallo! Hallo! Hallo! Hallo!“ Frau König erklärt, was den Tag über passiert. Sie wird als Erstes etwas aus dem Buch „Das kleine Gespenst“ vorlesen.

Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 09.02.2007: Frühstückspause

Die Schülerlnnen frühstücken und reden durcheinander. Um 10:20 Uhr klingelt Frau König. Die SchülerInnen sollen nun alles wegräumen, sie zählt von zehn rückwärts; bei null soll alles aufgeräumt sein. Manche Schülerinnen sprechen die Zahlen mit.

Die Klasse pflegt jeden Morgen ein Begrüßungsritual, das in deutscher Sprache durchgeführt wird. Dieses Ritual läutet den Schultag ein und fördert damit vermutlich die Gemeinschaft der Schülerlnnen und lässt sie zur Ruhe kommen. Die Lehrerin stimmt dabei das Lied an, die Schülerlnnen stimmen mit ein und winken sich beim Singen der Wörter „Hallo! Hallo!“ gegenseitig zu. Meistens verläuft das eher halbherzig, d. h. die Kinder wirken nicht so, als ob ihnen das Singen des Liedes Freude bereiten würde. Sie halten sich mit der Lautstärke zurück und halten an den Stellen, an denen sie sich zuwinken sollen, Iasch die Hände in die Höhe. Besonders irritierend an diesem Ritual erscheint mir die schlichte Unwahrheit der Aussage „Und Mama und Papa begrüßen sich so: Hallo! Hallo!“ Denn wenn man die sprachliche Vielfalt in der Klasse bedenkt, dann begrüßen sich die Eltern vieler Schülerlnnen sehr wahrscheinlich nicht mit „Hallo“. Die Lehrerin berücksichtigt hier nicht die Tatsache, dass sie viele Kinder mit einem anderssprachigen Hintergrund unterrichtet und sie somit zu Hause mit ihren Familien nicht Deutsch sprechen.

Dabei sind Reime und Lieder grundsätzlich geeignet, um Mehrsprachigkeit in den Klassenraum zu transportieren, da sie eingängige Melodien haben, alle Kinder sich daran beteiligen können und die Sprache jedes Schülers und jeder Schülerin berücksichtigt werden kann (vgl. Belke 2003, S. 45:ff.). Gleiches gilt für das oben beschriebene Ritual des Rückwärtszählens. Dieses Ritual hat keinen zeitlich bestimmten Platz im Schulalltag, sondern wird situationsabhängig eingesetzt. Auch dieses Ritual wäre angebracht, um Mehrsprachigkeit im Klassenraum deutlich werden zu lassen.

Eser Davolio schreibt hierzu „…wenn dem Gebrauch der Muttersprache von Seiten der Schule Wohlwollen entgegengebracht werde, könne sie eine unterstützende,  psychisch stabilisierende Funktion für die Kinder entfalten und ihr Vertrauen in die Schule stärken. […] Dazu gehören kleine spielerische und musikalische Elemente, die in den Unterricht eingeflochten werden, wie etwa, dass sich die Kinder morgens
in verschiedenen Sprachen begrüßen und Lieder in mehreren Sprachen singen“ (Davolio 2001, S. 61).

Lehrkräfte einer multikulturellen Hamburger Grundschule betonen in diesem Zusammenhang das positive Klima, das entsteht, wenn die Lehrkräfte in Form von Liedern und Reimen auf die unterschiedlichen Muttersprachen ihrer Schülerlnnen eingehen oder gemeinsam mit der Klasse das Zählen in verschiedenen Sprachen lernen (vgl. Gogolin 1994, S. 240:ff.). So werde eine positive Einstellung und Interesse an der Vielsprachigkeit geweckt.

Das Vorlesen ist ebenfalls ein fester Bestandteil des Schulalltages der beobachteten Klasse. Hierbei werden vor allem Bücher aus der deutschen Kinderliteratur vorgelesen, wie Die unendliche Geschichte und Das kleine Gespenst exemplarisch zeigen. Die Multikulturalität der Klasse wird dabei nicht berücksichtigt – demgegenüber könnten beispielsweise deutschsprachige Erzählungen oder Kinderliteratur aus der Türkei oder anderen Ländern verwendet werden.

Diese Rituale habe ich beispielhaft als wichtige Bestandteile des Unterrichts gewählt, um zu verdeutlichen, dass sie eben nicht nur Mehrsprachigkeit, sondern auch Interkulturalität ausschließen. Die Mehrheitssprache Deutsch bestimmt den Unterricht und Chancen auf die Einbindung anderer Sprachen werden vertan.

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.
http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=2196

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.