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Einleitende Bemerkungen

Aylin Demir, ein 14 Jahre altes Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund, besucht seit dem ersten Erhebungszeitraum eine Hauptschule in Dortmund-Hörde[1]. Sie und ihr älterer Bruder wuchsen in Deutschland auf, alle anderen Kernfamilienmitglieder stammen aus der Türkei. Gemeinsam bewohnen sie ein Einfamilienhaus in Dortmund-Hörde. Ihr Vater ist selbstständig und betreibt einen kleinen Innenausbau-Betrieb, für den er auch die Geschäftsführung inne hat. Zu diesem Betrieb gehört eine Werkstatt und ein Betriebsgelände, welches die Familie nicht nur zu  Arbeitszwecken, sondern auch für gemeinsame Unternehmungen nutzt. Zugleich arbeitet er zeitweise als Montagearbeiter und ist entsprechend oft spät zu Hause. Ihre Mutter ist Hausfrau und hat nach den Angaben Aylins keinen Beruf erlernt. Die Schwester hat nach dem Hauptschulabschluss eine Ausbildung zur Arzthelferin begonnen und ist derzeit berufstätig, ihr Bruder, der zunächst gemeinsam mit Aylin die Hauptschule in Dortmund-Hörde besuchte, arbeitet nach seinem berufsvorbereitenden Jahr nun, wie sein Vater, als Montagearbeiter. Für Aylin ist jeweils ein weibliches Familienmitglied von herausragender Relevanz: Zunächst ihre ältere Schwester, mit der sie einen Großteil ihrer Freizeit verbringt und welche sie wie eine Freundin durch ihre Biografie begleitet. Im Verlauf der Erhebungen wird diese jedoch sukzessive durch Aylins Cousine abgelöst, welche dann einen essentiellen Stellenwert für Peeraktivitäten und die außerschulische Freizeitgestaltung einnimmt.

Diese Tendenz zu häufig auftretenden Wechseln in Beziehungskonstellationen lässt sich auch an Aylins Freundschaften nachzeichnen, die sich seit dem ersten Erhebungszeitraum stetig wandelten und auf die im Folgenden noch näher einzugehen sein wird.

Aylins Zukunftsvorstellung, ihr fokussiertes und erklärtes Ziel, besteht darin, auf der besuchten Hauptschule einen Realschulabschluss zu erlangen und sich damit für eine Ausbildung in ihrem Wunschberuf als Sekretärin zu qualifizieren. An dieser Stelle ist wichtig zu erwähnen, dass ihr der Realschulbesuch im Zuge des Überganges in die Sekundarstufe I durch ihren Vater verwehrt blieb. Trotzdem weist Aylins hohe schulische Bildungsambitionen auf, welche sich konstant durch ihre bisherige Biografie fortsetzen, jedoch wird diesen in den unterschiedlichen Peerkontexten jeweils eine andere Bedeutung beigemessen. Dies lässt sich u.a. daran erkennen, dass sich Aylins Schulnoten seit der fünften Klasse stetig verbessert haben und sie sich in den Interviews fortwährend als aktive Schülerin konstruiert und akribisch auf ihre Notenverbesserungen verweist.

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

 Wandel der Erzählweise: Von einer adaptierten zur reflexiven Repräsentation der eigenen Biografie

 Auffallend in Aylins Interviews ist ihre sehr episodenhafte Erzählweise. Es fällt ihr zu allen Erhebungszeitpunkten nicht leicht, eine eigenständige Thematisierung ihres Alltags vorzunehmen. Dies ist Grund dafür, dass häufig Erzählstimuli oder immanente Nachfragen seitens der Interviewerinnen gesetzt wurden. Dennoch wirkt Aylin stets bemüht, den Aufforderungen der Interviewerinnen nachzukommen, detaillierte Antworten kann sie v.a. dann geben, wenn sie sich konkreten Fragen konfrontiert sieht. Narrativ ausgestalten kann Aylin im Besonderen solche Themen, die sich als Höhepunkterzählungen rekonstruieren lassen oder im Zusammenhang mit ihrem Pflichtbewusstsein in Bezug auf Religion oder Schule stehen.

Auch ihr selektiver Narrationsstil bildet ein konstantes Moment, der immer wieder zu Auslassungen in ihren Ausführungen führt. So wird beispielsweise in der ersten Erhebungswelle rekonstruiert, dass derartige Auslassungen seitens Aylin mit mangelndem Erinnerungsvermögen expliziert werden – „sonst nich so (2) vieles […] das wars (.) also viel kann ich misch ja nich (.) erinnern“ (I: Aylin, 2005, 60-63) oder „annen Rest kann ich nich erinnern“ (I: Aylin 2005/06, 115f.). Zum letzten Interviewzeitpunkt betrifft dies zudem den Konflikt mit ihrer langjährigen Freundin Janina, der zu den verschiedenen Erhebungszeitpunkten wiederholt ein zentrales Thema in Aylins Erzählungen bildet und an dieser Stelle zugunsten einer Harmonisierung ausgelassen bzw. abgebrochen wird – „also ich hatte vorher so ne beste Freundin von mir? [I: hm-hm] und da hab ich mich auseinander gestritten aber (.) jetzt is das auch so (.) okay jetzt hamm wir uns wieder vertragen und alles (2) (I: Aylin 2009/10, 14-18).

Weiterhin auffällig schien Aylins veränderte Erzählweise in Bezug auf ihre Familie. Ein Faktor, der ihre Biografie für die Auswahl der Ankerfälle besonders interessant machte, war ihr sehr offenes Berichten über familiale Problemfelder, v.a. solche, die mit dem ethnischen Kontext in Verbindung stehen[2]. Diese Art der Berichterstattung zeigte sich jedoch nur in der ersten Erhebungswelle und konnte für die folgenden Befragungen nicht mehr verzeichnet werden.

Der stärkste Wandel vollzog sich jedoch in ihrem generellen Narrationsstil, der dadurch geprägt war, dass sie die Aussagen ihrer Schwester adaptierte. Damit wurde die eigene Biografie aus den Augen der Schwester erzählt und folglich an ihr konstruiert, was gleichzeitig auf den hohen biografischen Stellenwert der Schwester schließen ließ – „meine Schwester hat mir das alles erzählt“ und „ich weiß ja nicht viel von meiner Vergangenheit [I: hm] darum erzählt meine Schwester mir viel“ (I: Aylin 2005/06, 36f.; 312-315). Diese adaptierte Erzählweise konnte in den folgenden Interviews nicht mehr festgestellt werden. Aylin konstruierte sich vielmehr als autonome und selbstreflexive Berichterstatterin, die auch in der Lage war, Kritik an den mitunter restriktiven Praktiken der Familie zu üben, statt zum eigenen Schutz die Kritik ihrer Schwester aufzugreifen.

Interessant ist auch, dass das Thema Schule zu allen Erhebungszeitpunkten unterschiedlich verhandelt worden ist, jedoch beständig als Referenzbereich für Peeraktivitäten und -gemeinschaft angeführt wird. Zu späteren Erhebungszeitpunkten ließ sich feststellen, dass v.a. eine Zunahme an leitungsbezogenen Aspekten zu verzeichnen war und Schule dadurch stets als Dimension zwischen Freundschaft und individuellen Leistungen thematisiert worden ist.

Wandel der Relevanz der Familie: Familienmitglieder als Peerersatz

Im Folgenden soll erläutert werden, wie das Verhältnis zwischen Aylin und ihrer Familie als Wandlungsprozess beschrieben werden kann. Dieser Wandel, der sich beispielsweise anhand der Veränderungen der familialen Aufmerksamkeiten rekonstruieren lässt, hat zur Folge, dass sie sich innerhalb der Familie zu den verschiedenen Untersuchungszeitpunkten unterschiedlich darstellt. Von ihrem Erstinterview ausgehend, stellte sich Aylin als Mädchen dar, das zwischen den Fronten ihrer, für mehr Freiraum kämpfenden, Schwester und den, die Einhaltung traditioneller Werte einfordernden männlichen Bezugspersonen, wie ihrem Bruder oder ihrem Vater, steht. Die entscheidende Funktion in diesem Zusammenhang kommt Aylins Schwester zu, durch deren Hilfe sich Aylin allmählich den Weg in die Jugendlichkeit   bahnen konnte. Gleichzeitig verkörperte ihre Schwester in der ersten Erhebungswelle die Rolle einer Spielkameradin, besten Freundin und Fürsorgerin und löste damit z.T. sogar die Mutter ab – „meine Schwester hat immer auf mich aufgepasst sagt sie (.) die hat immer meine Windeln und so gewechselt mich gefüttert“ (I: Aylin 2005/06, 318f.).

Da Aylin ihre Freizeit zunehmend zu Hause verbringt und nicht viele außerschulische Gelegenheiten hat, um sich mit ihren Freundinnen zu treffen, übernimmt die Schwester die Rolle der besten Freundin und ermöglicht es Aylin, Peeraktivitäten auch außerhalb der Schule stattfinden zu lassen. Immer wieder bot ihre Schwester Möglichkeiten für einen Zugewinn an Freiraum, z.B. indem sie für Aylins Rechte gegenüber den Eltern eintrat oder mit ihr heimlich ins Schwimmbad ging und sie damit zur unterschwelligen Auflehnung aufrief – „und sie darf auch eigentlich nich mehr zum Schwimmbad aber wir gehen manchmal heimlich [I: hm] weil er [der Vater] sonst schimpft“ (I: Aylin 2005/06, 607-610). Zunächst konnte sie aus diesem Grunde auch die Position eines persönlichen Vorbilds einnehmen. Im Laufe der Erhebungen bekommt diese Vorbildfunktion schließlich Risse. Die Schwester gelangt vom Status  der „Ersatz-Mutter“ mit nahezu erzieherischem Auftrag, zu einer engen Vertrauten, einer Freundin, mit der Geheimnisse ausgetauscht werden können – „wir ham auch ganz viele Geheimnisse mit ihr (2) also wir sind so wie (.) richtig (.) beste Freundinnen (.) [I: hm] wie Zwillinge“ (I: Aylin, 2005/06, 345-349). In dieser Funktion weist ihr Aylin die Zuständigkeit über ihre biografischen Probleme und Zukunftsvisionen zu – „also (.) meine Schwester sagt ich kann sehr sehr gut zeichnen (.) die sagt also die macht mir Vorschlag dass ich n (.) ne Bauzeichnerin (.) werden könnte“ (I: Aylin 2005/06, 821f.).

In der zweiten Erhebungswelle tritt dann die Cousine Aylins an die Seite ihrer Schwester, wobei letztere erneut eine andere Rolle zugewiesen bekommt:

Die Beziehung zur Cousine, welche von Aylins Eltern initiiert wurde, bietet nun zusätzlich ein Potenzial für den Ausgleich der Peers. Dies ist auch ein wichtiger Hinweis auf die Familiensituation und auf die Rolle und Aufgaben, die Aylins Familie für sich in Anspruch nimmt: Die Schutz- und Sicherheitsfunktion, die aus den Analysen des zweiten Interviews herausgearbeitet wurde und damit die Fürsorgefunktion des ersten Interviews ablöste, kann derzeit erneut konstruiert werden. Immer noch wird die von den Eltern initiierte Freundschaft zur Cousine unterhalten und damit die Möglichkeit der aktiven Suche nach anderen Freundschaften außerhalb des familiären Kontextes erschwert. Es scheint als bedarf es keiner weiteren Freundschaftsbeziehungen außerhalb der Familie, da Familienmitglieder jene Peerfunktionen ausnahmslos erfüllen können.

So werden beispielsweise auch Wochenendaktivitäten obligatorisch im Referenzbereich der Familie verortet und Peeraktivitäten an die Familienmitglieder gekoppelt – „am Wochenende wenn wir gutes Wetter haben, (.) gehen wer samstags oft (.) dieseee was heißt oft, (.) fast jeden Samstag ehm beim guten Wetter, gehen wer in unsere Werkstatt? (.) grillen so“ (I: Aylin  2009/10, 377ff.). Aylin fügt sich den Absichten ihrer Eltern und kann schließlich eine intensive Freundschaftsbeziehung zu ihrer Cousine aufbauen. Gleichzeitig können diese dadurch weiterhin gewisse Kontrollfunktionen ausüben, da sie die Freizeitgestaltung ihrer Tochter und auch ihre Freundschaftsbeziehungen erheblich beeinflussen.[3]

Bezüglich der familiären Einflussnahme auf den Referenzbereich der Schule ist von Pfaff bereits beschrieben worden, dass die Leistungserwartungen, die seitens ihrer Eltern an Aylin herangetragen werden, auch über den Schulrahmen hinaus in den Kontakten zu Lehrern fortwirken (vgl. Pfaff 2008). In dieser ersten Erhebungswelle stellen die Peers einen Unterstützungskontext gegenüber den elterlichen Erwartungen dar, die als überfordernder Druck erfahren werden. Diese führen sich auch in der weiteren Analyse fort: So wird an Aylin herangetragen, fleißig und im Unterricht aktiv zu sein, viel zu lernen und darüber hinaus den Lehrpersonen auch auf einer persönlichen Ebene freundlich zu begegnen. Schulische  Unterstützung erfährt Aylin bei Bedarf von ihrer Schwester, da die Mutter kein deutsch spricht und ihr Vater, beruflich bedingt, oftmals nicht vor Ort ist. Dennoch spielt dieser eine wichtige Rolle, da er einem zunächst gering qualifizierenden Berufswunsch seiner Tochter kritisch gegenübersteht und möchte, dass sie sich gemäß seinen Vorstellungen einer anderen Ausbildung zuwendet.

In der letzten Erhebungswelle scheint sich die elterliche Aufmerksamkeit diesbezüglich nur noch auf die Zensuren Aylins zu richten, da sie sich, nach ihren Angaben, nur für Zeugnisse und bevorstehende Arbeiten  interessieren. Auch hier wendet sich Aylin bei Schwierigkeiten ausschließlich an ihre Schwester. Nun, da Aylin ihren Berufswunsch entsprechend angepasst hat und Sekretärin werden möchte, unterstützen sie ihre Eltern in diesem Wunsch und weisen sie stets darauf hin, dass sie dafür entsprechende Noten erhalten muss. Aylin berichtet selbst, dass diese Art der Erwartungen keinen Druck auf sie ausüben – „die freun sich oft über meine Noten“ (I: Aylin 2009/10, 649).

Insgesamt beschreibt Aylin ihre Familie in allen Interviews als komplementäres Zusammenspiel von Kontrolle und Konstanz, was sie gleichsam rigiden Strukturen aussetzt, aber auch Rückhalt bieten kann.

Wandel der Relevanz von Schule: Widerstände gegen die kontinuierliche Entwicklung individuellen Leistungsstrebens

Die Thematisierung von Schule erfolgt in Aylins biografischen Erzählungen immer wieder in unterschiedlichen kontextuellen Einbindungen, z.B. im Zusammenhang mit Freundinnen, der Familie oder der eigenen Leistungsverbesserung und ist je nach Erhebungszeitpunkt und entsprechender Peergroup durch unterschiedliche Bedeutungsnuancen gekennzeichnet. Ein starkes wiederkehrendes Moment in Aylins Darstellungen ist ihre hohe individuelle Leistungsorientierung, in der ersten und zweiten Erhebungswelle einhergehend mit einem damit verbundenen negativen Gegenhorizont ihrer Peers, die entgegengesetzte Positionen zu Aylins Schulfreude einnehmen.

In der ersten Erhebungswelle wird Schule als ein Ort symmetrischer Gleichaltrigenbeziehungen dargestellt, der die Initiierung und Aufrechterhaltung von Freundschaften ermöglicht. Dieser Raum zeigte sich für Aylin und ihre Peergroup als wichtiger Bestandteil der institutionalisierten Peeröffentlichkeit. Hier wurde eine kollektive Freizeitgestaltung möglich, indem ein Platz für freie Entfaltung und gleichberechtigte Entscheidungsfindung, unabhängig von den Eltern und ihren Intentionen, geschaffen worden ist. Schule wird, entsprechend der Ausrichtung der Peers, kaum als Ort des Qualifikationserwerbs gesehen, sondern vielmehr als ein Ermöglichungsraum für gemeinsame Aktivitäten. Demgegenüber berichtet sie, dass

sie gern zur Schule geht und erzählt mit gewissem Stolz, dass ihre Lehrerin ein sehr positives Bild von ihren schulischen Leistungen zeichnet – „Frau Nohme sagt (.) äh ich bin gut in der Schule“ (I: Aylin 2005/06, 381).

Auch in der zweiten Erhebungsphase wird Schule und Peerfreizeit auf einer gemeinsamen Ebene expliziert und beispielsweise die schulische Verbesserung in einem sehr engen Zusammenhang mit der Verbesserung der freundschaftlichen Beziehungen erwähnt – „Nur von mein Leistungen her hat sich was geändert und zu mein Klassenkameraden mein Verhältnis und so, zum positiven“ (I: Aylin 2007/08, 503-505). Aylins Blick auf die Schule hat sich jedoch insofern gewandelt, als die schulische Leistungserbringung in den Vordergrund gerückt wird. Eine Besonderheit, die Aylins Verhältnis zur Schule nun kennzeichnet ist, dass sie in ihrem neuen Gleichaltrigennetzwerk ihre hohen individuellen Leistungsbestrebungen nicht zur Schau stellen darf, um dem Vorwurf der überengagierten Streberin zu entgehen[4] und Zugang zur Gruppe zu erhalten. Gleichzeitig grenzt sich Aylin jedoch entschieden von leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern ab, die Tendenzen zur schulischen Renitenz erkennen lassen.

Auch zum letzten Erhebungszeitpunkt erhält Schule weiterhin den Bezug zum Peerkontext, wird jedoch im Interview stärker als zuvor über die Leistungsebene verhandelt. Aylin stellt sich fortwährend als aktive, strebsame und leistungsstarke Schülerin dar, die sich über die Verbesserung ihrer Noten positiv äußert, vom Lernen für die Schule berichtet und für sich selbst von der Schule und von Seiten der Lehrenden eine adäquate Vor- und Nachbereitung des Unterrichtsstoffes einfordert – „dies Jahr war ich (.) also (.) jetzt achte Klasse zweite Halbjahr, war ich auch von den Mädchen die Zweitbeste [I: hm-hm] so mein Zeugnis“ (I: Aylin 2009/10, 791-794).

In dieser Erhebungswelle tritt mehr als je zuvor die hohe individuelle Leistungsorientierung Aylins zu Tage, die sie nun auch als unabhängig von ihren Peers beschreibt, bzw. werden die Peers nun instrumentell für das Erreichen der schulischen Ziele. So beschreibt Aylin ihre Peergroup in diesem Zusammenhang als schulischen Unterstützungskontext, der für sie an der Stelle wirksam wird, an der sie von ihm profitieren kann. Aus diesem Blickwinkel wird auch ersichtlich, dass Aylin keine Peerkontakte mehr unterhalten kann, die sich schulnonkonform verhalten, sondern sie entwickelt ein Enaktierungspotenzial in Bezug auf die Wahl ihrer schulischen Freundschaften, deren Schulaffinität konstitutiv für die Beziehungen wird. Des Weiteren beschreibt Aylin Schule als einen Ort aktiver Steuerung und Einflussnahme, ganz im Gegensatz zu ihren teilweise fatalistischen Vorstellungen im Hinblick auf Gleichaltrigenbeziehungen, in denen sie sich wechselhaft als passiv und aktiv zugleich beschreibt. Damit gewinnt Schule auch die Funktion des Qualifikationserwerbs zurück, was sich in ihrem Bestreben dokumentiert, gute Zensuren zu bekommen, um den Realschulabschluss zu erlangen und eine Ausbildung zur Sekretärin anvisieren zu können.

In allen drei Erhebungswellen wird eine Freude, die mit dem Schulbesuch verbunden ist, sichtbar, jedoch auf der kommunikativen Ebene durch unterschiedliche Gegebenheiten immer wieder reduziert. So wird in der ersten Untersuchungsphase das Gewicht ihrer Schultasche zu einem Kritikpunkt, darauf folgend werden Ungerechtigkeitserfahrungen mit Lehrenden verhandelt und schließlich das Ganztagsschulkonzept als Freizeitverhinderer kritisiert. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Schule stets widersprüchlich sowohl als Ort der Ermöglichung als auch Begrenzung individuellen Strebens beschrieben wird und in dem gleichsam Freundschaftsbeziehungen immer wieder unterschiedliche Arten der Betrachtung erfahren. Diese werden im folgenden Kapitel untersucht.

Wandel der Relevanz von Peerbeziehungen: Freundschaften zwischen emotionaler Nähe und Instrumentalisierung

Aylins Perspektive auf ihre Freundschaften und auf die Funktionen, die Freundinnen innerhalb ihrer Biografie einnehmen können, haben sich seit der fünften Klasse stark gewandelt und unterliegen einer Tendenz, die als Rückgang der emotionalen Nähe zu Gunsten eines pragmatischen und eher distanzierten Freundschaftskonzepts beschrieben werden kann. Bereits mit zehn Jahren konnte Aylin ihr Beziehungsgeflecht reflexiv als gespalten   erfassen:

So charakterisierte sie zwei getrennt voneinander existierende Bereiche, in denen sie ihre ausgeprägte Gemeinschaftsorientierung verwirklichte. Diese bezieht sich auf die Herstellung verschiedener Gleichaltrigenkontexte mit unterschiedlichen Beziehungsqualitäten und ist durch die Dimensionen Autonomie, Selbstbestimmtheit und Stärke geprägt. Die Gleichaltrigen spielen hierbei, als Gegenhorizont zu den Eltern, eine entscheidende Rolle in der Gewährleistung und Entwicklung von Entscheidungsfreiheit und Autonomie. Aylin kann sich durch ihre Freundschaften als aktiv handelnde, kontaktfreudige, selbständige und autonome Person darstellen. Die weiter oben angedeutete Spaltung des Freundeskreises beschreibt Aylin zum einen als engen Freundeskreis mit spezifischen Qualitäten, zum anderen als ausgedehnten Freundeskreis. Zum engen Freundeskreis zählte sie ihre zwei besten Grundschulfreundinnen, denen sie Geheimnisse anvertrauen konnte und die Verhandlung emotionaler Problemlagen ganz entscheidendes Kriterium für die Aufrechterhaltung dieser Beziehungen war. In dem zweiten, weiteren Netzwerk verortete Aylin ihre übrigen Klassenkameradinnen. Dieses Agieren in den unterschiedlichen Kontexten geht für Aylin stets auch mit einer widersprüchlichen Selbstthematisierung einher, indem sie sich zum einen als aktiv handelnde Person im engen Freundeskreis und gleichzeitig als zurückgezogen und passiv unterordnende im losen Netzwerk darstellt.

Die Teilung ihrer Peergroup löste sich in den nachfolgenden Erzählungen auf und hatte das ausschließliche Agieren in einem losen Netzwerk zur Folge. Damit einhergehend kann durch die Peergroup die ursprüngliche Intensität und emotionale Nähe nicht mehr gewährleistet werden: Vorher als Kontext der Problembearbeitung und gegenseitiger emotionaler Unterstützung und Solidarisierung, nun als Kontext, um das Alleinsein zu verhindern und auch, um schulisches Profitieren zu ermöglichen. So werden Freunde nun nach ähnlichen schulischen Orientierungen ausgewählt, wobei Aylin gleichzeitig dem Strebervorwurf entgehen kann, indem sie Hilfe anbietet und sich damit zumindest den Schutz vor Stigmatisierung in der eigenen Peergroup sichert. So beschreibt sie fortan ihre Freundschaften nicht auf persönlicher Sympathie oder gemeinsamen Interessen gegründet, sondern als pragmatische Übereinkunft aufgrund struktureller schulischer Rahmenbedingungen – „es is auch so dass man (.) halt in der Klasse n bisschen mehr Freunde braucht weil (.) sonst is man alleine zwischen den Stunden oder man braucht irgendwann Hilfe und so (.) nich immer is n Lehrer da (3) °ja°“ (I: Aylin 2009/10, 580-583).

Durch den Konflikt mit ihrer vormals besten Freundin Janina verliert Aylin im Alter von zwölf Jahren eine wichtige schulische Bezugsperson, ohne deren Hilfe und Unterstützung es ihr sehr schwer fällt, sich in diesem Raum weiterhin als aktiv zu verorten. Dies hat zur Folge, dass sie nunmehr auf andere, weit weniger enge Kontakte in ihrem Gleichaltrigennetzwerk zurückgreift. Aufgrund der anderen Beziehungsqualität im engen Freundschaftskreis konnte stets auch eine starke Orientierung an einer Einzelfreundschaft, vorzugsweise mit Janina, dokumentiert werden, die sie in dieser Art jedoch nicht mehr verwirklichen konnte. Weiterhin muss sie sich nun in ihrem Freundschaftsgefüge attraktiv machen, um Akzeptanz zu erfahren, was zur Folge hat, dass das individuelle Leistungsstreben vor den anderen verborgen wird, um nicht in eine Außenseiterposition zu gelangen.

Damit lässt sich, ausgehend von der ersten Erhebungswelle, ein Wandel verzeichnen, in dem es Aylin zunächst wichtig war, dass sie als gleichberechtigte Interaktionspartnerin keinen vorstrukturierten Machtverhältnissen unterliegt und in der sie eine Machtsymmetrie in ihren Freundschaften anstrebte, hin zu asymmetrischen Beziehungskonstellationen, welche in einem engen Zusammenhang mit ihrem Rückzug in die Passivität stehen.

Im Alter von 14 Jahren unterläuft Aylin diese Unterordnung, indem sie sich ihrer Peergroup gegenüber als verhältnismäßig indifferent darstellt. Sie bewegt sich weiterhin in einem losen Freundschaftsnetzwerk, doch beschreibt die Freundschaft zu den anderen Gleichaltrigen nun als zweckrational, wobei sie eine Ermöglichung des Verfolgens ihrer individuellen schulischen Leistungsorientierung als zentrales Motiv markiert. Dies äußert sich in einer Haltung Aylins, die den Anschein erweckt, als wären ihre Freundinnen insgesamt austauschbar. Ferner steht sie auch dem Ende der Freundschaftsbeziehungen nach Beendigung der Schulzeit indifferent gegenüber:

Aus ihren Erzählungen wird ersichtlich, dass Freundschaft sich nun hauptsächlich auf Schule konzentriert und außerhalb des Schulkontextes kaum von Belang ist. Ein Interesse an der Aufrechterhaltung einer Freundschaft besteht nur zur Cousine – „meine Cousine halt in meiner Familie (.) hab ich mehr Zeit für die […] ich glaube mit der werd ich noch ganz gut (.) befreundet sein“ (I: Aylin 2009/10, 825-830). Unterstrichen wird dieses Charakteristikum zusätzlich dadurch, dass v.a. Hausaufgabenhilfe und die gemeinsame Pausengestaltung für die Freundschaften konstitutiv ist, wohingegen Persönlichkeitsmerkmale, Vorlieben oder ähnliches eher nebensächlich bleiben. Noch in der ersten Erhebungswelle berichtete sie von gemeinsam verbrachter Freizeit mit ihrer multikulturellen Mädchengruppe zu Hause oder bei anderen Mädchen, was, teilweise sicherlich auf die eingeschränkte Freizeit durch die Ganztagsschule zurückzuführen, in dieser Form nicht mehr stattfindet[5].  Ausgleichend dazu wirken Aylins Schwester, zu der sie ihre Verbundenheit mit dem Vergleich „wie Zwillinge“ (I: Aylin, 2005/06, 349) expliziert und Cousine, deren Beziehung zu ihr sie „so ganz ganz ganz so wie beste  Freunde“ (I: Aylin 2009/10, 644f.) versteht.

Insgesamt lassen sich also folgende Wandlungsprozesse in Aylins Peerbeziehungen feststellen: Die Gemeinschaftsorientierung, durch die sie sich als aktiv handelnde Person darstellen konnte, existiert in dieser Form nicht mehr. Aylin stilisiert sich im losen Beziehungsgeflecht als passiv und Freundschaft kann für schulische Belange instrumentalisiert werden, während kompensierend dazu das Familiennetzwerk wirkt. Die Orientierung an einer Einzelfreundschaft außerhalb der Familie existiert zunächst noch in der zweiten Erhebungswelle, konnte jedoch zum letzten Erhebungszeitpunkt nicht mehr rekonstruiert werden. Die Orientierung im Hinblick auf Freundschaft unterliegt der Tendenz des Abbaus emotionaler Nähe und endet schließlich als Zweckbeziehung im institutionellen Kontext: Freundschaften werden für die Schule instrumentalisiert und infolgedessen außerhalb von Schule nicht weiter verfolgt.

Fußnoten:

[1] vgl. hierfür auch Pfaff 2008, S. 97-117

[2] In Studien wird berichtet, dass Migranten und Migrantinnen Streit in der Familie oftmals nicht thematisieren, bzw. werden konflikthafte Situationen oftmals autoritär entschieden und deshalb nicht zur Disposition gestellt (vgl. Betz 2005b, S. 276f.).

[3] Immer wieder konstruiert sich Aylin innerhalb eines traditionellen muslimischen  Familienbildes, bei dem sie einigen Restriktionen unterworfen wird, Statusunterschiede und  Hierarchien in der Familie aufgezeigt oder bestimmte Rollenverständnisse an sie herangetragen werden. Im Vergleich zu vorherigen Erhebungszeitpunkten wird dieser Umstand in der dritten Untersuchungsphase von ihr nicht mehr kritisiert.

[4] vgl. dazu Kapitel 3.3.2 in diesem Aufsatz

[5] Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ein Anspruch, der mit dem Ausbau von Ganztagsschulen als Regelfall verbunden ist, lautet, eine ungleich verteilte Nutzung von Bildungsangeboten zu kompensieren (vgl. hierfür u.a. Rauschenbach 2006, S. 6). Diese formalen Angebote können von der Freundschaftsgruppe um Aylin nicht genutzt werden, sondern haben dramatischerweise einen gegenteiligen Effekt zur Folge, nämlich, dass informelle und außerschulische Lernprozesse, die vormals eben unabhängig von der Institution stattfinden konnten, geradezu verhindert werden.

Literaturangabe:

Pfaff, N.: Aylin Demir – die Unterordnung des Bildungsanspruchs in einem Migrationsmilieu. In: Krüger, H.-H./Köhler, S.-M./Zschach, M./Pfaff, N.: Kinder und ihre Peers. Freundschaftsbeziehungen und schulische Bildungsbiographien. Opladen/ Farmington Hills 2008, S. 97-117

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
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