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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Wandel der zentralen kollektiven Orientierungen der Gruppen vor dem Hintergrund gemeinsamer Freizeitpraxen – Das Streben nach Erfolg – Wenn Freizeit zur Arbeit wird

Wie bereits an der Zusammensetzung der Gruppen deutlich wurde, verfügen Nadja und ihre Freundinnen in der ersten Untersuchungsphase noch durchaus über verschiedene, sich überschneidende Kontexte, in denen sie sich gemeinsam bewegen. Dies wird zudem auch in der Fülle unterschiedlicher Praxen der Kinder evident. So konnten das gemeinsame informelle Spielen, das Mitwirken in der Streichergruppe und vor allem der Meinungsaustausch sowie die Distinktion gegenüber anderen als gemeinsame und gruppenkonstituierende Hauptpraxen in Bezug auf das Freizeitverhalten der Kinder rekonstruiert werden. Neben dem informellen Spielen, welches sich in Form von Fußball oder Räuber und Gendarm spielen noch in der ersten Erhebungswelle zeigt und zu dem auch erste zaghafte und stets unter elterlicher Kontrolle verbleibende Auflehnungsversuche der Gruppe fallen, „Tw: nein also aber wir zünden natürlich nur mit Erlaubnis unserer Eltern was an“ (GD: Nadja 2005/06, 59-63) stellt sich die Praxis des Spielens im Streichorchester als weniger geprägt von Leistungsdenken und Disziplin und stärker an gemeinsamem Spaß  und  Kommunikation  orientiert dar. Mittels Ironie werden hier z.B. indirekt durch die Mutter herangetragene Leistungsansprüche konterkariert.

Dennoch handelt es sich um einen formalisierten Rahmen der Freizeitaktivität, welche letztere Orientierungen an Spaß und Kommunikation per se weniger zulässt. Vor allem der Meinungsaustausch zeichnet sich als eine zentrale Praxis der Gruppen ab, wobei es zur kritischen Auseinandersetzung mit aktuell medial vermittelten Sachverhalten kommt. Die Partizipation am   Weltgeschehen sowie der Austausch darüber wird auch genutzt, um die richtige Verwendung von Fremdwörtern in der Gruppe auszuhandeln – dazu gehört, dass man sich gegenseitig korrigiert und Sachverhalte oder Fremdwörter erklärt.  Das  folgende  Beispiel  zeigt  dies  anhand  einer  Diskussion  über die „Vogelgrippe“.

Hier wird also der Erwerb von Bildung über den Besuch von exklusiven Bildungsinstitutionen hinaus in der Peergroup deutlich. Auch lässt sich die Distinktion als Gruppenpraxis über die meisten Themen hinweg verfolgen und muss herangezogen werden, um durch die Abgrenzung von anderen Gruppen die eigene Gruppenidentität zu stabilisieren. Damit verbunden erscheint die Grundhaltung „besser zu sein als andere“ als konstitutiv für die Gruppe, welche die Abgrenzungspraktik anhand folgender Distinktionsmerkmale sichtbar werden lässt: So scheint es wichtig zu sein, welche Berufe die Eltern aus- üben, welche Bildungsabschlüsse sie vorweisen können, ob man religiös ist, wie musikalisch man ist und welche schulischen und in Bezug auf Theodora auch sportlichen Leistungen man erbringen kann. Die Gruppe hat also eine stark differenzierte Kontrastfolie ausgeprägt, vor deren Hintergrund sie die eigene Lebensweise von anderen abgrenzen kann. Freundschaft wird von der Gruppe nicht thematisiert. So lässt sich anhand der Gruppenstruktur und der Art, wie die Mädchen miteinander umgehen schließen, dass es sich hierbei weder um eine Freundesgruppe noch um eine Clique, sondern eher um ein Freundschaftsnetzwerk handelt.

All diese Merkmale und Praxen, welche sich in der ersten Erhebung zeigen, werden auch in den folgenden Erhebungen fortgeschrieben. Im Laufe der Zeit unterliegen sie jedoch einer fortschreitenden Differenzierung und Fokussierung auf Leistungs- und Erfolgsbestrebungen, so dass es in der zweiten Erhebungswelle zum Wegfall der informellen, am Spielen orientierten, Praxen kommt. In der zweiten Erhebungswelle wird sowohl mit Nadjas schulischer Peergroup als auch mit der Streichergruppe eine Gruppendiskussion geführt. Für die schulische Peergroup lässt sich rekonstruieren, dass für sie die Schule als wichtigster Erfahrungsraum fungiert, außerhalb dessen sie sich kaum oder nur zur Ausarbeitung schulischer Belange treffen.

Die Gruppe begründet dies nicht mit einem eher losen Freundschaftskonzept sondern zieht zur Argumentation der Quasinatürlichkeit der institutionell gebundenen Freundschaft Formulierungen der Erwachsenenwelt wie „terminlich schwierig“ heran, die mit dem Modell einer „Terminkindheit“ (Zeiher/ Zeiher 1994) korrespondieren und auf viele verschiedene formelle Freizeitaktivitäten verweisen.

Die Gruppe weist also keine gemeinsame informelle Freizeit auf, und auch sonst scheint es diese kaum für die einzelnen Mitglieder der Gruppe zu geben, da sie neben der Schule und formellen Freizeitaktivitäten verbleibende Zeit mit dem Lernen und der Erledigung von Hausaufgaben angefüllt ist. Es wird deutlich, dass die Mädchen im Klassenverband eine Sonderstellung ein- nehmen. Sie fühlen sich ausgegrenzt, weil sie nicht zu „den Coolen“ gehören und grenzen sich selbst aus, indem sie sich als die „coolen Uncoolen“ stilisieren, als deren Hauptmerkmal ein festeres, loyaleres Freundschaftskonzept postuliert wird als es bei anderen Gleichaltrigen, nach Aussage der Mädchen, der Fall ist.

Auch in der Gruppe des Streichorchesters kommt es zu Fokussierungen der Praxen. Als eigenes Hauptthema der Gruppe geben die Mädchen die Schule an: Das Austauschen über Zensuren, Lehrkräfte und Leistungsanforderungen wird auch in diesem Kontext zum beherrschenden Thema. So zeigt sich, dass der gemeinsame Orientierungsrahmen der Gruppe die Schule ist, auch wenn der Erfahrungsraum an sich nicht immer geteilt wird, da die Mädchen unterschiedliche Schulen besuchen. So besucht Belinda inzwischen eine Gesamt- schule, Patrizia-Victoria ein anderes Gymnasium.

Auch wenn die Schule als das Hauptthema bezeichnet wird und weite Teile des Diskurses beherrscht, ist das Spielen im Streichorchester als Thema und Praxis sehr bedeutsam, schließlich ist dies der von allen geteilte Erfahrungsraum. So ist es folgerichtig, dass z.B. der Ablauf einer Probe sehr elaboriert und selbstläufig erzählt wird, wobei Leistungsunterschiede umgangen werden. So professionell wie sie den Ablauf der Probe bereits reproduzieren und versprachlichen, so wenig werden von ihnen Leistungsunterschiede thematisiert oder bearbeitet. Sie inszenieren sich als „unprofessionelle“ Musiker und folgen damit einer Logik der Entthematisierung.

Diese Orientierung, Leistungsunterschiede untereinander nicht zu thematisieren, kommt zum Tragen, damit der Orientierungsrahmen der Gruppe aufrecht- erhalten werden kann. Dies wird in der dritten Erhebungswelle auch in den Bereich der schulischen Orientierungen übertragen (vgl. Deinert in diesem Band). In der dritten Untersuchungsphase wird von Nadja nur noch eine Diskussionsrunde mit ihren Schulfreundinnen geführt. Die gemeinsamen Freizeitpraxen der drei Mädchen werden als projektbezogen eingeführt und weisen einen ausgeprägten Bildungscharakter auf. Auffällig ist zudem, dass  im Zusammenhang mit der Durchführung von „Projekten“, der primären, kollektiven Freizeitpraxis, von „arbeiten“ gesprochen wird. Dieser Begriff unterstreicht die Ernsthaftigkeit der gemeinsamen Vorhaben und deutet einen Investitionscharakter an. So werden schulische Gruppenarbeiten aus dem schulischen Kontext in den Freizeitbereich ausgedehnt und beinhalten ein gruppenstiftendes Moment.

Nadjas ausgeprägte Leistungs- und Erfolgsorientierung, die bereits auf individueller Ebene zum Tragen kam, wird ebenso auf kollektiver Ebene fortgesetzt, dabei findet sich die Leistungsorientierung nicht nur im schulischen sondern auch im außerschulischen Bereich wieder. Längsschnittlich betrachtet zeigt sich ein leichter kontinuierlicher Wandel bzw. eine entwicklungsbezogene durchgehende Ausdifferenzierung in Bezug auf den Stellenwert der Schule und dem Leistungs- und Erfolgsstreben der Gruppen von der ersten zur dritten Erhebungswelle. Gab es in der ersten Erhebung noch Räume, die sich der Schulthematik und dem Leistungsdenken entzogen haben, so lassen sich diese in der zweiten Untersuchungsphase schon kaum mehr finden, bis sie zum Zeitpunkt der letzten Erhebung komplett verschwunden sind. Kollektive Praxen außerhalb eines Nützlichkeits- und Leistungsdenkens gibt  es nicht mehr. Vielmehr werden schulische Aufgaben, Inhalte und Themen voll- kommen in den Freizeitbereich übertragen. Alles Handeln scheint in der dritten Erhebungswelle von einer reinen Arbeitslogik durchdrungen.

Wurden formelle Bildungseinrichtungen in der ersten Untersuchungsphase durch die Orientierung an Kommunikation und Spaß noch konterkariert, entwickelt sich im Folgenden ein allumfassendes Arbeitsethos und Leistungsstreben, das kollektive Freizeitpraxen nicht mehr abgekoppelt von Leistungen, Nützlichkeit und zusätzlichen Bildungsmöglichkeiten betrachten lässt. Hierbei zeigt sich, dass es nicht nur um die Projekte an sich geht, sondern dass die Mädchen auch auf eine adäquate Belohnung aus sind.

Wandel der kollektiven Orientierungen in Bezug auf die Schule – das leistungsstarke Kollektiv – gemeinschaftlich zu Höchstleistungen

Über alle Erhebungswellen hinweg zeigt sich, dass Nadja auch bei wechseln- den Freundeskreisen häufig mit außerordentlich leistungsstarken Mädchen befreundet ist, die wie sie an schulischen Bestleistungen orientiert sind und durchweg sehr gute Noten erhalten. Betrachtet man die Art und Weise wie die verschiedenen Gruppen um Nadja mit diesem Streben umgehen, so wird ersichtlich, dass es zu einem Wandel in Bezug auf den Umgang mit ihren Leistungsüberzeugungen kommt. Anfangs noch durch Isolation oder Konkurrenzverhalten markiert und sanktioniert, wird das Leistungsstreben der Gruppenmitglieder am Ende unserer Untersuchung durch kooperative Praxen des Erklärens, Abfragens und Unterstützens gestärkt.

Die Bildungsorientierungen der Gruppen, vor allem in der letzten Erhebungsphase, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ebenfalls eine Leistungsorientierung darstellen, die jedoch mit einer Orientierung einhergeht, welche das „harte Arbeiten für Erfolge“ mit einschließt. Dabei wird deutlich, dass die Mädchen bereits Maßstäbe der Erwachsenen- und Berufswelt an ihre schulischen Leistungen anlegen. Sie antizipieren schon früh ihre beruflich akademischen Karrieren, die sie durch ein optimales Abiturergebnis sicherstellen wollen. Daraus resultiert erstens ein hoher selbst produzierter und eventuell auch durch die Schule unterstützter Leistungsdruck. Unter diesem leiden die Mädchen teilweise und versuchen ihn abzubauen, indem sie sich darüber Austauschen, sich gegenseitig für ihre Erfolge loben und motivieren. Zweitens tritt dadurch eine immer höher werdende Effektivitätsorientierung zu Tage, welche die Schule als Qualifikationsinstitution versteht, in der das Lehrpersonal in erster Linie in einer Dienstleister- und Erbringerfunktion gesehen wird, dessen Aufgabe es ist, die Klassengemeinschaft und deren organisatorische Belange zu regeln und den Unterrichtsstoff verständlich zu vermitteln. Dies zeigt sich deutlich in der kritischen Haltung gegenüber dem Lehrpersonal, welche die Gruppen seit der ersten Erhebungswelle aufweisen, die jedoch nie mit einer Leistungsverweigerung einhergeht.

Durch die lehrerkritische Haltung der Gruppen wird sichtbar, dass Schule oder schulische Erfolge auf zweierlei Ebenen verhandelt werden. So werden erstens schulische Erfolge auf einer reinen Effektivitätsebene betrachtet und bewertet, das bedeutet es geht darum, bestmögliche Resultate, angepasst an das Leistungsprofil jedes einzelnen Lehrenden, mit und ohne Auswendiglernen, zu erzielen.

Zweitens werden schulische Erfolge für sie selbst noch einmal anders gefasst. Es geht nicht nur darum, für das Gelernte gute Zensuren zu erhalten, sondern darum, dass sie den Unterrichtsstoff auch inhaltlich durchdrungen haben. Zensuren sind nicht zwangsläufig der Ausdruck für ihr individuelles Fähigkeitspotenzial, ihr wirkliches Können und Verständnis.

Diesem „Können“ kann die Schule durch Tests und formalisierte Lerninhalte nicht gerecht werden. So erhält die Zusammenarbeit der Mädchen in Form von Projekten ihre spezifische Bedeutung. Hier ist es möglich, alle individuellen Potenziale auszureizen und zusammenzufügen um etwas in ihren Augen „wirklich Produktives“ zu schaffen.

Diese Form der Zusammenarbeit, das kreative Aufeinanderwirken von „Spezialisten“ bei gleichzeitiger Wahrung größtmöglicher Individualität der Gruppenteilnehmer stellt dann wiederum den Garant für (schulischen) Erfolg dar.

Vor diesem Hintergrund kann auch die Kritik an den Lehrenden auf zwei Ebenen formuliert werden: Erstens fordern die Mädchen auf diese Weise autorisiertes Wissen ein, welches die Möglichkeit bzw. Garantie zu Bestleistungen bietet und zweitens könnte die kritische Haltung gegenüber Lehren- den, welche aber nicht mit einer Leistungsverweigerung einhergeht, auch die Geringschätzung der schulischen Leistungsanforderungen und des Lehrerpersonals dokumentieren. Dies korrespondiert mit den Externalisierungsversuchen eigener schulischer Unzulänglichkeiten, die gerade in den Gruppen der zweiten und dritten Erhebungswelle auf eine mangelnde Vermittlungskompetenz der Lehrenden zurückgeführt wird.

So weist Nadjas Freundschaftsgruppe nach wie vor ein umfassendes Leistungs- und Arbeitsethos auf, ein Umstand, der bereits in der zweiten Erhebungswelle herausgearbeitet werden konnte, sich aber zur dritten Untersuchungsphase hin noch einmal wandelt. Dieses Arbeitsethos wird in der dritten Erhebungswelle bei Nadjas Schulgruppe in den kollektiven Freizeitbereich hinein verlängert. Dies bedeutet, dass die Mädchen keinerlei gemeinsame informelle Aktionismen mehr verfolgen, sondern sich im außerschulischen Bereich ebenfalls mit schulbezogenen Inhalten in Form von Projektarbeit befassen. Sie streben dabei erneut nach Erfolgen und Anerkennung, was auf ihre ausgeprägte, kollektive Leistungsorientierung hindeutet. Schulische wie außerschulische Aktivitäten scheinen somit grundsätzlich zweckgebunden und zielorientiert zu sein.

Statt sich anhand der Zensuren zu messen, zu verorten und Hierarchien innerhalb der Gruppe aufzubauen – wie in der ersten Erhebungswelle – verhandeln die Mädchen ihre Noten in der dritten Untersuchungsphase, um sich vor eventueller Willkür der Lehrenden zu schützen.

Die in der ersten und zweiten Erhebungswelle rekonstruierte Orientierung an Konkurrenz und Leistungswettbewerb kann zum letzten Erhebungszeitraum nicht mehr belegt werden, weicht sie doch der Logik der Entthematisierung, die schon im Bereich der kollektiven Freizeitorientierungen angesprochen wurde und notwendig für die Stabilität der Gruppe ist. Stattdessen lassen sich im Rahmen der Schulgruppe konkrete, gegenseitige Unterstützungsleistungen nachweisen (z.B. im Krankheitsfall).

Nach wie vor hebt die Freundschaftsgruppe um Nadja in diesem Zusammenhang ihre Individualität hervor, indem sie betont, dass jedes der drei Mädchen auf spezifischen Gebieten besonders kompetent ist. Die regelmäßige Betonung der Individualität im Kontext der Gruppe lässt sich in allen drei Erhebungswellen nachweisen und stellt eine Besonderheit der jeweiligen (schulischen) Gruppen um Nadja dar.

Auch heben die Mädchen hervor, dass sie nicht ununterbrochen auf gegenseitige Unterstützung und kooperative Praxen wie Erklären etc. angewiesen sind und inszenieren sich auf diese Weise als leistungsstarkes Kollektiv. Gegen- seitige Unterstützungsleistungen innerhalb der Schulgruppe finden primär in Form von kontroversen Diskussionen statt, was die Mädchen als selbstorganisiert und eigenaktiv lernend zeigt.

Wandel der kollektiven Orientierungsrahmen der Peergroup – Individualismus und Erfolg als Gruppenstiftendes Moment

Längsschnittlich betrachtet lässt sich also eine kontinuierliche Ausdifferenzierung der Orientierungen der Gruppen um Nadja seit der ersten Erhebungswelle beobachten. Wie eben beschrieben, herrschen verschiedene Orientierungsfiguren in diesen vor. Der Orientierungsrahmen der Gruppen, vor allem in der zweiten und dritten Erhebungswelle, konstituiert sich jedoch hauptsächlich aus der Verschränkung von nur zwei Leitmotiven: der Leistungsorientierung und der Bedeutung von Individualität, die für diese Gruppen rekonstruiert werden konnten. Individualität und individuelles Vermögen spielen einerseits eine tragende Rolle  in der Zuschreibung von subjektiven Fähigkeitspotenzialen,   welche nicht in Noten festzuhalten sind und andererseits in der starken Zurückweisung des Gruppenbegriffs. Schon in der ersten Erhebungswelle konnte rekonstruiert werden, dass es sich bei Nadjas Peergroup weder um eine Freundes- gruppe noch um eine Clique, sondern vielmehr um ein Freundschaftsnetzwerk handelt. Dieser Umstand findet sich auch in der zweiten Untersuchungsphase wieder und kulminiert in der dritten Erhebungswelle in der aktiven Distanzierung dieser Peers vom Begriff der Gruppe.

Diesen Umstand stärkt, dass die kollektiven Freizeitpraxen  der Mädchen nicht gruppenspezifisch sind, sondern verschiedene andere Klassenkameradinnen und -kameraden anwesend sein dürfen. So stellt sich die Peergroup um Nadja eher als loses, funktionales Netzwerk dar, dass sowohl Bedeutung hat für den erfolgreichen Weg durch die Bildungsinstitution Schule als auch für die Möglichkeit der je individuellen Verwirklichung von Bildungs- oder Leistungsbestrebungen in „spezialisierten Bereichen“.

Damit einher geht eine offensichtliche Distinktion gegenüber anderen Gruppen, welche sich durch alle Erhebungswellen in verschiedenen Kontexten immer wieder zeigt. Distinktionsmerkmale fokussieren im Verlauf eben- falls immer mehr auf Leistungs- und Erfolgsaspekte. Sie distanzieren sich von Verhaltensweisen, die, ihrer Meinung nach, ihrer Individualität und ihrem Erfolgs- und Leistungstreben entgegenstehen. So grenzen sie sich gegenüber Lernenden anderer Gymnasien (die Vergleichgruppe Real- oder Hauptschule wird nicht einmal in Erwägung gezogen), jugendlichem Verhalten Gleichaltriger und Klassenkameraden (Alkoholkonsum), den Jungs der eigenen Klasse, die weniger diszipliniert arbeiten als sie und denen ab, welche keine hochkulturellen Praxen realisieren. Aufgrund dieser Merkmale, die die Gruppe nur in Abgrenzung zu anderen thematisiert, ergibt sich ein Bild, welches ihren Exzellenzanspruch zwar nicht direkt aber indirekt benennt – „jede Gruppe ist einmalig, aber wir sind ein ein einmalig“(GD: Nadja 2007/ 08, 79).

Des Weiteren spielt die Leistungsorientierung der Gruppen eine zentrale Rolle. Nicht nur der Austausch über den jeweiligen Leistungsstand der Gruppe, sondern auch deren Kenntnisse über individuelle Begabungen (sei es im Sport oder im musikalischen Bereich), die Vorrangigkeit von Schul- und Leistungsthemen in den Gruppendiskussionen, der Anspruch nach Produktivität bei jeglichen Aktivitäten im Sinne einer Effizienzorientierung, sowie die in der letzten Erhebungswelle zu konstatierende Ausweitung schulischer In- halte in den Freizeitbereich, sprechen für die zentrale Stellung dieses Motivs. Beide Orientierungen werden letztlich auch von dem christlichen und gut situierten Milieu, in dem sich Nadja und der Großteil ihrer Freundinnen bewegen, gestützt und befördert.

Wandel des Passungsverhältnisses zwischen individuellen und kollektiven Orientierungen

Im Folgenden soll nun das Passungsverhältnis zwischen den individuellen und kollektiven Orientierungen betrachtet werden, um anhand dessen etwas präziser bestimmen zu können, welche Relevanzen die Peergroups für die Kinder bzw. Jugendlichen haben können. Dabei gehen wir davon aus, dass wenn sowohl individuelle wie auch kollektive Orientierungen übereinstimmen, ein positiver Zusammenhang zu vermuten ist, bei nicht Übereinstimmung, je nach Grad, ein negativer.

Für den Fall Nadja Tafel kann anhand der eben skizzierten Ergebnisse der rekonstruktiven Fallanalyse folgendes Verhältnis der individuellen und kollektiven Orientierungen festgestellt werden. Allgemein ist zu konstatieren, dass dieses Verhältnis über den Erhebungszeitraum von sechs Jahren durch große Kontinuität geprägt ist, es kommt nur vereinzelt zu Ausdifferenzierungs- und Wandlungsprozessen. So lässt sich zeigen, dass sich die für Nadja in der ersten Erhebungswelle rekonstruierte Bildungsorientierung über den Zeitraum der Erhebung in eine reine Leistungs- und Erfolgsorientierung zumindest im schulischen Bereich wandelt. Damit einher geht, dass die Attestierung der Naturbegabung in Bezug auf schulische Angelegenheiten, die sich bei Nadja noch in der ersten und zweiten Untersuchungsphase hat rekonstruieren lassen, im letzten Erhebungszeitraum der Auffassung weicht, dass hier- für auch Anstrengungen getätigt werden müssen. So zeigt sich in der dritten Erhebungswelle auch ein Passungsverhältnis in diesem Bereich zwischen den individuellen und kollektiven Orientierungen der Gruppe, das sich im Aufbau eines umfassenden Arbeitsethos äußert, z.B. innerhalb der außerschulischen Projektarbeit.

Nadja ist über den gesamten Zeitraum der Erhebung eine äußerst erfolgreiche Schülerin, die in ihrer Freizeit hochkulturellen Praxen nachgeht (Klavier, Geige, Musiktheorie, Flöte, Junge Gemeinde usw.) und wenig informelle Freizeit besitzt. Dies korrespondiert vor allem mit den kollektiven Orientierungen ihrer Gruppen in der zweiten und dritten Erhebungswelle, die aus diesem Grund nur im institutionellen Kontext bestehen. Je nach den verschiedenen institutionellen Kontexten, in denen sich Nadja bewegt, sei es in der Schule, im Orchester oder in der jungen Gemeinde, wechseln ihre Freundeskreise. Vor allem für die Schulgruppen, aber nicht nur für diese, gilt eine hohe Orientierung an Erfolg und Leistung. In dem Maße, in dem sich Nadjas Orientierung an Effektivität und Leistung im individuellen Bereich ausdifferenziert, erweitern sich diese auch im kollektiven Bereich. Neben der bereits erwähnten Ausweitung der Arbeits- und Erfolgsorientierung der Gruppe nun- mehr auch in den außerschulischen Bereich, lässt sich dies auch an der über alle Untersuchungsphase bestehenden und sich im Laufe der Zeit immer stärker manifestierenden lehrerkritischen Haltung von Nadja und ihren Peers nachweisen, welche zwei Ebenen beinhaltet. So tritt durch die Kritik an der Vermittlungskompetenz der Lehrenden durch Nadja sowie ihrer Peergroups der eigentliche Wunsch nach autorisiertem Wissen zu Tage, um somit best- mögliche Erfolge sichern zu können. Auch durch die vorherrschende Meinung, dass ihr individuelles Fähigkeitspotenzial durch schulische Leistungsüberprüfung nicht erfasst werden kann, ergibt sich in der dritten Erhebungs- welle eine Geringschätzung der schulischen Leistungsanforderungen.

Die Auffassung eines höheren individuellen Leistungsvermögens kultiviert das Streben sowie die Wahrung nach Individualität bei Nadja sowie ihrer Peergroup in der dritten Erhebungswelle. Diese Form der Individualität und das Bewusstsein darüber wirken auch auf das Leistungsverhalten ein und münden in den oben beschriebenen Formen der Ausdifferenzierung der Erfolgs- und Leistungsorientierung über den schulischen Bereich hinaus.

Parallel hierzu lässt sich zeigen, dass es zur dritten Erhebungswelle hin einen Wandel im Distinktionsverhalten der Peergroups um Nadja gibt. Gestaltete sich dieses vormals vor allem durch Konkurrenzverhalten und Wettbewerb untereinander, lässt sich nun eine rege Diskussionskultur erkennen, welcher gegenseitiges Unterstützungspotenzial zugeschrieben wird. Nach außen besteht die Abgrenzung gegen verschiedenste Gruppen hingegen kontinuierlich weiter. Letztlich zeigt sich, dass für Nadja ihre Freundinnen durch- gängig als funktionale Begleiter fungieren, ein Tatbestand, die in der dritten Untersuchungsphase ausdrücklich von allen  Gruppenteilnehmern  geteilt wird.

Wie die vorangegangene Analyse gezeigt hat, verfügt Nadja Tafel aufgrund ihrer schulischen und außerschulischen Erfolge sowie ihrer individuellen Bildungsambitionen über eine sehr ausgeprägte Bildungsorientierung. Auch konnte gezeigt werden, wie sie aus unterschiedlichen Kontexten Unterstützung erfährt, sei es durch die Familie, die ihr, dem bildungsbürgerlichen Milieu entsprechend, viele Bildungsanreize gibt oder durch ihre Peers, die ihre Bildungsambitionen teilen und sie darin unterstützen. All diese Faktoren wirken synergetisch zusammen und gewährleisten die Kontinuität von Nadjas schulischem Erfolg und ihrer Bildungsbestrebungen auch über den schulischen Rahmen hinaus. Einen Kontrast zu diesem Ineinandergreifen der verschiedenen Unterstützungspotenziale bietet der Fall Aylin Demir, welche vielmehr trotz der wenig unterstützenden Einflüsse und geringerer Ressourcen in verschiedenen Bereichen ihre hohen schulischen Leistungsbestrebungen dauerhaft aufrechterhält und kontinuierlich verfolgt. Im Folgenden wird auch ihr Fall, den gleichen methodischen Schritten entsprechend, vorgestellt, um so die Bedeutung der Peers und Familie für ihre Bildungskarriere näher in den Blick nehmen zu können.

Literaturangaben:

Deinert, A.: Tim Hoogland – bildungsambitionierter Gymnasiast in spaßorientierter und sportlicher Peergroup. In: Krüger, H.-H./Köhler, S.-M./Zschach, M./Pfaff, N.: Kinder und ihre Peers. Freundschaftsbeziehungen und schulische Bildungsbiographien. Opladen/Farmington Hills 2008, S. 78-96

Zeiher, H.J./Zeiher, H.: Orte und Zeiten der Kinder. Soziales Leben im Alltag von Großstadtkindern. Weinheim/München. 1994

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
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