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Schulkarriereverlauf und individueller Orientierungsrahmen bis zur Klasse 7 – eine Kontrastierung der Fälle Legolas und Fritz
Die Fallstudien der Schüler Legolas und Fritz fassen die fallspezifischen Rekonstruktionsergebnisse zusammen. In diesem Kapitel wird es darum gehen, beide Schüler gegenüberzustellen und die Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten der Verläufe der Schulkarrieren, der individuellen Orientierungsrahmen und des Verhältnisses von Orientierungsrahmen und Schulkarriere herauszuarbeiten. Durch diese Kontrastierung sollen so die einzelfallspezifischen Erkenntnisse erweitert und konkretisiert und erste Ableitungen für typologische Bestimmungen getroffen werden.
Der Verlauf der Schulkarriere – Die Dynamisierung der Schulkarrieren in der Sekundarstufe I durch individualisierte und „nachgezogene“ Übergänge
Zunächst werden die Grundschulzeit, der Übergang an eine weiterführende Schule und der Sekundarstufenverlauf der beiden Schüler dargestellt. Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten aber auch deutliche Unterschiede in den Schulkarriereverläufen von Legolas und Fritz bis Klasse 6. Der Wechsel von der 6. zur 7. Klasse wird dann von beiden Schülern gleichermaßen – trotz unterschiedlicher Schulformzugehörigkeiten – als relevante Übergangsphase wahrgenommen. Für den Schüler Legolas ist die Grundschulzeit durch eine hohe Kontinuität und Harmonie gekennzeichnet. Dies zeigt sich bereits im Wechsel vom Kindergarten in die Grundschule. Er hat einen unproblematischen Übergang in die Grundschule, den er positiv deutet, da er mit der Einschulung Statusgewinne verbinden und seine Orientierungen sowohl auf der Ebene der formalen als auch auf der Ebene der informellen Bildungsräume der Schule umsetzen kann. Auch im weiteren Verlauf der einzelnen Klassen macht er in den Bereichen der schulischen Leistungsanforderungen und der Gleichaltrigen positive Erfahrungen an der Grundschule. Am Ende der Grundschulzeit blickt er so zum einen auf eine für ihn glückliche und erfolgreiche Grundschulkarriere zurück, zum anderen freut er sich auf den Wechsel an ein Gymnasium, da er z.B. die Kontinuität alter Freundschaften und das Schließen neuer Freundschaften und damit einen positiven Übergang antizipieren kann. Die Ankunft bestätigt seine Antizipationen und Legolas nimmt das Gymnasium als einen für ihn adäquaten Bildungsort wahr. Allein die Leistungserwartungen vermag er noch nicht richtig einschätzen zu können und er befürchtet hier eine Steigerung im Verlauf der Sekundarstufe. Der gelungene Übergang an das Gymnasium und die bis dahin harmonische und kontinuierliche Schulkarriere von Legolas werden in der Klasse 7 nun aber einer starken Bewährungsprobe durch für ihn neue Leistungsanforderungen und Fachlehrer ausgesetzt, die vor dem Hintergrund der bis dahin harmonischen Schulkarriere von Legolas so „schockhaft“ gedeutet werden, dass er retrospektiv den Übergang in Klasse 5 anders bewertet. Die neuen Veränderungen, die Legolas überraschen und stark irritieren, lassen sich als ein „unerwarteter und verborgener Übergang“ von der 6. zur 7. Klasse fassen. Neue Anforderungen bringen seinen Orientierungsrahmen aus dem Gleichgewicht und beinhalten leistungsbezogene Abstiegstendenzen seiner Schulkarriere. Legolas Verlauf lässt sich durch die plötzlichen Einbrüche seiner bis dahin kontinuierlichen Schulzeit folglich als eine Karriere eines „nachgezogenen Sekundarstufenschocks“ festhalten.
Die Karriere von Fritz weist bis zur Klasse 5 trotz der Unterschiede in der Wahrnehmung formal einige Analogien zum Verlauf von Legolas auf. Auch Fritz durchläuft eine kontinuierliche Grundschullaufbahn ohne Brüche und wechselt am Ende der 4. Klasse an ein Gymnasium. Allerdings werden in seinen Erfahrungsräumen der Grundschule schon einige Schwierigkeiten evident, die sich bei Legolas nicht finden lassen. Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule wird so von Fritz bereits als Bedrohung seiner Integrationsorientierungen wahrgenommen und auch im weiteren Verlauf verfestigt sich der Wunsch nach festen und dauerhaften Freundschaftsbeziehungen als zentrales Thema seiner Schulkarriere. Daneben zeigt sich, dass er die schulischen Strukturen und Regeln als etwas Fremdes und Unbekanntes wahrnimmt, aber trotzdem versucht, sich diesen Vorgaben anzupassen. Damit erlebt Fritz seine Grundschulzeit weniger harmonisch als Legolas und stellt sich durch den recht frühen Übergang nach Klasse 4 das für Fritz bedrohliche Desintegrationsthema erneut. Er erfährt bezüglich der neuen Schule Unsicherheiten und Ungewissheiten, setzt sich vor dem Hintergrund seiner passiven Haltungen zur Schule kaum mit dem Übergang auseinander und gibt die Entscheidung an die „Bildungsanwaltschaft“ der Mutter ab. Durch den von der Mutter fremdgelenkten Übergang an ein Gymnasium entgegen der Schullaufbahnempfehlung der Lehrerin sieht sich Fritz dann mit zusätzlichen und hohen Leistungs- und Integrationsanforderungen konfrontiert, es wächst seine Schulfremdheit und Fritz erlebt ein leidvolles Jahr am Gymnasium, so dass er bereits nach der 5. Klasse an eine Sekundarschule wechselt und einen dritten, individualisierten Übergang vollzieht.
Die 6. Klasse an einer für ihn „normalen Schule“ enthält zunächst Stabilisierungspotentiale und es zeigen sich Erholungseffekte bezüglich seiner Leistungen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung, die er auch selbst positiv deutet, kann man hier von einem für ihn „glücklichen Abstieg“ sprechen. Die Integration ist aber nach wie vor ein kontinuierliches Bedrohungsthema, da er in der Sekundarschule einigen oppositionellen Schülern begegnet und deren Verhaltensweisen in einer Als-Ob-Haltung zu entsprechen versucht. Die für ihn erneute Steigerung der Leistungsanforderungen, ein Jahr später in der 7. Klasse, durch die Ausdifferenzierung innerhalb der Sekundarschule in einen Haupt- und Realschulzweig und durch seinen Wechsel in den Realschulzweig, bergen zudem neue Bedrohungspotentiale auf der Leistungsebene in seine Schulkarriere und Fritz vollzieht einen weiteren Übergang. Folglich erfährt er wie Legolas überraschenderweise einen Übergang von der 6. in die 7. Klasse. Da dieser Übergang durch die institutionellen Regeln formal bekannt ist, sprechen wir hier von einen „institutionell verschleierten Übergang“. Seine vor allem in der Sekundarstufe diskontinuierliche Schulkarriere ist damit bereits von mehreren standardisierten und individualisierten Übergängen durchzogen. Die in der Fallstudie gekennzeichneten mehrfachen Bedrohungspotentiale seiner Schulkarriere lassen dabei weitere Übergänge nicht ausschließen und demnach kennzeichnen wir seine Schulkarriere als eine der „nachgezogenen Übergänge mit vielschichtigen Bedrohungspotentialen“.
Mit der Auswertung der dritten Interviews in Klasse 7 – und bei Fritz auch des flexiblen Interviews in Klasse 6 – geraten verstärkt Schulkarriereaspekte in den Fokus unserer Studie. Zusammengefasst sollen die folgenden Befunde festgehalten werden:
1. Es ist erstaunlich, welche Dynamisierungsformen sich im Verlauf der Sekundarstufe I bei beiden Schülern andeuten. Der Übergang an eine weiterführende Schule wirkt sich sowohl bei Fritz – sehr drastisch – mit in der Folge weiteren Übergängen und Karrieretransformationen als auch bei Legolas verzögert in Klasse 7 aus.
2. Damit verbinden sich Verzögerungs- und Verschleierungseffekte des Übergangs in die Sekundarstufe I, welche den Übergang in die Sekundarstufe relativieren, nachgezogene Korrekturen erfordern und die in verschiedenen nachgezogenen und individualisierten Übergängen zum Ausdruck kommen.
3. Folglich kann man in den Schulkarrieren zwischen „standardisierten“ (z.B. Übergang 4. zur 5. Klasse), „individualisiert verzögerten“ (z.B. Übergang an eine andere Schulform) und „verschleierten“ (z.B. Wechsel von der 6. in die 7. Klasse) Übergängen unterscheiden. Besonders der Wechsel in die 7. Jahrgangsstufe wird durch die höheren Anforderungen (in der Sekundarschule durch die Ausdifferenzierung der Zweige), neue Fachlehrer und neuen Fächer (z.B. die 2. Fremdsprache) von den Schülern als ein unerwarteter Übergang wahrgenommen.
In beiden Fällen zeigt sich damit, dass der Übergang von der Primär- in die Sekundarstufe I aus der Perspektive der Schüler nicht mit dem Ankommen an der neuen Schule abgeschlossen ist, sondern weiter in der Schulkarriere prozessiert und in retrospektiver Sicht neu gedeutet und bewertet wird. Diese interessanten Ergebnisse, verzögerter Effekte und Modifizierungen des Übergangs in die Sekundarstufe I, gilt es in den weiteren Analysen an weiteren Einzelfällen zu kontrastieren und zu prüfen. Im Anschluss daran lassen sich dann so die Karriereverläufe zu einer Typologie von Schulkarriereverläufen verdichten.
Die Transformationsprozesse im individuellen Orientierungsrahmen der Schüler
Die beschriebenen Prozesse in der Schulkarriere von Legolas und Fritz haben – wie die Fallstudien bereits zeigen konnten – Einflüsse auf die individuellen Orientierungsrahmen der Schüler. In diesem Abschnitt sollen diese Veränderungen der schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen anhand der folgenden Dimensionen beschrieben werden:
a) Transformation der Relevanz von Schule und Bildung im Orientierungsrahmen
b) Transformation der Bedeutung der Peers und der Familie für den schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen
c) Transformation der Enaktierungspotentiale, Bewältigungsformen und Deutungen der Schulkarriere im Orientierungsrahmen
a) Transformation der Relevanz von Schule und Bildung im Orientierungsrahmen: Im individuellen Orientierungsrahmen von Legolas am Ende der 4. Klasse wird deutlich, dass Schule und Bildung wichtige Komponenten seines Orientierungsrahmens darstellen. Schule ist für ihn neben der Peerwelt der zentrale Bildungsraum, in dem er gern die Kulturtechniken erlernt und sich kognitive Entwicklungsfortschritte vollziehen. Legolas verfügt dabei über Handlungspotentiale, sich aktiv mit schulischen Bedingungen und Inhalten auseinander zu setzen. Neben diesem inhaltlichen Stellenwert ermöglicht die Schule ihm auch einen Zugang zu Freundschaften und so auch zu informellen Bildungsprozessen. Darüber hinaus rücken die schulischen Bewertungs- und Beurteilungssituationen in der Grundschule in einen positiven Gegenhorizont. Dieser zentrale Stellenwert schulischer Bildung setzt sich nach dem Übergang fort und auch zu Beginn des Gymnasiums lässt sich eine Balance von Schul- und Peerorientierung rekonstruieren. Allein die etwas höheren Anforderungen werden in ersten Eigentheorien und Bewältigungsformen bearbeitet und führen zu einem leichten Veränderungsdruck im Orientierungsrahmen. Dieser positive Bezug auf die Schule verändert sich in der 7. Klasse grundlegend. Die gymnasialen Erfahrungen erhöhter Lernanforderungen führen dazu, dass die Schule in dieser Form tendenziell in einen negativen Gegenhorizont rückt. Schule wird vor diesem Hintergrund vor allem als ein fremdbestimmter Lernort wahrgenommen, der andere zentrale Bereiche bedroht. Dies führt zu neuen Bearbeitungsprozessen im Orientierungsrahmen von Legolas, da die schulischen Handlungspotentiale der Grundschule nicht mehr greifen und alternative Enaktierungen sich nur langsam entwickeln. Diese Konstellation führt nun aber nicht dazu, dass Legolas der Schule „ganz kündigt“. Nach wie vor besitzt er Bezüge, schulischen Anforderungen zu entsprechen und eine gymnasiale Schulkarriere zu vollenden. Es dokumentieren sich folglich Transformationsprozesse im Orientierungsrahmen, die vor allem die Wahrnehmung schulischer Leistungsanforderungen betreffen.
Im deutlichen Kontrast zu Legolas ist bei Fritz von Beginn der Schulkarriere an, eine Fremdheit zu schulischer Bildung auszumachen. Besonders zeigt sich dies in der distanzierten und unsicheren Bezugnahme auf die Noten und Inhalte der Schule. Dieser Fremdheit steht auf der anderen Seite jedoch eine Orientierung an der Entsprechung schulischer Vorgaben entgegen, die ihm maßgeblich durch seine Mutter auferlegt wird. Folglich finden sich im Orientierungsrahmen von Fritz einerseits die eigenen indifferenten und passiven Haltungen zu Schule und Bildung, andererseits die von außen an ihn herangetragenen schulaffinen Orientierungen der Mutter. Zudem bekommt die Schule für Fritz den Stellenwert, eine Integration in eine Peer-Gemeinschaft sicher zu stellen. In der Konstellation dieses Gleichgewichts von Peerorientierung und auferlegter schulischer Konformität deuten sich Entsprechungen zum Orientierungsrahmen von Legolas an, jedoch steht dieses Gleichgewicht von Fritz bereits in der Grundschule unter der ständigen Bedrohung, aus den Fugen zu geraten, und er verfügt selbst kaum über Handlungspotentiale, eine schulische Affinität zu entwickeln und Freundschaftsbeziehungen anzubahnen. Mit dem Übergang verschärft sich diese Konstellation enorm und die Fremdheit zu schulischer Bildung und der Transformationsdruck auf seinen Orientierungsrahmen nehmen zu. Durch den Wechsel an eine Sekundarschule kommt Fritz zwar an einem für ihn vertrauten und bekannten schulischen Ort an und seine Situation entspannt sich, jedoch auch hier wird virulent, dass er Probleme hat, schulischen Inhalten zu folgen. Diese Entsprechungsprobleme versucht er zu kaschieren, indem er dem Schulischen eine „Scheinaufmerksamkeit“ entgegen bringt. Schule bleibt für ihn ein nach wie vor „fremder Bildungsort“. Damit zeigt sich bei Fritz – trotz der Wechsel – eine hohe Kontinuität der geringen Relevanz des Schulischen im Orientierungsrahmen bei gleichzeitiger Bedeutung der Schule für die Mutter.
b) Transformation der Bedeutung der Peers und der Familie für den schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen: Den Freundschaftsbeziehungen und der Familie werden in den Orientierungsrahmen unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben, die sich im Verlauf wandeln und die hier in den Fokus zu nehmen sind. Bei Legolas fällt auf, dass seine Peerorientierungen kontinuierlich von der Einschulung bis zur Klasse 7 vorliegen. Interessant ist aber nun, wie sich diese Peerorientierungen in der Schulkarriere transformieren. Ging es am Anfang der Schulkarriere und auch noch vor dem Wechsel an eine weiterführende Schule für Legolas darum, möglichst viele Gleichaltrige aber auch ältere Kinder in der Schule zu treffen und sich mit diesen zum Beispiel über die Praxis des Fußballspielens zu vergemeinschaften, verändern sich diese Orientierungen im Fortgang seiner Schulkarriere am Gymnasium. Zum einen wechselt der Modus der Praktiken des Kennenlernens und der Vergemeinschaftung: Hier berichtet er verstärkt davon, dass er die Mitschüler seiner Klasse am Gymnasium nicht mehr über körperbezogene Spiele, sondern durch kognitive Wissenszugänge (Spiel „Wahrheit oder Pflicht“) kennen lernt und auch außerschulisch gemeinsame Übernachtungen und Feste stattfinden. Im Zusammenhang damit verändern sich zum anderen aber auch die Qualität der Freundschaftsbeziehungen und er differenziert zwischen Mitschülern in der Klasse und einer vertrauten außerschulischen Freundschaftsclique. Diese neuen Entwicklungen auf der Peer-Ebene führen nun dazu, dass Legolas eine Vollintegration in die Klasse nicht mehr anstrebt und sich in der Klasse 7 signifikante Freundschaften anbahnen, die den Übergang in die Adoleszenz stützen, aber auch Konsequenzen für den schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen haben, da die wachsende Peerbedeutung die Schulorientierung gefährdet. Im Kontrast zu dieser zentralen Peerdominanz im Orientierungsrahmen von Legolas und zum zentralen Stellenwert der Mutter bei Fritz, spielen die Eltern von Legolas in seinem Orientierungsrahmen eine marginale Rolle. Sie halten sich in der Schulkarriere von Legolas kontinuierlich zurück und unterstützen ihn an relevanten Stellen seiner Karriere, an denen eine Leistungsverschlechterung droht.
Im Orientierungsrahmen von Fritz ist die Präsens seiner Mutter deutlich. Im gesamten Schulkarriereverlauf taucht sie als signifikante Bildungsanwältin auf und übernimmt zentrale Schulkarriereentscheidungen, wie den Übergang an das Gymnasium. Dieser starken Außenlenkung der Mutter steht dabei die Konformitätsorientierung und die schulische Indifferenz und Fremdheit von Fritz gegenüber. Auch in den alltäglichen Schulangelegenheiten interveniert und kontrolliert sie die Leistungen des Sohnes. In der Tendenz wird diese zentrale Stellung der Mutter jedoch nach dem Wechsel an die Sekundarschule schwächer. Durch die starke Außenorientierung von Fritz haben ebenfalls die Mitschüler für den gesamten Karriereverlauf Bedeutung und Fritz ist um die ständige Integration in und Anpassung an die Gemeinschaft bemüht. Dieses kontinuierliche Bemühen um eine Integration und um eine diffuse sowie fiktive Peervergemeinschaftung ohne eigene Aktivitätspotentiale unterscheidet ihn dabei von Legolas, wenngleich sich auch bei Fritz in Klasse 7 das Peerthema zuspitzt und zu neuen Spannungen zur Schule führt. Diese Spannungen resultieren jedoch bei Fritz aus der Annährung an die schuloppositionellen Peers durch die Als-Ob-Haltung und das fiktive Selbstbild eines „wilden“ Schülers.
c) Transformation der Enaktierungspotentiale, Bewältigungsformen und Deutungen der Schulkarriere im Orientierungsrahmen: Hier geht es darum, wie die Formen der Auseinandersetzung mit und der Einflussnahme auf das Prozessieren der Schulkarriere sich transformieren bzw. ob sich Veränderungen in der Wahrnehmung der eigenen Schulkarriere als aktiv gestaltbare oder eher als wenig beeinflussbare anbahnen. Es ist demnach zu fragen, ob es Entwicklungen in den Bereichen gab, wie Legolas und Fritz ihre Schulkarriere deuten, bewerten und verarbeiten und welche Erklärungen und Begründungen sie für Erfolge bzw. Misserfolge entwerfen. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Legolas und Fritz. Legolas nimmt seine Schulkarriere bis Klasse 5 als eine stabile und von ihm beeinflussbare wahr. Erfolge in den Leistungen sowie die Peer-Integration führt er auf sein eigenes Handeln zurück und sieht sich als aktiver Gestalter seiner Schülerbiographie. Er betrachtet die Schule als Entdeckungs- und Aneignungsraum von neuen Freunden und interessanten Inhalten. Seine guten und sehr guten Noten werden von ihm dabei als Ergebnis seiner natürlichen Begabung gedeutet. Einer eigenen Anstrengungsbereitschaft bedarf es kaum. Jedoch ist er auch auf die Bestätigung und Anerkennung von außen angewiesen und es zeigt sich die hohe Bedeutung der Evaluation seiner Leistungen durch die Lehrer. Sein Fähigkeitsselbstbild hängt damit stark von dem Urteil dieser relevanten Anderen ab. Im Sekundarstufenverlauf verliert Legolas die Sicherheit in seiner Schulkarriere und sowohl auf der Peer- als auch auf der Leistungsebene muss er neue Entwicklungen bearbeiten. So kann er die bedrohlichen Erfahrungen eines neuen Klassenkollektivs erst allmählich durch die Kontinuität eines Laufbahnbegleiters und der schrittweisen Annäherung an die neuen Mitschüler bis hin zur Vergemeinschaftung mit neuen schulischen und außerschulischen Freunden positiv für sich wenden. Hier zeigt sich aber, wie Legolas nach und nach Handlungspotentiale zur Verfügung stehen, dieses brisante Übergangsthema zu bearbeiten und in eine erfolgreiche Integration in eine vertraute Clique zu überführen. Im deutlichen Kontrast dazu, kann er die heteronomen Entwicklungen im Leistungsbereich am Gymnasium nicht steuern, sieht sich den hohen Anforderungen ausgesetzt und bearbeitet die Umsetzungsprobleme seiner schulischen Leistungsorientierungen durch die Hinweise auf die Unberechenbarkeit der Anforderungen und familial übernommenen Normalisierungen. Damit wird deutlich, dass Legolas die Leistungsprobleme nach außen – an die Institution – attribuiert und in diesem Bereich „nur noch“ beschränkte Einflussmöglichkeiten des eigenen Handelns sieht. Er entwickelt lediglich Enaktierungspotentiale, die Noten in einem akzeptablen Bereich zu halten.
Bei Fritz ist eine solche Transformation nicht zu erkennen und er unterliegt im bisherigen Gesamtverlauf seiner Schülerbiographie den fremdgesteuerten Entwicklungen. Fritz strebt bei allen relevanten Entscheidungen und Stationen seiner Schulkarriere (z.B. Übergänge) eine Anpassung an äußere Bedingungen schulischer Leistungserwartungen, der Erwartungen der Peers und seiner Mutter, an und nimmt seine Schulzeit als nicht zu beeinflussbare wahr. In dieser Konstellation kann man von einer „Deutung einer kontinuierlich heteronom gerahmten Schulkarriere“ sprechen. Er nimmt die negativen Entwicklungen wie Leistungsabstiege und Peerproblematiken schicksalhaft hin und verlagert die Erklärung und Begründung für Misserfolge aber auch für Erfolge nach außen (z.B. Erhöhung der Leistungsanforderungen) und entzieht sich so eigener Verantwortungsbereiche. Die Deutungen seiner Schulkarriere tragen dabei oft den Charakter, ein besseres Bild zu entwerfen, und die dauerhaften Desintegrationspotentiale fiktiv durch eine imaginierte Vollintegration und -anerkennung (z.B. Freunde an der Sekundarschule), dem Verstellen des eigenen Verhaltens und über Verschleierungs- und Beschönigungsversuche bei schlechteren Noten (z.B. auf dem Gymnasium) zu bearbeiten. Diese Verkennungen und die externalisierten Zuschreibungen der Verantwortung seiner Schulkarriere, die sich kontinuierlich durch seine Schulkarriere ziehen, bergen hohe Risiken des „Fremdwerdens der eigenen Schülerbiographie“. Fasst man die Ergebnisse zu den Transformationsprozessen des Orientierungsrahmens zusammen, dann lässt sich zunächst festhalten, dass weder bei Legolas noch bei Fritz eine deutliche Transformation des Orientierungsrahmens vorliegt. Bei beiden Schülern lässt sich eine Kontinuität der grundlegenden schul- und bildungsbezogenen Haltungen feststellen. Schaut man jedoch auf die Prozesse im Orientierungsrahmen, dann lassen sich bei Legolas partielle Veränderungen in seinem schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen bestimmen, die angestoßen durch neue Erfahrungsräume am Gymnasium, seine Haltung zu Schule, Leistungsanforderungen und Freundschaftsbeziehungen transformierten. Im Vergleich dazu zeichnet sich im Orientierungsrahmen von Fritz – trotz der Übergänge – eine hohe Kontinuität der schulischen Fremdheit, Konfirmität und Außenlenkung ab. Hier kommt es „nur“ zu leichten Modifikationen (z.B. die neue Anpassung an die Peers in Klasse 7) und wir sprechen von punktuellen Veränderungen im Orientierungsrahmen.
Das Verhältnis von individuellem Orientierungsrahmen und Schulkarriere
Abschließend soll nun das Zusammenspiel von individuellen Orientierungsrahmen und Schulkarriere betrachtet werden. Welchen Einfluss besitzt der Orientierungsrahmen auf die Schulkarriere und was bedeutet der Karriereverlauf wiederum für den Orientierungsrahmen der Schüler? Des Weiteren ist zu fragen, welche Transformationsnotwendigkeiten und welche Chancen und Risiken sich aus diesem Verhältnis für die weitere Schulkarriere von Legolas und Fritz ergeben. In der Abbildung 2 werden die Verhältnisse für die beiden Fälle gegenüber gestellt. Ein Pfad steht dabei für die Entwicklungen in der Schulkarriere, der andere für die Transformationsprozesse im individuellen Orientierungsrahmen. Der Abstand zwischen den Pfaden kennzeichnet den Transformationsdruck, der sich aus dem Verhältnis ergibt. Die Markierung von festen und flexiblen Erhebungen verweisen auf den Zeitpunkt der Rekonstruktion von Orientierungsrahmen und Schulkarriere. Die folgenden Ableitungen sind aus unserer Sicht für die Bestimmung der Wechselverhältnisse bedeutsam: Im Fall Legolas kann man von der 1. bis zur 5. Klasse zunächst eine harmonische Passung von Orientierungsrahmen und Schulkarriere ausmachen. Die Orientierungen, die Legolas mit in das Feld der Schule bringt, tragen zu einer kontinuierlichen Schulkarriere bei und umgekehrt festigen und bestätigen seine Schulerfolge und -erfahrungen seinen Orientierungsrahmen. Und auch der Übergang in die Sekundarstufe I als fester Markierer der Schullaufbahn stellt die harmonische Passung nur geringfügig in Frage und es entwickelt sich lediglich eine ganz leichte Transformationsnotwendigkeit auf der Leistungsebene. Ereignisse der weiteren Schullaufbahn und aus seiner Sicht Veränderungen in der Anforderungsstruktur des Gymnasiums im Verlauf der 6. Klasse sowie schockhaft im Übergang zur 7. Klasse bringen dann seinen Orientierungsrahmen und die Passung zur Schulkarriere deutlicher aus dem Gleichgewicht. Diese institutionellen Veränderungen münden in Transformationsprozesse im Orientierungsrahmen. Folglich kommt es auch zu einem Wechsel der harmonischen Passung von Orientierungsrahmen und Schulkarriere hin zu einer „tendenziell spannungsreicheren Passung von Orientierungsrahmen und Schulkarriere“. Diese spannungsreichere Passung wird nun auf der anderen Seite ebenfalls durch den Orientierungsrahmen und die neuen chancenhaften Entwicklungen auf der Peer- Ebene im Zuge der Adoleszenzentwicklung gerahmt, die ihrerseits die Schulkarriere negativ beeinflussen können. Diese neuen Konstellationen bringen neue und stärkere Transformationsnotwendigkeiten für den Orientierungsrahmen von Legolas mit sich. Als Risikopotential können die außerschulischen Peerorientierungen die Schulorientierung gefährden und umgekehrt kann die Schule die Autonomieentwicklungen bedrohen. Die zukünftige Relationierung dieser zwei zentralen Bereiche kann dann entweder – als Chance gedacht – zu einer Erholung oder – als Risikovariante – zu einer Verschärfung der spannungsreichen Passung von Orientierungsrahmen und Schulkarriere führen.
Im starken Kontrast zu Legolas ist die Passung von individuellen Orientierungsrahmen und Schulkarriere bei Fritz von Anfang an spannungsreich. Sein Orientierungsrahmen passt nur bedingt auf die grundlegende Anforderungsstruktur der Schule und die Erfahrungsräume in der Schullaufbahn führen zu starken Transformationsnotwendigkeiten im Orientierungsrahmen, die Fritz bearbeitet. Die spannungsreiche Passung erhält dabei im Verlauf der Schulkarriere unterschiedliche Ausprägungen. Hält sich diese in der Grundschule noch in einem „labilen Gleichgewicht“, so wird sie aber besonders in der gymnasialen Zeit von Fritz bedrohlich und fast antagonistisch. Hier führt die Schullaufbahnentscheidung der Mutter, vor dem Hintergrund seiner passiven Haltungen im Orientierungsrahmen, zu hohen Widersprüchen zwischen den Erwartungen und den Strukturen des Gymnasiums und Fritz Orientierungsrahmen. Der Wechsel an die Sekundarschule ermöglicht dann im Anschluss wieder eine Annäherung von Schulkarriere und Orientierungsrahmen in Bezug auf die Anforderungen, diese wird jedoch im Verlauf der Sekundarschulenkarriere vor dem Hintergrund der grundlegenden Schulfremdheit im Orientierungsrahmen auf der einen und der neuen Realschulanforderungen sowie dem neuen Peermilieu auf der anderen Seite wieder konflikthafter. So betracht kann man für Fitz festhalten, dass die Veränderungen in der Schulkarriere bei einem annähernd gleich bleibenden Orientierungsrahmen zu Spannungsmomenten führen. Insgesamt lässt sich sein Verhältnis folglich als „kontinuierlich heteronom gerahmte Schulkarriere mit nachgezogenen Übergängen in der Sekundarstufe I und hohen Bedrohungspotentialen und Transformationsnotwendigkeiten im Orientierungsrahmen“ fassen. Damit leiten sich insbesondere Risiken für seine Schulkarriere auf der Leistungs- und Peerebene ab. Chancen bestehen in einer Veränderung des Orientierungsrahmens durch die Entwicklung eigener Handlungspotentiale und eigener Bezüge zur Schule. Die Verhältnisse von Orientierungsrahmen und Schulkarriere zeigen sich im Verlauf der Schülerbiographie von Legolas und Fritz ganz unterschiedlich (s. Abb. 2) und bestimmen die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Deutungen von standardisierten und individualisierten Selektionsereignissen sowie den weiteren Schulkarriereverlauf. Nur vor diesem Hintergrund der Passung von Orientierungsrahmen und Schulkarriere lässt sich auch verstehen, wie es zu individuellen und dynamischen Schulverläufen kommt und wie Schüler mit Brüchen und Veränderungen umgehen. Ausgehend von der Kontrastierung dieser zwei Fälle wird es im nächsten Kapitel darum gehen, weitere kontrastierende Fälle zu verorten und weitere Entwicklungshypothesen auf Basis entwicklungs-, schul- und biographietheoretischer Ansätze zu erstellen. Damit verweisen diese Ergebnisse auch auf den Stellenwert von (qualitativen) Längsschnittprojekten zur Analyse von Bildungsentscheidungen und des Zusammenspiels von Schülerbiographie und Schulkarriere.
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