Einleitende Bemerkungen
Anhand der Analyse eines schülerbiografischen Interviews wird der Weg einer Schülerin durch die Waldorfschullaufbahn nachgezeichnet. Dabei können Einsichten in einen reformpädagogischen Gegenentwurf zur Staatsschule gewonnen werden.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
und dann kamen sie wieder hierher, und en befreundetes Apotheker-Ehepaar die hatten ihre Kinder, die Großen schon in F.-stadt auf der Waldorfschule (I: hm) und, da war eben in x- heim, ich weiß nich ob du das kennst das is son heilpädagogisches Institut und so (I: neenee) und von dort aus ging jedenfalls ne Initiative tum Kindergarten, also die hatten en Schulverein gegründet, und (I: hm), ehm von da ging die Initiative aus und da sind die da eben mit hin, und dann ham sie dann auch ma ganz schnell den Kindergarten gegründet, also eh, ich war da noch ein Jahr im normalen Kindergarten (.) hier im Ort und dann ehm, bin ich dann auch mit vier dort in den Kindergarten, (I: hm) und das war dann immer so, und, na, also nach den zwei Jahm Kindergarten bin ich dann hier zwei Jahre in die normale Schule gegangen weil unsere Schule noch nich fertig war, (I: hm) und bin dann da in der in der dritten Klasse in die Waldorfschule gekommen (.) und das war also immer so, bei mir war es immer grad nu nich fertig und bei meiner Schwester die is immer von Anfang an (I: hm) rein gekommen, aber es war so meine Eltern ham da immer so mitgeholfen das es dann für ihre Kinder dann auch, fer=fertich wird und (I: hm) also ich kann mich zum Beispiel erinnern dass wir da, schon im Kindergarten, mein Vater is ja auch Elektriker und der hat dann da so, die ganzen Sachen gelegt und ich war da immer mit und, auch dann in der Schule und so (.)
Zwei Faktoren spielen im Zugang der Eltern zum Waldorfkontext eine Rolle: Zum einen das orientierungsrelevante Vorbild des über den gemeinsamen Beruf gewonnenen befreundeten Paares, dessen ältere Kinder bereits eine Waldorfschule besuchen, und zum anderen eine Schulvereininitiative, die sich in einer anthroposophischen Einrichtung der näheren Umgebung gebildet hat. Franziskas Eltern finden dort Anschluss und bringen großes Engagement in die Gründung eines Waldorfkindergartens ein. Franziska muss dennoch trotz zügiger Gründung des Waldorfkindergartens ein Jahr einen „normalen“ Kindergarten besuchen und wechselt dann mit vier Jahren in die anthroposophische Einrichtung. Für Franziska wiederholt sich diese Erfahrung einer im Hinblick auf die eigene Biographie ‚verspäteten Einrichtung’ dann wieder im Schulkontext. Auch die neu gegründete Waldorfschule wird aus ihrer Sicht zu spät eröffnet, so dass sie die ersten beiden Schuljahre in einer „normalen Schule“ verbringen muss. Franziska erfährt dies als Benachteiligung, die mit ihrer familialen Strukturposition als Erstgeborene verbunden ist, wie dem eingeflochtenen Erzählkommentar zu entnehmen ist: „und das war also immer so, bei mir war es immer grad nu nich fertig und bei meiner Schwester die is immer von Anfang an (I: hm) rein gekommen“. Um einer möglichen Schuldzuschreibung an die Eltern vorzubeugen, schließt Franziska unmittelbar an den kritischen Kommentar eine Belegerinnerung an – die Unterstützung des Vaters als Elektriker beim Bau des Kindergartens und der Schule –, mit der sie den enormen Einsatz der Eltern und deren Bemühen hervorhebt, „dass es dann für ihre Kinder dann auch fer=fertich wird“. Als Erstgeborene immer erst einmal in eine andere Einrichtung zu müssen, ist aus Franziskas Sicht also nicht direkt den Eltern anzulasten, sondern eher einer unglücklichen biographischen Konstellation. Zugleich wird an Franziskas Präsentation der Eltern als engagierten Mitstreitern die bereits in der Eröffnungssequenz vermutete besonders gesteigerte elterliche Sorgehaltung deutlich, denn die handlungsschematische Initiative bei der Gründung der Ein-richtungen motiviert sich aus der pädagogischen Verantwortung und den entsprechenden Ambitionen als Eltern.
und, also ich kann mich noch erinnern an diesen, Kindergarten hier der war total fürchterlich und da bin ich auch überhaupt nich gern hingegangen, und (I: hm) ehm (.) es war dann schon, ich bin ja dann mit meiner Schwester zusammen in den neuen Kindergarten, und irgendwie war das immer so dass ich da gar nich da bleiben wollte (I: hm) un, ich wollte sowieso nirgends bleiben, weder beim Ge=Kindergeburtstag noch, irgendwo und schon gar nich im Kindergarten, aber das hat sich dann da glaub ich relativ schnell gelegt und (.) ehm, ja wir ham dann da, hatten da so ne nette Kindergärtnerin und, ich kann mich noch total gut erinnern an diese ganzen, wir ham immer so ne Frühstückspause gemacht und dann gabs ja, immer so nach den Wochentagen, so, im Rhythmus halt son, verschiedenes Gericht, also montags gabs immer (.) ehm Knäckebrot oder, oder Reis oder ich weiß jetzt grad nich, und mittwochs gabs immer Hirsebrei und so, und dadran kann ich mich zum Beispiel, gut erinnern (..) ehm (…)
Über ihren ersten, staatlichen Kindergarten berichtet Franziska keine Details, sondern bilanziert lediglich in einer negativen Gesamtevaluation, dass dieser „total fürchterlich“ gewesen und sie „auch überhaupt nich gern hingegangen“ sei. Ihre Darstellung expandiert dann im Zusammenhang mit dem Waldorfkindergarten, in den sie gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester eintritt. Aber auch der sektoriale Übergang von der familialen Lebenswelt in diesen Kindergarten bereitet Franziska Schwierigkeiten. Wie aus ihrer Darstellung hervorgeht, ist die Ursache in einer grundsätzlichen Distanz gegenüber der außerfamilialen Umwelt zu sehen, denn Franziska „wollte sowieso nirgends bleiben, weder beim Ge=Kindergeburtstag noch, irgendwo“, allerdings insbesondere „schon gar nich im Kindergarten“. Selbst bei besonders attraktiven außeralltäglichen Ereignissen der kindlichen Lebenswelt, die wichtige erste Zusammenkünfte von Gleichaltrigen sind, nämlich Kindergeburtstagen, verhält sich Franziska also distanziert. Auch wenn die negativen Erfahrungen im staatlichen Kindergarten nicht als primäre Ursache von Franziskas Distanzhaltung angesehen werden können, so verstärken sie doch die kindliche Angst gegenüber der familialen Außenwelt und helfen eben nicht, diese zu überwinden. Franziska ist, so lässt sich im Umkehrschluss annehmen, stark in die familiale Lebenswelt eingebunden und tut sich schwer mit der entwicklungsnotwendigen Passage in die Welt der Gleichaltrigen, die insbesondere durch die Institution des Kindergartens angestoßen wird. Die Bewältigung dieses Problems, das sich nach Angaben Franziskas dann doch als weniger hartnäckig erweist, gelingt erst im Waldorfkindergarten, wobei der Kindergärtnerin eine zentrale Bedeutung zuzumessen ist. Als zentrale Erinnerung an die Kindergartenzeit nennt Franziska die nach Wochentagen rhythmisierte Speisefolge der gemeinsamen Mahlzeiten in der Frühstückspause. Erfahrungsdominant, so lässt sich aus dieser Belegerinnerung schließen, waren die Begegnung mit der Kindergärtnerin als bedeutsamer Anderer sowie die Vergemeinschaftung und Rhythmisierung der Praxis durch Rituale. Franziska fühlt sich nun als Teil der Interaktionsgemeinschaft des Kindergartens, was sich an ihrer diesbezüglichen Konstruktion einer kollektiven Wir-Gemeinschaft ablesen lässt. Der Waldorfkindergarten erleichtert Franziska die erste Ablösung aus dem frühkindlichen Familiensystem.
ja und viele mit denen ich da im Kindergarten war die warn dann später auch auf der Schule und, (I: hm) mit=den=wam also mit den sind auch meine Eltern, dn also die Eltern untereinander waren sehr gut befreundet weil die ja das zusammen gegründet ham un so, un mit vielen ham wir dann auch, warn wir dann im Urlaub und so (.)
Vom Gründerkreis des Kindergartens ausgehend, zu dem auch Franziskas Eltern gehören, bis in die Schulzeit hinein konstituiert sich sowohl unter den Eltern wie auch unter den Kindern über den rein institutioneilen Kontext hinaus ein soziales Netzwerk dichter Freundschaftsbeziehungen, was Franziska damit belegt, dass man auch zusammen den Urlaub verbracht habe. Ein soziales Netzwerk, welches Franziska durch Kontinuität qualifiziert: ihre Altersgenossen im Kindergarten trifft sie später, nach den zwei Jahren in der staatlichen Grundschule, auf der neu gegründeten Waldorfschule wieder. Ein Umstand, der sicherlich Franziskas Integrationsprobleme weiter lindem hilft. Auf der Basis der gemeinsamen sozialen Initiativgruppe ,von unten‘ entstehen somit im Rahmen der Aufbauarbeit des Waldorfkindergartens und der Waldorfschule ein lebensweltlicher Primärgruppenzusammenhang und Konturen einer ,waldorfpädagogischen Sozialwelt‘, in welcher die beiden Institutionen einerseits und der lebensweltliche, soziale Handlungsrahmen der Akteure andererseits noch nicht voneinander geschieden sind. Mit Blick auf Franziskas Erfahrungsaufschichtung in dieser Zeit darf man mit dem Segment folgern, dass ihre positiven Sozialerfahrungen sich zu einem Großteil aus dieser ,waldorfpädagogischen Sozialwelt‘ speisen, mit welcher ihre familiale Lebenswelt eng verbunden ist. Zu dieser Sozialwelt kontrastieren dann ihre negativen Erfahrungen im Raum des staatlichen Kindergartens und der staatlichen Grundschule, die sie im Folgesegment narrativ als Gegenwelt konstruiert.
und ehm, ja dann kam ich ja hier in die Schule, und es war auch irgendwie ganz ätzend aber meine Eltern ham immer son bisschen versucht da, so, so ein bisschen ham Wachsmalblöckchen für die ganze Klasse besorgt un ham am Elternabend erklärt was jetzt Wachsmalstifte sind und, ehm, das sie ham immer schon was versucht also en bisschen was zu machen, (I: hm)
Von ähnlich negativem Erfahrungswert wie der staatliche Kindergarten ist auch die staatliche Grundschule, auf welcher Franziska ihre ersten beiden Schuljahre absolvieren muss. Sie ist gewissermaßen gezwungen, ihr angestammtes Milieu des über die Gründungsinitiative entstandenen waldorfpädagogischen bzw. anthroposophischen Sozialzusammenhangs wieder zu verlassen, und dies vor dem Hintergrund ihrer Distanzproblematik. Franziska resümiert einleitend in einer diffusen Kategorie, dass diese Schule „irgendwie ganz ätzend gewesen sei“. Sieht man diese Qualifizierung in direktem Zusammenhang mit der sich anschließenden Erzählung, die dann gewissermaßen als Beleg fungiert, so ist insbesondere die Lernkultur dieser Grundschule in negativer Weise erfahrungsdominant. In einer weit in den Kompetenzbereich der Schule eingreifenden Weise versuchen Franziskas Eltern, auf die Gestaltung der pädagogischen Praxis Einfluss zu nehmen. In Franziskas kurzer Darstellung erscheint diese Grundschule als recht rückständig bzw. im Sinne pädagogischer Reform unterentwickelt, so dass ihren ambitionierten Eltern gewissermaßen nichts anderes übrig bleibt, als dies so hinzunehmen oder aber – was dann der Fall ist – mit einem enormen pädagogischen Sendungsbewusstsein in symbolischer Stellvertretung der Lehrkraft die übrigen Eltern auf Elternabenden für Innovationen wie die des Verwendens von Wachsmalstiften zu gewinnen und sie so gleichsam zur besseren Pädagogik zu bekehren. Franziskas Eltern lehnen hier – so könnte man kritisch formulieren – die professionelle Autonomie des Klassenlehrers bzw. der Klassenlehrerin ab und üben latente Kritik am pädagogischen Bewusstsein der anderen Eltern bzw. an der mangelnden Reflexivität von deren Erziehungshaltungen, indem sie sich vor der Elternöffentlichkeit exponieren und im Elterninteresse sich zuständig für Unterrichtsinnovation erklären. Untermauert wird dies noch dadurch, dass Franziskas Eltern für die gesamte Klasse Wachsmalblöckchen zur Verfügung stellen. Die für Franziskas Erfahrungsaufschichtung zentrale Sorge um die Tochter und der im Zusammenhang der Gründungsinitiative erfahrungsgesättigte Reformeifer treiben Franziskas Eltern zu diesem Verhalten, das strukturell auch in den Bereich einer unangemessenen Grenzüberschreitung gerückt werden könnte.
und, irgendwann hat mein Va- mein Vater mir mal abends erzählt so, da saß ich auf sei- seinem Schoß ich war irgendwie acht (.) und da meint er ja und sie hätten doch da es geh da doch jetzt da diese Schule und, da gebs jetzt ne neue Klasse und, und in dieser Klasse da würde, würden die Kinder sogar lernen wie man en Haus baut, und und, wir würden auch lernen, wie man Getreide anbaut un so, un ob ich nich auch in diese Schule wollte, oder in diese Klasse die da neu entsteht und (.) ich denk ma für meine Eltern war das ziemlich klar dass ich da in diese (.) dann in die Waldorfschule geh aber sie musstens mir ja schon irgendwie, mitteilen und ich hatte halt auch ne gute Freundin hier und, ich musste ja dann mim Zug fahm und, ehm, ja am Anfang war ich da noch nich so begeistert aber also dieses Argument mit dem Haus, mit dem Haus bauen (I: hm) das fand ich dann schon ganz gut, und das ham wir dann auch gemacht (.)
In szenischer Vergegenwärtigung der Situation schildert Franziska, wie ihr Vater den von den Eltern angestrebten Schulwechsel ihr nahe zu bringen versucht. Vor dem Hintergrund, dass Franziska eine Schulfreundin im Heimatort hat und die neue Schule nur unter Benutzung eines Zuges zu erreichen ist, wirbt der Vater subjektsensibel in Orientierung an der kindlichen Erfahrungswelt mit Verweis auf die handwerklich-praktischen Erfahrungselemente der Waldorfpädagogik für die neue Schule. Auch wenn die Eltern sich bereits entschieden haben, vermittelt der Vater Franziska den Eindruck, sie habe ein wichtiges Mitbestimmungsrecht. Vom heutigen Zeitpunkt durchschaut Franziska diese Inszenierung einer Scheinautonomie, sieht sie aber als notwendig an, denn „sie musstens mir ja schon irgendwie, mitteilen“. Obgleich Franziska den Erfahrungszusammenhang der staatlichen Grundschule als „ätzend“ bilanziert und sich längst viele Sozialkontakte auf den Waldorfzusammenhang erstrecken (s.o.), begegnet sie dem Angebot, die Schule zu wechseln, keineswegs mit spontaner Offenheit. Denn der Übergang auf die Waldorfschule verlangt ihr einen weiteren Verselbständigungsschritt ab, nämlich mit dem Zug zur Schule zu fahren, und gefährdet außerdem den Fortbestand einer wichtigen Freundschaftsdyade, deren gemeinsamer Interaktionsraum vor allem auch die staatliche Grundschule ist. Die Beharrungskräfte ihrer unbeweglichen Distanzhaltung wiegen also zunächst schwerer als die negative Erfahrungsqualität der staatlichen Grundschule. Die väterliche Strategie, Franziskas Interesse durch Anspielungen auf die waldorfschulische Bildungswelt zu mobilisieren, verfängt aber schließlich, so dass Franziska dann doch den Schulwechsel als gemeinsame Entscheidung von sich und den Eltern darstellen kann: „und das ham wir dann auch gemacht“.
und dann, dann kam ich da ja hin (.) und dann hab ich dann a dieser Abschied dann da in dieser andern Schule un so und die konnten alle nich verstehn warum ich jetzt, auf ne andere Schule gehen soll (I: hm) aber, naja ich war eh schon immer irgendwie anders als alle andern (.) durfte kein Zucker essen wegen Neurodermitis un so=also es war alles immer sowieso schon en bisschen anders, und dann ging ich halt auch noch auf ne andere Schule und, (Räuspern)
Als eine erste dominante Übergangserfahrung erinnert Franziska, noch einmal auf den Erfahrungsraum der staatlichen Grundschule zurück blickend, das Reaktionsmuster der grundschulischen Klassengemeinschaft auf ihren Wechsel an eine Waldorfschule, an dem sich auch ihre Integration und Position in der grundschulischen Sozialwelt ablesen lassen. In Orientierung am institutioneilen Ablaufmuster der Schullaufbahn und deren Erwartungsfahrplan ist der Abgang von Franziska auf die Waldorfschule für ihre Mitschüler ein erwartungswidriges Ereignis: „die konnten alle nich verstehn warum ich jetzt, auf ne andere Schule gehen soll“. In dem anschließenden selbsttheoretischen Kommentar, einem Identitätsmarkierer von gesamtbiographischer Bedeutung, löst Franziska die Erwartungswidrigkeit auf, indem sie ihr Selbst im Modus einer individualisierenden Differenz zur Normalform des kindlichen Habitus entwirft: „aber, na ja ich war eh schon immer irgendwie anders als alle andern“ und wenig später im Segment „es war alles immer sowieso schon en bisschen anders“ – pointiert formuliert: sie war und ist zeit ihres Lebens („immer“) in jeglicher Hinsicht („es war alles“) anders als die anderen. Als konkretes Belegbeispiel nennt sie für die betreffende Phase der ersten Grundschuljahre ihre Neurodermitis, aufgrund derer ihr eine streng kontrollierte Ernährung auferlegt wurde. Es ist anzunehmen, dass für Franziskas kindliche Erfahrungen jene Neurodermitis von zentraler Relevanz war, insofern sich an sie soziale Typisierungen und daraus resultierende soziale Integrationsmodi binden. (Außerdem lässt sich vermuten, dass die elterliche Sorgehaltung durch die Neurodermitis nochmals gesteigert wird.) In den ihr gespiegelten Fremdbildern der Mitschüler wird Franziska also als von Normalitätsunterstellungen abweichende Person kategorisiert. In dieser negativ getönten Besonderungslinie – es handelt sich ja um ein soziales Stigma, das Franziska anhaftet – wird den Mitschülern dann auch der Wechsel auf die exotische Waldorfschule plausibel, denn er kann in die Alteritätszuschreibung sinnkonsistent eingegliedert werden: „und dann ging ich halt auch noch auf ne andere Schule“. Möglicherweise spielt in Franziskas Stigmatisierung in der grundschulischen Peergemeinschaft bereits auch ihre Zugehörigkeit zur oben genannten exklusiven Binnenwelt des waldorfpädagogischen Gründungskreises eine Rolle. Vielleicht wird Franziska als ,Waldörflerin‘ etikettiert, denn sie kommt aus einem Waldorfkindergarten in die staatliche Grundschule, wird die meisten ihrer Mitschüler nicht gekannt haben und ist insofern, jenseits ihrer Neurodermitis, bereits etwas Besonderes.
ja das war dann noch so ne, Sache=also mein, mein Klassenlehrer, der is ja so die zentrale Person da an der Waldorfschule am Anfang, des war halt auch einer der da mitgegründet also die Familie hat da mitgegründet und die dann sin da en Jahr ans Lehrerseminar nach Witten gegangen, un er hat dann die Klasse übernommen (.) (I: hm) und das warn halt eigentlich so gute Bekannte von uns un wir ham immer da gespielt die, deren Tochter is so alt en bisschen jünger als ich un so, un, wir ham halt immer du zu dem gesagt also die Familien warn so gut befreundet un dann ehm, als ich dann da zu ihm in die Klasse kam, dann wurde der ja mein Lehrer un da musst ich dann, ham meine Eltern halt, ehm, den, ihn dann gefragt wie wer des jetzt machen solln ich musst dann ja irgendwie sie zu dem sagn (I: ja) un so, ja also jedenfalls ham sie dann alle beschlossen ich sollte dann ma, in der Schule auf jeden Fall sie zu ihm sagn un ich glaub das hat irgendwie mein Vertrauen da etwas, gestört weil dann=daraufhin könnt ich diesem Menschen überhaupt nich mehr (I: hm) irgendwie in die Augen kuggen oder so, aber das hing glaub ich nich mit der Person zusammen ich hatte einfach fürchterlich Respekt vor dem, wenn der dann kam zu som Hausbesuch oder so dann hab ich ihn nich in mein Zimmer gelassen (1: hm (lacht)) also ich hatte immer fürchterlich, oh nee, ja nich Angst aber sehr großen Respekt (I: ja) und kam mir immer so klein vor daneben, und (…)
In Franziskas schulbiographischem Gedächtnis drängt sich als erstes waldorfschulisches Erfahrungsmoment das Verhältnis zum Klassenlehrer auf, das für sie aufgrund der aus der Gründungssituation erwachsenen lebensweltlichen Verkopplung von Schule und Familie kompliziert gelagert ist. Bereits vor ihrem Schulwechsel ist Franziska die betreffende Person bekannt, denn sie gehört zum Freundeskreis der Eltern, der sich im Rahmen der Gründungsinitiative konstituiert hat: „also die Familien warn so gut befreundet“. Im Gründungskontext entsteht beim Klassenlehrer das berufsbiographische Motiv, Waldorflehrer zu werden, und nach einer einjährigen Ausbildung an einem waldorfpädagogischen Lehrerseminar übernimmt er Franziskas Klasse. Das Problem der Transformation der Beziehungspraxis in eine Lehrer-Schülerbeziehung wird in gemeinsamem Einvernehmen zwischen Klassenlehrer und Eltern so gelöst, dass Franziska im schulischen Kontext – wohl im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes, also der Vermeidung von Sonderbehandlung – ebenso wie ihre Mitschüler den Klassenlehrer siezen soll. Franziska, die sich ja noch im sozialisatorischen Prozess des Erwerbs der Grundqualifikationen des Rollenhandelns befindet, erfahrt diesen Doppelstatus der Beziehung als höchst irritierende Rollendiffusion. Als dem Freundeskreis der Familie zugehörige Person ist sie das Duzen gewohnt, soll nun aber im schulischen Zusammenhang zum Sie übergehen. Franziska erlebt ihren Klassenlehrer also in Abhängigkeit der Handlungssektoren in einer diffusen Freundschaftsbeziehung wie auch in der institutionell gerahmten rollenförmigen Lehrer-Schüler-beziehung. Die schulisch-institutionelle Umstellung der Interaktionsbeziehung auf das formale Sie destabilisiert dann das lebensweltlich gewachsene Vertrauen Franziskas in die Person des Klassenlehrers – „un ich glaub das hat irgendwie mein Vertrauen da etwas, gestört“ den Franziska nun sehr klar als Autoritätsperson kategorisiert, der man als Kind gehörigen Respekt entgegenzubringen hat: „hatte einfach fürchterlich Respekt vor dem“. Letztlich führt der Wechsel des Beziehungsformats von einer diffusen zu einer pädagogisch-professionellen Generationenbeziehung zum Rückzug Franziskas aus der lebensweltlichen Beziehungskonstellation mit dem Klassenlehrer: „wenn der dann kam zu som Hausbesuch oder so dann hab ich ihn nich in mein Zimmer gelassen“. In Folge der noch nicht entfalteten Kompetenz, mit den Mehrdeutigkeiten dieser ambivalenten Beziehungskonstellation flexibel umgehen zu können, begrenzt Franziska das Verhältnis auf den Bereich der mehr distanzierten Lehrer-Schülerbeziehung, sie sieht den Klassenlehrer nur noch als Lehrer, nicht mehr als Freund der Familie. Im Unterschied zur genannten Kindergärtnerin wird er von Franziska nicht als bedeutsamer Anderer konstruiert, und es bleibt auch zu fragen, inwieweit diese Beziehungskonstellation Franziskas Distanzhaltung und ihrem frühkindlichen Familialismus ungewollt Vorschub leistet. Eine sinnlogisch durchaus ableitbare Belastung der Einsozialisation in die Waldorfschule bzw. der folgenden Schulbiographie in den Klassenlehrerjahren – im Sinne eines schulbiographischen Basisproblems – scheint für Franziska jedoch kein subjektiv relevantes Thema zu sein.
ja also jedenfalls kam ich dann an die Schule (x), ich hatte da bis dahin immer so lange Haare so bis hier und die hab ich dann, abgeschnitten nachem halben Jahr, und hatte dann ganz lang ganz kurze Haare so Jungshaarschnitt (I: hm), und ich glaub das, das steht auch in irgend nem Zeugnis drin, mit diesem neuen Haarschnitt hätte sich dann irgendwie, was verändert und, ich glaub ich war da so am Anfang immer total schüchtern und, und so, und hier zu Hause war ich halt so, eh schon en bisschen irgendwie, cholerisch und jähzornig (I lacht) und wollte immer nich so und, immer mit rumgeschrien und ehm, ja meine Eltern ham dann immer gesagt ja ich könnt jetzt in mein Zimmer verschwindn bis das Böckchen aus meinem Kopf wieder rausgegangen is, und ich hatte dann nur so das Gefühl mir wachsen dann irgendwann so Hömer hier raus (gemeinsames Lachen) also jedenfalls ehm, könnt ich dann immer mal in meim Zimmer bisschen, mich austoben (.) und dann ehm (.) aber in der Schule war ich immer so, ganz still und,
Mit der Einsozialisation in die Waldorfschule verbindet sich für Franziska die Erfahrung eines Wechsels ihrer Selbstpräsentation in der schulischen Sozialwelt, den sie am äußeren Gestaltwandel, nämlich an ihrem veränderten Haarschnitt, verdeutlicht; sie gibt sich ein verändertes Erscheinungsbild. Während Franziskas Einstellung zur sozialen Mitwelt in der Schule bis dato von Zurückhaltung und Schüchternheit geprägt war und sie auch auf der Waldorfschule eine Anfangsschüchternheit an den Tag legt, erwächst ihr nun allmählich eine etwas aktivere, gleichwohl jedoch stark kontrollierte Haltung ihren altersgleichen Interaktionspartnern gegenüber. Symbolisch für diese Haltungsänderung, welche Franziska nicht konkret durch Adjektive charakterisiert, steht der „Jungshaarschnitt“, den sie lange beibehält und mit dem sie sich möglicherweise eher männliche Verhaltensstereotype aneignen möchte. Dieser Wandel der Selbstpräsentation findet sogar im Zeugnisbericht des Klassenlehrers Erwähnung. Die folgende Kontrastkonstruktion weitet dann das Thema des Segments auf eine Theoretisierung ihrer damaligen Selbstformation aus: Im Vordergrund steht nicht mehr die Beschreibung ihrer schulischen Verhaltensänderung als solcher, sondern die grundlegende Differenz ihrer Selbstdarstellung zwischen familialer und schulischer Sphäre. Gegenüber ihrer eher distanziert-angepassten Verhaltenskontrolle im schulischen Raum legt sie in der Familie ein häufig unkontrolliert affektgeladenes, oppositionelles Verhalten an den Tag, möglicherweise als Kompensation der schulischen Anpassung und/oder als reaktive Gegenbewegung zur umfassenden elterlichen Sorgehaltung: „und hier zu Hause war ich halt so, eh schon en bisschen irgendwie, cholerisch und jähzornig (I lacht) und wollte immer nich so“. Franziska fuhrt keine konkreten Motive bzw. Inhalte der Konflikte mit den Eltern an, obwohl es sich um beiderseits lautstark geführte Auseinandersetzungen gehandelt haben muss („und, immer mit rumgeschrien“). Ihr Verhalten wird von den Eltern als gewissermaßen naturwüchsige Cholerik („Böckchen“) einerseits in einer permissiven Kindorientierung entdramatisiert, aber auch andererseits durch verordnete Auszeiten im Kinderzimmer sanktioniert. In ihrer kindlich-naiven Haltung zeigt sich Franziska durchaus von der elterlichen Sinnkonstruktion beeindruckt, insofern sie das Gefühl hat, „mir wachsen dann irgendwann so Hörner hier raus“ – ein erster indirekter Hinweis auf Franziskas kindlich-naive Introversion, das Aufgehen in der kindlichen Phantasiewelt, das sie später thematisieren wird, und zugleich ein Hinweis auf die, bei aller Opposition, Geltungskraft und Autorität der elterlichen Konstruktionen.
ich konnte halt auch alle=das meiste schon was die da gemacht ham und die das war ja so ne gemischte=also das wurde ja so zusammengewürfelt in der dritten Klasse un manche kamen von der Waldorfschule aus F.-stadt, un konnten halt nich so richtich lesen un, ich mein ich hab das hier in der ersten Klasse gelernt und ich konnte, sowieso ziemlich schnell lesen und, konnte auch schon schnell schreiben (I: hm) und, hab mich da ziemlich gelangweilt, hab da immer meine Stifte gespitzt un so=das war alles irgendwie eher, en bisschen zäh (.) und Rechnen könnt ich nich so gut, da dürft ich dann immer in die Rechenübstunde gehen das fand ich auch nich so prickelnd aber (.) da hatten wir immer noch ne Zusatzstunde da (I: hm) musste man dann noch, ja also wir mussten halt so en paar noch dableiben dann ham wir dann geübt un, das hat dann aber auch glaub ich viel geholfen weil, was was ich da gelernt hab das mach ich mit manchen Dingen immer noch also so dass man so en bisschen ne bildhafte Vorstellung von den Zahlen kriegt (I: ja), und ehm (..) ja irgendwann gings dann irgendwann, so ab der siebten Klasse also gehörte ich dann auch zu den Rechenkünstlern und musste immer die Extraaufgaben machen un so (..) ja (…)
In der Vergegenwärtigung der Erfahrungen des ersten Schuljahres in der Waldorfschule sind für Franziska zunächst eher negativ getönte Differenzerfahrungen relevant, welche die Leistungskultur betreffen, wie aus dem obenstehenden beschreibenden Segment hervorgeht. In der Leistungshierarchie der neu zusammengesetzten dritten Klasse, die sie distanzierend sozial als Sie-Gebilde figuriert („die“) und deren Schüler sich nicht nur aus staatlichen Grundschulen, sondern auch aus umliegenden Waldorfschulen rekrutieren, gehört Franziska der Spitzengruppe an. Der Unterrichtsgang orientiert sich am Waldorflehrplan, so dass Mitschüler, die wie Franziska von staatlichen Grundschulen kommen und eher leistungsstark sind, sich im Unterschied zu jenen Mitschülern unterfordert fühlen müssen, die bereits die ersten beiden Schuljahre auf einer Waldorfschule verbracht haben und daher den Wechsel hinsichtlich der Inhalts- und Leistungsdimension weniger als Bruch erleben. Während für viele Mitschüler noch die Festigung der elementaren Kulturtechniken des Lesens und Schreibens sichergestellt werden muss, kann Franziska schon „ziemlich schnell lesen“ und „auch schon schnell schreiben“. Sie erfüllt also die schulischen Leistungsanforderungen in diesen beiden Bereichen mit Bravour, erhält keine besondere Förderung, fühlt sich daher unterfordert und wendet sich vom Lerngeschehen der Vorderbühne des Klassenzusammenhangs ab: „hab da immer meine Stifte gespitzt un so=das war alles irgendwie eher, en bisschen zäh“. Die Waldorfschule wird in dieser Hinsicht also Franziskas Leistungsstand und auch Leistungsambitionen nicht gerecht, und dies leistet der Distanzierungsbewegung Franziskas noch Vorschub.
Im Gegensatz zu ihren exzellenten sprachlichen Fähigkeiten hat Franziska im Rechnen Probleme, weshalb sie nach dem regulären Klassenunterricht mit einigen anderen Mitschülern eine zusätzliche „Rechenübstunde“ besucht, die sie „auch nich so prickelnd fand“. Aus der Retrospektive kann sie jedoch diesen Förderunterricht positiv bilanzieren (angezeigt auch durch die nun verwendete Wir-Kategorie), weil sie sich dort auf der Grundlage der phänomenologischen Sachbearbeitung („bildhafte Vorstellung von den Zahlen“) Lernstrategien aneignet, die sie bis heute bei Lernproblemen erfolgreich anwendet. Franziska gelingt es in den folgenden Schuljahren, ihre Defizite in Mathematik abzubauen, ja sie stößt auch in diesem zentralen schulischen Lernbereich in die Leistungselite der Klasse vor und wird schließlich mit Sonderaufgaben individuell gefördert. Schon in diesem Segment, das den Einstieg in ihre Waldorfschullaufbahn beschreibt, entwirft sich Franziska entlang der für sie, wie sich noch zeigen wird, hochrelevanten Leistungsdimension als exzellente Schülerin, die sich deutlich vom Klassendurchschnitt abhebt. Wir begegnen hier einem weiteren Element von Franziskas Identitätskonstruktion: der Besonderung über den Leistungsbezug als exzellente, den meisten anderen Mitschülern ihrer Klasse weit überlegene Schülerin. Ihre diesbezüglichen frühen Bildungsansprüche bleiben weitgehend unerfüllt.
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