Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Nadja Tafel besucht im Leipziger Stadtgebiet ein Gymnasium mit christlicher Ausrichtung. Von einer alternativen, reformpädagogischen Grundschule kommend, wechselte sie nach der vierten Klasse zu dieser exklusiven Bildungseinrichtung. Nadja ist eine leistungsstarke Schülerin mit sehr guten Noten.

Ihre Interessen sind vorwiegend musischer, kreativer, religiöser und hauptsächlich bildungsnaher Natur. Sie versteht sich selbst als einen musikalischen Menschen, der hauptsächlich „viel Musik aber eigentlich überhaupt kein’ Sport“ (I: Nadja 2005/06, 1469f.) macht. Das Musizieren bildet den Schwerpunkt ihrer Freizeitbeschäftigung, hinzu kommt das aktive Engagement in einer christlichen Gemeinde und die damit verbundene regelmäßige Teilnahme an Gottesdiensten sowie der wöchentliche Besuch des Konfirmandenunterrichts in der zweiten bzw. der Jungen Gemeinde in der dritten Erhebungswelle. Zu ihren feststehenden Terminen gehören zudem Geigen- und Klavierstunden, Chorproben sowie der Unterricht in Musiktheorie. Zusätzlich berichtet Nadja innerhalb der dritten Erhebungswelle, dass sie nun Mitglied des Landesjugendorchesters Sachsen ist.

Nadjas Lebenswelt ist geprägt von institutionellen Gegebenheiten, so beschränken sich ihre freizeitlichen Kontakte zu Gleichaltrigen auch hauptsächlich auf den Aktionsradius der Schule oder auf den der Gemeinde. Sie wächst in einer christlich orientierten Großfamilie auf, die ihr eine frühe und intensive Ausbildung der musikalischen und kreativen Fähigkeiten ermöglicht. Die Familie unterstützt Nadja in dem Erwerb eines großen Wissensschatzes und prägt somit ihren Lern- und Bildungshabitus.

Im Folgenden sollen ihre individuellen Orientierungen hinsichtlich Familie, Schule und Peers genauer rekonstruiert und zusammenfassend beschrieben werden.

 Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Wandel der Erzählweise: Nadja Tafel als distanzierte Beobachterin ihrer eigenen Biografie

Die Interviews, die über alle drei Erhebungswellen hinweg mit Nadja Tafel geführt wurden, zeichnen sich durch eine hohe sprachliche Ausdrucksfähigkeit und einen erzählerischen Perfektionismus aus. Dies zeigt sich bereits in ihrer Reaktion auf den Eingangsstimulus, der ihre Erinnerungen zum bisherigen Lebensverlauf erfragt. Nadja berichtet bereits im ersten Interview detail- genau, indem sie ihre frühesten Lebenserinnerungen ins Gedächtnis ruft. Sie bearbeitet den Stimulus der Interviewerin wie eine Schulaufgabe, mit dem Ziel, sie bestmöglich zu erledigen. Entlang der von ihr besuchten Institutionen erzählt Nadja ihr Leben gänzlich selbstständig und sehr ausführlich, ohne die Notwendigkeit einer weiteren Erzählaufforderung. Die Erzählung beginnt mit der Kindergartenzeit und deren struktureller Konzeption der verschiedenen Kindergruppen. Präzise berichtet Nadja ihren institutionellen Werdegang im Regenbogenkindergarten, beginnend mit der Bienengruppe, gefolgt von der Schmetterlingsgruppe und schließlich der Käfergruppe (vgl. Deppe 2008, S. 38).

In korrekter zeitlicher Reihenfolge schließen sich an die Erzählung der Kindergartenzeit einige Anekdoten zur Einschulung und der damit verbundenen Grundschulzeit an. So beschreibt uns Nadja ganz ausführlich ihren damaligen Schulhof:

Bereits in der ersten Erhebungswelle dokumentiert sich Nadja Tafels Affinität zur starken Detaillierung und ihr chronologisch-systematischer, hauptsächlich beschreibender sowie argumentativ-theoretischer Erzählmodus, der sich auch in der zweiten und dritten Untersuchungsphase zeigt. Zudem fällt auf, dass Nadjas detaillierte Beschreibungen selten die Interaktionen mit Anderen bein- halten. Stets richtet sich ihr Interesse auf ihre materielle Umwelt. So wird zum Beispiel der Spielplatz einer genauen Beschreibung unterzogen, die damit verbundenen persönlichen Interaktionen aber übergangen oder ausgelassen.

Auch dramatische Einschnitte in Nadjas Leben werden ohne emotionale Beteiligung erzählt. Dies zeigt sich beispielhaft darin, wie Nadja den Schulwechsel einer sehr engen Freundin aus ihrer Klasse beschreibt:

Nadjas Beschreibungen sind distanziert, sie selbst abstrahiert diesen Verlust als einen der Klassengemeinschaft, nicht als einen, der sie persönlich trifft. Zudem fällt auf, dass sie oft nur wenig in Ereignisse involviert zu sein scheint, auch wenn diese eine große Bedeutung für sie haben. Innerhalb der drei geführten Interviews bleibt Nadjas Sprachstil auf konstant hohem Niveau. Dabei nimmt sie die Position einer Beobachterin ihrer eigenen Biografie ein. Distanziert analysierend erzählt sie über viele Erlebnisse in ihrem Leben. Nadja berichtet sachlich und beobachtend über ihre direkte Umwelt bzw. Lebenswelt, klammert jedoch in ihren Erzählungen persönliche und emotionale Erwähnungen über sich selbst vollkommen aus. So entsteht der Eindruck einer strategischen Auswahl vernunftsorientierter Äußerungen, die kaum affektiv sind. Dies verdeutlicht bereits ihre hohen Ansprüche an sich selbst und die Exklusivität ihrer Persönlichkeit.

Wandel der Relevanz der Familie: Die Familie als Lern- und Bildungskapital

Das Thema Familie findet in allen Ausführungen Nadjas nur eine randständige Erwähnung. Erst auf Nachfragen berichtet sie darüber. Andere Themen- kreise, wie die der Freunde, der Musik und vor allem der Schule werden von ihr deutlich häufiger und intensiver angesprochen. In den ersten beiden Erhebungswellen lebt sie mit ihren leiblichen, verheirateten Eltern und ihren fünf Geschwistern in einer großen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus einer Leipziger Kirchengemeinde. Sie ist das zweitälteste Kind in der Geschwister- reihe. Zum Zeitpunkt der ersten Erhebungsphase ist Nadjas Mutter Hausfrau und kümmert sich ausschließlich um die Versorgung und Betreuung der Kin- der. Zuvor übte sie den Beruf der Altenpflegerin aus, hat jedoch zusätzlich ein Studium der Sprechwissenschaften abgeschlossen. Nadjas Vater ist Theologe an der Leipziger Universität und erwirtschaftet zu dieser Zeit das Familieneinkommen. Zwei Jahre später, in der nächsten Erhebungsphase, haben sich die Rollen- und Arbeitsaufteilungen sowie die Beziehungsstruktur inner- halb der Familie grundlegend verändert. Nun befindet sich der Vater in Elternzeit, und die Mutter arbeitet wieder im Bereich der Altenpflege. Im Interview der dritten Erhebungsphase berichtet Nadja, ihre Mutter sei von zu Hau- se ausgezogen und wohne nun in unmittelbarer Nachbarschaft. Sie und ihre Geschwister sind jedes zweite Wochenende zu Besuch bei der Mutter. Zudem gibt es unregelmäßig – abhängig vom Schichtdienst der Mutter und den nachmittäglichen Verpflichtungen Nadjas –  Besuche  innerhalb  der  Woche, z.B. zum Abendbrot essen. Diese Treffen sind jedoch eher selten. Nadja lebt mit ihren Geschwistern und ihrem Vater, der seine Tätigkeit im wissenschaftlichen Bereich wieder aufnahm, in der bisherigen Wohnung.

Die familiären Strukturen erleben innerhalb der drei Erhebungsphasen einige komplizierte Veränderungen. Die Familie symbolisiert für Nadja im höchsten Maße eine Selbstverständlichkeit. Die Veränderungen der Familienstruktur haben wenig Auswirkungen auf Nadjas Lebenswelt, sie „gewöhnt sich da eben dran und da is das irgndwie ganz normal“ (I: Nadja 2007/08, 1087 f.). Die neuen Familienverhältnisse, die sich aus der Trennung der Eltern ergaben, werden als selbstverständlich dargestellt. Die bedingungs- lose Integration der neuen familiären Situation in ihr Leben dokumentiert ei- ne Orientierung an Stabilität und Normalität.

Nadja hat eine starke Orientierung an Familie. Trotzdem versucht  sie stets ihre Autonomie zu wahren. So berichtet Nadja über ihre Streitkultur innerhalb der Familie. Konfliktsituationen, die zu Nadjas Alltag gehören, entstehen wenn Nadja „aber ’ne andre Meinung oder so“ (I: Nadja 2007/08, 1358f.) hat. Das Beharren auf die eigene Meinung und die Selbstständigkeit verdeutlichen Nadjas starke Orientierung an Individualität. Sie zeigt sich als ein eigenständiges Individuum, dass sich von den Meinungen anderer nicht beeinflussen lässt. Der Austausch von Meinungsverschiedenheiten und die Diskussionskultur korrespondieren mit der Bildungsorientierung seitens der Familie.

Gemeinsame freizeitliche Beschäftigungen der Geschwister beruhen meist auf Bildungsaktivitäten. Dabei übernimmt Nadja mütterliche und unterstützen- de Aufgaben hinsichtlich einer schulischen Arbeitsorientierung und Lernhaltung, indem sie ihren Bruder beispielsweise wie eine Lehrerin anleitet:

Zudem gestaltet Nadja ihre Freizeit mit ihrer Schwester, indem sie malen oder sie  „basteln was oder ähm nehm irgndwelchn Quatsch mit Evas Digitalkamera auf oder so und da (.) ja (2) oder spieln auch ma aufn Klavier“ (I: Nadja 2007/08, 998-1000).

Die Zitate verdeutlichen, dass die Geschwister für Nadja eine Art Peergroup sind, die von bildungsabhängigen Hierarchien durchzogen ist. Während Nadja gegenüber den jüngeren Geschwistern einen belehrenden Habitus annimmt, sieht sie ihre ältere Schwester eher in einer Vorbildfunktion.

Trotz der einschlägigen Veränderungen des Familienlebens bleibt die hohe Bildungsaspiration konstant. Die ausgeprägte Orientierung an Bildung im familiären Kontext verdeutlicht sich nicht nur in den Bildungsaktivitäten der Kinder untereinander, sondern zudem in den kulturell geprägten Reisen und Kurzausflügen der Familie. In jedem der drei geführten Interviews berichtet Nadja über die Urlaube im Familienkontext, sowohl im Inland, beispielsweise die Fahrten an die Mecklenburgische Seenplatte, ins Dresdener Umland oder an die Ostsee, sowie ins Ausland, wie die Reisen nach New York und Washington, den Kurztrip nach London, den Winterurlaub in Tschechien, den Sommerurlaub in Dänemark. Mit solchen Reisen und den wochenendlichen Fahrradtouren der Familie im Leipziger Umland verbindet Nadja hauptsächlich neue kulturellen Erfahrungen, die sie sich durch Museumsbesuche oder die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten aneignet:

Die vielen Reisen und Unternehmungen innerhalb des Familienlebens ermöglichen Nadja die Aneignung von soziokulturellem Kapital und den Erwerb von wertvollem Bildungskapital sowie eine exzellente schulische, musikalische und religiöse Ausbildung.

Wandel der Relevanz von Schule: Das Streben nach Bestleistungen

Nadjas Erzählungen der ersten Erhebungswelle berichten oft über Bildungseinrichtungen und Erlebnisse, die sie in diesem Kontext sammeln konnte. Ihre Grundschulzeit verbrachte sie auf einer reformpädagogischen Schule, auf der sie lernte, sich selbstorganisiert Bildung anzueignen. Das Schreiben und Lesen brachte sich Nadja bereits vor dem Schulbeginn selbst bei:

Aus diesem Zitat geht hervor, dass das Aneignen von neuen Wissensbeständen für Nadja als eine Selbstverständlichkeit gilt. Demzufolge ist das selbstständige Lernen nicht nur Resultat der Anforderungen der Schule, sondern eine individuelle Orientierung Nadjas, für deren Erwerb sie nicht auf die Vermittlungskompetenzen von Lehrenden oder Eltern angewiesen ist. Dies bringt sie in Vorteil gegenüber anderen Kindern ihrer Klasse und erlaubte ihr das Überspringen der dritten Klassenstufe.

Mit dem Wechsel von der Kreativitäts-Grundschule auf ein städtisches Gymnasium in freier Trägerschaft und exklusiven Ansprüchen geht ein Wandel von Nadjas Lernverständnis einher. So reflektiert Nadja in der zweiten Erhebungswelle beispielsweise die grundlegend unterschiedlichen Unterrichtsformen wie folgt:

Während Nadja das Wissen auf der Grundschule mehrheitlich als lehrerunabhängig beschrieb, charakterisiert sie die gymnasiale Lernform nun hauptsächlich als Frontalunterricht. Dabei rücken die Lehrenden in den Mittelpunkt der Vermittlung von Wissen. Die Folge dessen ist, dass „Schule eigentlich gar nich immer so viel Spaß macht“ (I: Nadja 2007/8, 1086f.). Kleinere Schwierigkeiten in der Schule erklärt Nadja mit ihren bis dato wenigen Erfahrungen mit der neuen Lehrerschaft:

Immer wieder beschreibt Nadja das Lernen am Gymnasium als fremdbestimmt und ihr Interesse daran als beeinflussbar durch Inhalte sowie die Art und Weise der Vermittlung. Nadja verdeutlicht dies am Beispiel ihrer Mathelehrerin:

Nadja schätzt nicht nur die Fähigkeiten der Lehrerschaft ein, sondern bewertet zudem deren Vermittlungsleistungen und weist damit eine Orientierung auf, in der Pädagogen und Pädagoginnen in erster Linie Erbringer von Dienstleistungen sind. Dies verdeutlicht Nadjas Orientierung an kritischer Einschätzung. So übt sie teilweise indirekt Kritik, indem sie unter anderem über Lehrinhalte sagt, „dann muss man sehn wie man das versteht“ (I: Nadja 2007/08, 28f.). Daran lässt sich der Anspruch ablesen, nicht nur gute Leistungen zu erreichen, sondern die Sachverhalte grundlegend zu verstehen. Trotz alledem erbringt Nadja ausgezeichnete Leistungen, was dafür spricht, dass ihr das Leistungsniveau und die Anforderungen keine Schwierigkeiten bereiten:

Nadja selbst stellt sich als eine leistungsstarke Schülerin dar, die für Schuler- folge kaum Anstrengungen aufbringen muss. Um gute Noten zu bekommen, genügt es, dem Unterricht aufmerksam zu folgen. Schulische Erfolge sind für Nadja sehr bedeutend, da sie mit ähnlich leistungsstarken Schülern und Schülerinnen um die besten Noten konkurriert:

Dem Zitat kann man entnehmen, dass es Nadja nicht genügt, durchschnittliche Noten zu bekommen, sondern dass sie Bestleistungen anstrebt, um im direkten Notenvergleich besser abzuschneiden als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Darin dokumentiert sich eine hohe Leistungs- und Erfolgsorientierung im schulischen Kontext. Schule nimmt in ihrem Leben einen enorm hohen Stellenwert ein. Denn trotz ihrer großen Leidenschaft zum Musizieren räumt Nadja in der dritten Erhebungswelle ein, dass sie das Geigenspielen für die Schule opfern würde, wenn in der Schule „eben alles immer (.) stressiger und komplizierter und so“ (I: Nadja 2009/10, 1200) wird. Schule ist für Nadja ein bedeutender Ort, denn er strukturiert ihren Alltag, ist lebenszeitausfüllend und stellt klare Leistungsanforderungen. Weiterhin ist dies der Raum, in dem Nadja ihre Freundschaften findet.

Wandel der Relevanz von Peerbeziehungen: Freundinnen als funktionale Begleiter in institutionellen Kontexten

Nadjas Prinzip der Freundschaften lässt sich wie folgt zusammenfassen: freundschaftliche Beziehungskonstitutionen werden durch institutionelle Nähe hergestellt. In allen drei Erhebungswellen finden Kontakte zu Gleichaltrigen fast ausschließlich im Kontext von Bildungseinrichtungen statt. Dem- nach konstituieren sich Nadjas Freundschaften – im Gegensatz zur ersten Erhebungswelle – in der zweiten und dritten Untersuchungsphase ausschließ- lich innerhalb von Institutionen, wie der Schule oder der christlichen Kirchengemeinde. Außerhalb dessen pflegt sie ihre freundschaftlichen Kontakte nicht. Sie selbst reflektiert durchaus die Tatsache, dass sie ihre Freundinnen noch nie zu sich nach Hause eingeladen hat und sieht darin selbst einen Um- stand, den sie gerne ändern würde, es aber nicht kann (vgl. Deppe 2008, S. 45). Um dieses ihr bewusste Defizit und die wenigen Freundschaftskontakte, die sie hat, wieder auszugleichen, argumentiert Nadja mit der Qualität der Beziehungen. Es geht ihr nicht um oberflächliche Beziehungen, sondern um den Erhalt zwar weniger, jedoch umso intensiverer Freundschaften. Faktisch können derlei Freundschaftsbeziehungen jedoch nicht rekonstruiert werden. Auf die Frage hin, was sie besonders an ihren Freundinnen schätzt, antwortet Nadja, dass man sie schnell mal nach Sachen fragen kann, sie immer bereit sind, ihr zu helfen und ihre Fragen zu beantworten (I: Nadja 2005/06, 1604-1609). Dies sind Hilfeleistungen, die sich auf schulische Belange beziehen, nicht aber auf emotionale Unterstützungen. Auch das Weggehen zweier Freundinnen in der zweiten Erhebungswelle wird nicht emotional als große Entbehrung thematisiert:

Hieraus wird deutlich, dass die entstandene Distanz zu den Freundinnen zwangsläufig mit einem Bruch der Freundschaften einhergeht. Nadja selbst hält sich nicht für fähig, über weite Entfernungen und ohne gemeinsamen institutionellen Kontext Freundschaften auf Dauer aufrecht zu erhalten.

Das Zitat zeigt, dass Nadja die Fähigkeit besitzt, schnell neue Kontakte zu intensivieren, trotzdem geschieht dies immer nur in einem von der Institution vorgegebenen und abgesicherten Rahmen. So wendet sie sich konkret bereits bestehenden, aber weniger engen Kontakten in der Klasse zu, mit dem Ziel, diese nach Wegzug ihrer engsten Freundinnen, zu intensivieren.

Hier dokumentiert sich das geringe Enaktierungspotenzial Nadjas beim Aufrechterhalten von Freundschaften außerhalb von Bildungsinstitutionen. Daraus resultiert, dass die Peers für Nadja lediglich funktionale Begleiterinnen darstellen. Denn auch wenn ihre Freundschaften wechseln, bleibt die Funktion der Peers gleich. Sie begleiten Nadja ausschließlich auf ihrem Weg durch die Bildungsinstitutionen.

Die Einbindungen in Institutionen, die gleichzeitig gemeinschaftsstiftend wirken und Grundlage für Gesprächsstoff bieten, sind Voraussetzung für den Bestand der Freundschaften. Das folgende Zitat aus der dritten Erhebungs- welle zeigt, dass Nadja für sich auch zukünftig Schwierigkeiten sieht, Freundschaften über einen längeren Zeitraum und ohne gemeinsame institutionelle Basis aufrechtzuerhalten:

Freundschaften erfüllen für Nadja in erster Linie praktische Funktionen, das bedeutet, dass man einander hilft, sich gegenseitig unterstützt oder sich über rahmengebende Themen unterhält. Dies verdeutlicht, dass sowohl eine Orientierung an sozialer Integration innerhalb institutioneller Kontexte besteht als auch eine Orientierung an einer Gleichaltrigengruppe. Denn Nadja ist stets bemüht, nach dem Wegbrechen freundschaftlicher Kontakte neue Freundinnen zu gewinnen.

Der individuelle Orientierungsrahmen: Nadjas Autonomieanspruch und der Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit

Nadja ist eine schulisch erfolgreiche Gymnasiastin aus dem höheren sozialen Milieu, die in ihrer Freizeit hochkulturellen Aktivitäten nachgeht. Dieses Muster dokumentiert sich bereits in der ersten Erhebungswelle und setzt sich in den darauf folgenden zwei Erhebungsphasen fort. Nadjas Orientierungen sind durch Stabilität gekennzeichnet.

In ihren biografischen Erzählungen stellt sich Nadja als von den Eltern, Geschwistern und Freunden unabhängig, d.h. als autonom, erfolgs- und bildungsorientiert dar. Der individuelle und leistungsorientierte Habitus Nadjas wird hauptsächlich durch den Kontext der modernen christlich-konservativen Großfamilie geprägt. Die hochkulturellen Praxen der Familie, wie die vielen Bildungsreisen, die Bildungsaktivitäten mit den Geschwistern und die offenen Diskussionen sind ausschlaggebende Grundlagen für Nadjas Bildungserfolg. Die Individualität spiegelt sich in ihrer kritischen Haltung, ihrem Autonomieanspruch innerhalb der Familie sowie ihrem Leistungs- und Erfolgsanspruch wider.

In ferner Zukunft möchte sie studieren, eventuell Geschichte oder im Bereich der Naturwissenschaften. Anschließend stellt sie sich – dem beruflichen Werdegang des Vaters folgend – vor, als Forscherin zu arbeiten, weil sie sich dann mit  „irgendwelchen (.) Problemen oder Fragen“ beschäftigen kann und so eben mehr „Zeit hat und die Mittel sozusagen zur Verfügung gest- äh gestellt bekommt (2) uuund (.) dass man eben so (.) ja (.) sich dann mal eben über was was einen au- intressiert Gedanken machen kann“ (I: Nadja 2009/10, 1982-1986). Die hoch gesteckten beruflichen Ziele symbolisieren Nadjas Erfolgs- und Leistungsorientierung; ihre Wünsche nach der freischaffenden Tätigkeit einer Forscherin spiegeln ihre Bedürfnisse nach Individualität wieder.

Auch das christlich-konservative Konzept von Familie hat Nadja in ihren Lebensentwurf integriert. Sie wünscht sich „eigentlich schon Kinder aber auf kein Fall n Einzelkind“, möchte „n schönes kleines (2) Häuschen“ mit „sooo ganz schöne so (.) richtich alte Möbel die dann so (2) weiß nich so gemütlich sind“ und „irgendwie (2) bunt und (.) mit (.) möglichst irgendwie °äh° viel Pflanzen und so und (.) auch in ner schönen Gegend wo dann °eben° (.) wo ich auch nich weiß ob das dann (2) nun aufm Land is oder in der Stadt“ (I: Nadja 2009/10, 2218f.; 2196; 2206-2212). Nadja orientiert sich somit auch in ihrem Zukunftskonzept an traditionell bürgerlichen Werten.

Literaturangaben:

Deppe, U.: Nadja Tafel – erfolgreiche Schülerin mit musikalischer Freundesgruppe im christlich-akademischen Milieu. In: Krüger, H.-H./Köhler, S.-M./Zschach, M./Pfaff, N.: Kinder und ihre Peers. Freundschaftsbeziehungen und schulische Bildungsbiographien. Opladen/Farmington Hills 2008, S. 37-56

 
Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
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