Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Nasir sitzt an seinem Platz und blickt auf den Türbereich. Als Carlos den Raum betritt, erhebt er sich schnell von seinem Stuhl und eilt an Madeleine hüpfend vorbei zur Tür. Er hat schwarze Handschuhe in den Händen. An der Türschwelle angekommen, begeg­net er dem just eintretenden Lehrer Maier und bremst seine Bewegung abrupt ab. Herr Maier zieht nun die Türe hinter sich zu, während er mit der Linken den Jungen gestisch zurückweist. Nasir blickt zu dem Lehrer hoch und weicht Schritt für Schritt vor dem vorwärts schreitenden Lehrer zurück. Schließlich bleiben beide im Tafelbereich kurz stehen, als der Lehrer mit der Linken weit ausholend in den hinteren Raumteil (rechte Garderobenseite) deutet und ruft: „Dort!“. Nasir wendet den Oberkörper in die entspre­chende Richtung, blickt auf den ausgedeuteten Ort, dann wendet er sich wieder ganz zum Lehrer hin, der gerade an ihm vorbeigeht, und schaut zu ihm hoch. Der Lehrer deutet im entschiedenen Weitergehen auf Nasirs Sitzplatz und ruft laut aus:. „Hinset­zen!“. Nasir wendet sich nun zur Seite und trippelt eiligen Schrittes zu seinem Kopf an Kopf zum Lehrerpult stehenden Tisch zurück. Der Lehrer geht seinerseits schnurstracks in Richtung Pult. Madeleine setzt sich auf ihren Stuhl, Anita eilt zu ihrem Platz. Die Gruppe von Emin, Uzman und Fuat, die auf dem Gang in der Mitte des Raumes zu­sammenstehen, löst sich auf. (Klasse 5x, Videopassage vom 24.3.99, 12hl6ml4s- 16m28s)

Nasir, der bereits einige Zeit schweigend an seinem Sitzplatz sitzt, ohne in Interakti­onen verwickelt zu werden, ändert plötzlich seine Haltung wieder, als Carlos (und nicht der Lehrer) den Raum betritt. Er steht auf und eilt zur Tür, geradewegs dabei, das Klassenterritorium zu verlassen. Damit weist er nicht nur eine umgekehrte Bewegungsrichtung gegenüber dem eintretenden Carlos auf, sondern widerruft hand­lungspraktisch seine eigene, zuvor eingenommene Haltung des unterrichtsbereiten Schülers. Dieser Akt macht die Fragilität der unterrichtsbereiten Haltung besonders deutlich. Denn Nasir unterbricht nicht etwa nur seinen Aufenthalt am Sitzplatz oder sein Schweigen zu Gunsten von Interaktionen mit anderen Kindern. Vielmehr unter­läuft er eine ganz grundlegende Voraussetzung zur Herstellung einer Unterrichtsbe­reitschaft: die Anwesenheit im Klassenterritorium. Gleichzeitig macht dieser Akt in seiner Negation ein weiteres Element des institutionellen Ablaufschemas deutlich: das Warten auf den Lehrer, das der unterrichtsbereite Schüler rituell vollzieht und das seine Geduld herausfordert (vgl. hierzu auch Jackson 1968, S. 13ff.).

An der Schwelle zum Außenraum trifft Nasir auf den Lehrer Maier. Diese Begeg­nung führt zum Abbruch seiner exterritorialen Bewegung. Nasir weicht langsam vor dem Lehrer Schritt für Schritt zurück. Die Zeigegeste von Herrn Maier, die anschei­nend auf den Ort der Garderobe zielt, dürfte sich auf die Handschuhe in Nasirs Hän­den beziehen, ein Besitzterritorium, das dieser in Begriff war, in den Außenraum zu tragen. Nasir erhält keine Austrittsberechtigung. Vielmehr wird er auf seinen Sitz­platz und die (erneute) Einnahme der Ruheposition des Sitzens verwiesen. Die kom­promisslosen Äußerungen des Lehrers sind knapp und dirigistisch. Die entschiede­nen verbalen Handlungsanweisungen werden körpersprachlich unterstützt. Der Im­perativ: „Hinsetzen!“ wird in einer Lautstärke und mit unmissverständlicher Gestik vollzogen, so dass diese Äußerung rituelle Signalwirkung und den Charakter der Aufführung vor der gesamten Klasse erlangt. Der Lehrer eröffnet damit nicht nur für Nasir, sondern für alle anderen Anwesenden im Raum eine weitere Phase des Über­gangs zum Regelwerk des Unterrichts. Das Setzen der Schüler (nicht des Lehrers) zeigt sich hier in seiner zentralen rituellen Funktion zur Herstellung einer Unterrichtsbereitschaft. Es enthält gleichzeitig eine situative (kollektive) Vereinzelung der Schülerschaft, welche – im Rahmen einer frontalen Unterrichtssituation – Voraus­setzung ist für die Fokussierung auf den Lehrer bzw. für eine asymmetrisch struktu­rierte soziale Situation. Der performative Sprechakt (Austin 1994) des Lehrers er­reicht entsprechend seines generalisierenden Duktus auch andere Schüler, die in der Folge ebenfalls das geforderte Ritual vollziehen: Madeleine und Anita setzen sich, die Gruppe Emin, Uzman und Fuat löst sich auf.

Die Szene lässt also nicht nur Rituale der Schüler in der liminalen Phase des Über­gangs (und ihr Zuwider-Laufen) erkennen, sondern auch solche, die der Lehrer voll­zieht, um das institutionelle Regelwerk in Geltung zu bringen. Wie angesprochen, sind es zunächst die Interventionen, die er im Hinblick auf Nasir und mit generali­sierender Wirkung auf die gesamte Klasse leistet. Herr Maier fordert hierbei rituell den Vollzug eines zentralen kommunikativen Rituals durch die Schüler ein. Er spricht die Kinder funktional, in der sozialen Identität des Schülers an und setzt eine kommunikative, von Heteronomie geprägte Lehrer-Schüler-Beziehung in Szene.

Darüber hinaus handelt Herr Maier, der deutlich den Habitus eines Lehrers zeigt, im Hinblick auf die Territorialität des Raumes: Er schließt die Tür und zeigt so den Anwesenden, dass die Grenze zur , Außenwelt‘, zu anderen Sozialitäten, nicht mehr durchlässig, vielmehr offiziell geschlossen ist. Er geht geradlinig und entschieden zu seinem Lehrerpult und führt damit die Dominanz des Funktionalen mit seiner Kör- per-Raumbewegung deutlich auf. Schließlich nimmt er, indem er sein Pult aufsucht, das lehrerspezifische Territorium ein und positioniert sich so im zentralen Bereich des Klassenraumes (vor der Tafel). Der Lehrer vollzieht also zum Teil kommunika­tive Mikrorituale, die denen der Kinder ähnlich sind (Aufsuchen des Pul­tes/Sitzplatzes), die jedoch zumeist aufgrund seiner besonderen Stellung innerhalb der Unterrichtssozialität eine Abwandlung erfahren. So trägt er auch keine Überja­cke mehr, da die für Lehrer vorgesehene Garderobe sich nicht im Klassenraum, vielmehr im Lehrerzimmer befindet. Das kommunikative Ritual der Garderobenab­lage vollzieht er unter ‚seinesgleichen‘, den anderen Lehrern.

Nun könnte vermutet werden, dass der Lehrer nach Einnahme des Pultes entschei­dende rituelle Markierer der Unterrichtseröffnung setzt, wie etwa das Bimmeln mit der auf dem Pult stehenden kleinen Glocke, wie es für diese Klasse typisch ist. Der weitere Verlauf der Videopassage bestätigt dies nicht. Denn Herr Meier geht im Anschluss an diese Szene zu Jeanette, die bereits an ihrem Tisch sitzt und schreibt, und führt mit ihr ein Gespräch, während die anderen Kinder auf ihre Weise die liminale Phase mit unterschiedlichen (Inter-)Aktivitäten bestreiten (vgl. Wagner-Willi 2005, S. 126ff.).

Literaturangaben:

Austin, John L. (1994): Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam.

Jackson, Philip W. (1968): Life in Classrooms. New York: Holt, Rinehart and Winston.

Wagner-Willi, Monika (2005): Kinder-Rituale zwischen Vorder- und Hinterbühne – Der Übergang von der Pause zum Unterricht. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.

http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=1911

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