Dieser Fall basiert auf Material aus den INTAKT-Daten. Die kompletten Datensätze können zu Forschungszwecken über das Online-Fallarchiv Schulpädagogik angefordert werden. Mehr Informationen finden Sie unter http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/projektdaten-intakt/intakt-informationen/.
Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
„Serielle Stigmatisierungen von Schüler/innen in Lehrer-Schüler-Interaktionen – Justus“
Einleitende Bemerkungen
Im Folgenden werden die beiden ausgewählten Fälle serieller Diskriminierung, Justus und Melanie, anhand von Szenenfolgen vorgestellt. Auf diese Weise werden Einblicke in alltägliche Stigmatisierungsprozesse im schulischen Kontext möglich. Es ist zu berücksichtigen, dass in den Unterrichtsstunden stets mindestens ein Beobachter des Forschungsteams anwesend war und dennoch solche Stigmatisierungsprozesse, wie sie im Folgenden geschildert werden, beobachtet werden konnten. Wie Lehrkräfte sich verhalten, wenn keine Beobachter anwesend sind, ist eine immer wieder diskutierte offene Frage.
Zunächst werden fünf Szenen vorgestellt, in deren Mittelpunkt Justus steht, anschließend geht es in vier Szenen um pädagogische Interaktionen mit Melanie. Die einzelnen Szenen werden nacheinander jeweils beschrieben, unter Hinzuziehung der Beobachterinterpretation interpretiert und im Hinblick auf ihre kinderrechtliche Relevanz analysiert.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Melanie
Melanie, ein Kind mit festgestelltem Förderbedarf, besucht wie Justus eine dritte Klasse in einer staatlichen Grundschule. In dieser Klasse werden neben ihr noch zwei weitere „Inklusionskinder“ unterrichtet. Gemeinsam sitzen sie an einer Tischgruppe – abgesondert von den anderen Schülern. Es wurden sechs Unterrichtsstunden beobachtet und dabei 16 von insgesamt 613 Lehrer-Schüler-Interaktionsszenen mit Melanie festgehalten. Im Folgenden wird ein Einblick in vier ausgewählte Szenen gegeben, die zeigen, wie Melanie wiederholt durch ihre Lehrerin verletzt wird. Es konnte keine anerkennende oder sehr anerkennende Szene beobachtet werden. Insgesamt weisen von den 16 Szenen neun neutrale, drei leicht verletzende, vier sehr verletzende und eine ambivalente Qualität auf.
Szenenbeschreibung 6 – Melanie
Beim Anblick von Melanies Mathe-Hefter ruft die Lehrerin angewidert und in großer Lautstärke aus: „Igitt, Melanie, guck doch mal! Wie sieht denn der aus? Das geht nicht, das ist ja eklig! So kann das nicht aussehen!“ Das Mädchen sitzt dabei mit hoch gezogenen Schultern, den Kopf dazwischen verbergend, sichtlich beschämt an ihrem Platz und lässt den „Redeschwall“ der Lehrkraft über sich ergehen.
Interpretation
Die Lehrkraft erteilt ihre Kritik lange und in großer Lautstärke, womit eine öffentliche Beschämung des Mädchens einhergeht, während der Rest der Klasse ohne Beschäftigung ist und zwangsläufig die ganze Szene verfolgt. Die drastische Wortwahl der Lehrerin („Igitt, eklig“) erscheint diskriminierend und zudem falsch, da, wie das Protokoll ausweist, der Hefter lediglich geknickt und am Rand ausgefranst ist. Der Beobachter fragt sich, „was nun schon wieder in die Lehrkraft gefahren“ ist.
Kinderrechtliche Reflexion
Melanie wird anhand des Umgangs mit ihrem Arbeitsmaterial von der Lehrkraft in dieser Szene bloßgestellt und stigmatisiert. Es ist fraglich, ob das Mädchen, die Klassenkameraden und die Lehrerin die drastischen Ausdrücke „igitt“ und „eklig“ rein auf den Hefter beziehen oder auf das Kind selbst. Laut Beobachtungsprotokoll ist der Zustand des Hefters längst nicht so drastisch, wie er geschildert wird. Man könnte annehmen, dass die Lehrkraft das Mädchen vor der Klasse demütigen möchte und der Hefter dazu einen Anlass bietet. Die Reaktion des Kindes mit den hoch gezogenen Schultern und dem Verstecken des Kopfes zeigt die große Verletzung. Auf diese alarmierende Reaktion geht die Lehrkraft jedoch nicht ein. Durch dieses bloßstellende Lehrerverhalten lernt das Kind nicht den richtigen Umgang mit den Materialien, sondern erfährt lediglich, dass der bisherige als „eklig“ bezeichnet wird. Solch überaus diskriminierendes und nicht förderliches Lehrerverhalten steht entgegen den Anforderungen der Kinderrechtskonvention laut Artikel 2 (Diskriminierungsverbot) und Artikel 29/1c (Bildungsziele).
Szenenbeschreibung 7 – Melanie und Hanna
Hanna und Melanie sind im Sportunterricht mit dem Dreierhopp dran. Nachdem Hanna überschwänglich von der Sportlehrerin gelobt wird: „Super, Hanna!“, springt Melanie kraftlos und erreicht so eine sehr geringe Weite. Dann geht sie schnell wieder an die Linie zurück und sieht die Lehrerin hilfesuchend an. Diese sieht ihrerseits gespannt der Spielentwicklung im Feld nebenan zu, schiebt Melanie zur Seite, so dass Hanna den nächsten Sprung ausführen kann. Ohne Melanie Anleitung zum Springen anzubieten, benotet sie sie schließlich mit einer 5. Daraufhin geht Melanie konsterniert dreinschauend zu den anderen zurück.
Interpretation
Die Lehrerin bevorzugt hier im direkten Vergleich der Mädchen Hanna, die ihre Hilfe weitaus weniger benötigt als Melanie. Melanie gibt durch ihren hilfesuchenden Blick auch eindeutig zu verstehen, dass sie Unterstützung wünscht. Die Geduld und Zeit, die die Lehrerin zuvor bei anderen Schülern an den Tag legte, verwehrt sie Melanie in dieser Szene. Leider hat die Lehrerin keine „Antenne“ für die Not des Mädchens, schiebt es buchstäblich zur Seite, als es Ermutigung gebraucht hätte und räumt stattdessen den Platz für Hanna. Die Lehrerin überlässt Melanie ihrem Schicksal der vorschnellen schlechten Zensierung. Den Beobachter überrascht es, dass die zuvor in der Interaktion mit anderen Kindern so neutral und ermutigend wirkende Lehrerin für Melanie so wenig Einfühlungsvermögen und Umsicht zeigt. Dem Beobachter tut es leid für Melanie, gerade dieses Mädchen hätte Aufmunterung so nötig anstelle weiterer entmutigender Erfahrungen.
Kinderrechtliche Reflexion
In dieser Szene wird Melanie aufgrund ihrer Leistung stigmatisiert. Die Lehrerin gibt dem Kind keine Hilfestellungen und lässt sie nicht mehrfach trainieren, bevor sie sie benotet. Sie zeigt kein Interesse an der sportlichen Entwicklung des Kindes. Der Vergleich zur Mitschülerin Hanna spitzt die vorliegende Szene weiter zu, denn dieser zollt die Lehrkraft große Anerkennung und lässt sie die Leistung auch mehrfach verbessern. Die Reaktion von Melanie, nämlich konsterniert dreinschauend, die Situation zu verlassen, zeigt abermals ihre Verletzung, worauf jedoch die Lehrkraft nicht reagiert. Dieses Lehrerverhalten steht im Gegensatz zu der Forderung der Kinderrechtskonvention Artikel 29/1a, dass jedes Kind in seiner physischen und psychischen Entwicklung entsprechend seines Standes und seiner Möglichkeiten umfassend gefördert werden muss.
Szenenbeschreibung 8 – Melanie
Im Laufe der anschaulichen Erzählung der Lehrerin schreit diese plötzlich laut auf, um ihre Angst in der Achterbahn zu verdeutlichen. In diesem Moment schreckt Melanie auf, die mit dem Rücken zur Lehrerin an einem Extratisch mit zwei anderen Inklusionskindern sitzt und weiterhin an ihren „Extra“-Aufgaben arbeitet.
Interpretation
Die Lehrerin scheint so in ihre Erzählung vertieft, dass sie die Tischgruppe der Inklusionskinder komplett vergessen zu haben scheint und auch nicht daran denkt, den noch immer arbeitenden Kindern der Tischgruppe ebenfalls eine Zuhörpause einzuräumen. Melanie geht gewissenhaft den ihr erteilten Aufgaben nach und wird aufgrund ihrer Sitzposition von dem Ausruf der Lehrerin völlig überrascht. Es ist schön, dass die Lehrerin so von ihren Erlebnissen begeistert ist, aber in dieser Situation völlig unangebracht, da sie ihre Rolle als Lehrerin zu vergessen scheint und den eigenen Redebedarf vor die Schüleräußerungen stellt. Es wird der Eindruck verstärkt, die „Förderkinder“ gehörten nicht wirklich zur Klasse.
Kinderrechtliche Reflexion
Die Sitzordnung enthält eine ausgrenzende Inszenierung während einer Unterrichtsaktivität, an der ohne weiteres alle Kinder teilhaben könnten: Die Inklusionskinder sitzen abgesondert an einem Tisch und bearbeiten Aufgaben, während die anderen Schüler der Geschichtenerzählung der Lehrkraft folgen und neue Themen bearbeiten. Die lebendigen Schilderungen der Lehrkraft erschrecken Melanie in dieser Szene, da sie in ihre Arbeiten vertieft ist. Es ist schade, dass die Lehrkraft die Inklusionskinder nicht in das unterrichtliche Geschehen involviert. Melanie wird in dieser Szene mit den beiden anderen Kindern ausgegrenzt und aufgrund ihres Inklusionsstatus ausgeschlossen und stigmatisiert. Dies widerspricht Artikel 2 und Artikel 29/1d der Kinderrechtskonvention, die für eine Gleichbehandlung sowie für Toleranz stehen und sich gegen Diskriminierung aussprechen.
Szenenbeschreibung 9 – Melanie
Als die Lehrerin erstaunt bemerkt, dass Melanie zur Tafel schaut, darf diese eine von ihr gestellte Frage beantworten („Kannst auch mitmachen.“), was das Mädchen schüchtern tut.
Interpretation
Die Lehrerin scheint überrascht vom Interesse von Melanie zu sein, offenbar kommt dies selten vor oder es fiel der Lehrerin sonst nicht auf. Sie gestattet dem Mädchen, nun auch aktiv am Klassengeschehen teilzunehmen. Der Beobachter findet diese Interaktion „ungeheuerlich“, denn man gewinnt den Eindruck, dass dem Mädchen hier quasi die Teilnahme am „eigentlichen Unterricht“ erlaubt wird, was die sonst übliche Ausgrenzung unterstreicht. Der Beobachter zweifelt aber daran, dass sich die Lehrerin der Tragweite ihrer Äußerung bewusst sein dürfte[1].
Kinderrechtliche Reflexion
Melanie und die beiden anderen „Inklusionskinder“ sind von der Klassengemeinschaft und dem gemeinsamen Lernen ausgeschlossen. Ausnahmsweise erhält Melanie in dieser Szene die Erlaubnis, sich am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen. Durch den Ausschluss aufgrund des Inklusionsstatus werden die drei Kinder hochgradig stigmatisiert. In dieser Szene wird ebenfalls gegen Artikel 2 der Kinderrechtskonvention (Diskriminierungsverbot) verstoßen.
Zwischen der Schülerin Melanie und den Lehrkräften wurde keine besonders anerkennende Interaktionsszene beobachtet. Es gab lediglich Szenen, in denen die Verletzung des Kindes eventuell als weniger stark eingeschätzt werden konnte, wie die vorangegangene Situationsschilderung belegt.
Fußnote:
[1] Lehrerverhalten ist nicht immer eindeutig. Die Ambivalenzen der Szenen wurden in der Kürze des Aufsatzes nicht erörtert, bieten aber Potenzial für kollegiale Fallberatungen und weitere wissenschaftliche Forschungen.
Literaturangabe:
National Coalition (1992): Kinderrechtskonvention. Online verfügbar unter: http://www.national-coalition.de/pdf/UN-Kinderrechtskonvention.pdf, Stand: 04.05.2012.
Mit freundlicher Genehmigung von Budrich Journals.
http://www.budrich-journals.de/index.php/diskurs/article/view/23656/20657
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