Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Emin kommt durch die Tür, den Anorak halb von den Schultern gezogen, und geht zum Mittelgang. Bei Jeanette, die schreibend an ihrem Tisch sitzt, bleibt er stehen und spricht mit ihr, während er den Anorak ganz auszieht. Kurz nach Emin betritt Dursun den Raum. Er verharrt einen Moment in der Türschwelle, blickt nach draußen, wendet sich dann zur Klasse um und geht gemächlich die Türwand entlang, während Carlos den Klassenraum betritt. Dursun trägt einen sportlich-schwarz-weißen, geöffneten Anorak, den er im Gehen auszieht; in der Rechten hält er eine Wollmütze. Als er hinter seiner bereits sitzenden Tischnachbarin Dija vorbeigeht, schlägt er, auf sie blickend, im Seitenbereich ihres Kopfes die Wollmütze schnell nach unten. Dija, die gerade über einige Meter hinweg mit dem an ihrem Platz stehenden Mädchen Madeleine redet, reagiert nicht darauf. Dursun geht weiter und verlässt das Kamerabild, in einigen Metern Abstand gefolgt von Carlos, der im Gehen den Reißverschluss seiner Jacke öffnet und sich umblickt. (Klasse 5x, Videopassage vom 24.3.99,12hl6ml0s-16m25s)

Wenn die Kinder nach Ende der Hofpause das Klassenterritorium betreten, so finden sie zunächst einen Raum vor, der durch sein Arrangement – Tafel, Lehrerpult, Schülertische (Sitzordnung), Garderobe etc. – spezifische institutionelle Erwartungen performativ zum Ausdruck bringt. Diesem szenischen Arrangement ist eine entsprechend spezifische rituelle Praxis eingeschrieben. Zu den hier bei den Jungen beobachtbaren Mikroritualen zählen: Eintritt in den Klassenraum, Aufsuchen der Garderobe und Ablage der Überkleidung: Es wird ein spezifisches, funktional der institutionellen Sozialität Schulklasse zugewiesenes Territorium, der Klassenraum, zu vorgeschriebener Zeit betreten. Mit der Überjacke wird ein Requisit, das auf den Außenraum und Aktivitäten außerhalb des Unterrichts bezogen ist und zugleich äußere Schutzhülle wie auch stilistischer Markierer der sozialen Identität eines Peers sein kann, an dem offiziell dafür vorgesehenen Ort (der Garderobe) abgelegt. Schließlich zeigen die Mädchen Dija und Jeanette die Ruheposition des Sitzens an einer bestimmten, durch die Sitzordnung zugewiesenen Position im Raum; ein Ritual, mit dem die Minimierung der eigenen Körperbewegung im Hinblick auf den bevorstehenden Unterricht einhergeht. Diese rituelle Übergangspraxis setzt die soziale Identität (Goffman 1980, S. 9f.) des Schülers in Szene und ist zur Etablierung einer Unterrichtsorganisation unverzichtbar. Solche kommunikativen Rituale, die der Herstellung einer Überkonjunktiven, von den spezifischen konjunktiven Erfahrungsräumen der Beteiligten abgehobenen Ebene der Sozialität dienen, bearbeiten in der liminalen Phase des Übergangs von der Pause zum Unterricht die Differenz zwischen der Regelstruktur der Peergroup (Pause) und derjenigen der Institution (Unterricht), und zwar in Richtung einer Einpassung der Kinder in die institutionellen Ablaufmuster. Im Vordergrund steht hier das Funktionale, die reibungslose Etablierung der Unterrichtsorganisation, die Hervorbringung eines Schülerhabitus.

Bei Emin, Dursun und Carlos ist darüber hinaus durch die Abnahme der Überjacken im Gehen eine Zusammenziehung der Mikrorituale Aufsuchen der Garderobe und Abziehen der Überkleidung erkennbar. Diese Abkürzung hat jedoch weniger den Duktus einer eiligen Herstellung von Unterrichtsbereitschaft, denn die Jungen lassen

zugleich Formen der Verzögerung im Vollzug der Rituale erkennen. Verzögerung zeichnet sich bei Dursun im Verharren auf der Türschwelle ab, im Blick zurück auf den Außenraum, in dem langsamen Bewegungsmodus und in dem beiläufigen, an Dija adressierten Spiel mit der Wollmütze. Dieses beiläufige Spiel hat den Charakter einer provokativen Initiierung einer Interaktion. Dija, die bereits mit einer Mitschü¬lerin in Interaktion steht, geht darauf nicht ein und Dursun setzt den Vollzug kom¬munikativer Rituale fort. Auch Emin initiiert – ohne das Element der Provokation – eine Interaktion mit Jeanette, die allerdings von etwas längerer Dauer ist.

Alle drei Jungen vollziehen im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen spät jene Mikro- rituale, die Unterrichtsbereitschaft herstellen sollen. Denn diese halten sich bereits an ihrem Sitzplatz auf, Jeanette ist gar schon mit Schreiben befasst, während die Jungen den klassenterritorialen Bereich überhaupt erst betreten. Solche Formen der Verzögerung stellen eine konjunktive Bearbeitung der institutionell erwarteten Rituale in Richtung einer Markierung von Rollendistanz (Goffman 1973, S. 121) dar.

Literaturangaben:

Goffman, Erving (1973): Interaktion: Spaß am Spiel, Rollendistanz. München: Piper.

Goffman, Erving (1980): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.

http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=1911

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