Zugehörig hierzu sind die Dokumente:
Der Fall Henriette
Der Fall Rainer
Kontrastierung der Fälle Rainer, Henriette und Clemens

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die frühzeitig strukturierte, aufsteigende Schullaufbahn – Der Fall Clemens

Im Gegensatz zu Rainer stammt Clemens aus einer Familie mit weniger hohem sozioökonomischem Status. Clemens Mutter hat zu DDR-Zeiten das Abitur abgelegt und anschließend Betriebswirtschaft studiert. Nach der Wende nahm sie eine Stelle als Buchhalterin an. Clemens Vater ist Fotograph. Die Eltern sind sehr bildungsambitioniert und zeigen hohes Interesse an Clemens Bildungslaufbahn. Clemens Mutter meldet ihn im Kindergarten zur musikalischen Früherziehung und im renommierten städtischen Chor an, wodurch sie den Grundstein für seine Chorkarriere legt. Diese frühe Einmündung in eine musische Laufbahn verknüpft sich nun mit einer nachhaltigen Planung der anstehenden Schulkarriere. Clemens Mutter möchte ihren Sohn in einer bestimmten Grundschule und bei einer über die Familie bereits bekannten Lehrerin unterbringen.(1) Diese Lehrerin war bereits die Klassenlehrerin von Clemens Onkel, dessen Schullaufbahn in eine sehr erfolgreiche berufliche Karriere mündete. Die Grundschule, an der diese Lehrerin unterrichtet, befindet sich jedoch außerhalb des Einzugsgebietes der Familie. Der Besuch des Chores bietet nun, durch eine institutionelle Nähe zu dieser Schule, die Möglichkeit des angestrebten Schulbesuchs. Die favorisierte Lehrerin wird schließlich Clemens Klassenlehrerin.

Beschreibung der Grundschulzeit

Zu Beginn seiner Erzählung zur Grundschulzeit geht Clemens zunächst auf das Schulgebäude ein: „ja zu meiner einschulung sind wir hier in die schule gegangen da sah die noch ziemlich alt aus jetzts ja schön renoviert vorher hat ma angst gehabt das einem die lampen auf den kopf fallen“. Der Zustand des Gebäudes und seine baulichen Veränderungen durchziehen seine Eingangserzählung. Er sagt, dass die Schule für ihn mit der zweiten Klasse „erst richtig schön“ wurde und verbindet dies mit dem neu sanierten Schulgebäude. Daneben kommen aber auch inhaltliche Punkte zum tragen. So stellt das Erlernen der Kulturtechniken, besonders des Lesens, für ihn einen Gewinn dar, da diese ihm einen gewissen Grad an Unabhängigkeit ermöglichen: „und man wusste halt auch schon mehr konnte schon lesen und das war halt schön weil man konnte sein eigenen bücher zu hause lesen ohne das man immer fragen musste kannst du mir das vorlesen“.

Clemens hat ein weitgehend gutes und unproblematisches Verhältnis zu seinen Mitschülern. Er findet in der Grundschule vier engere Freunde und insgesamt wird deutlich, dass ihm eine kontinuierliche, stabile und vertraute Rahmung durch die Schulklasse sehr wichtig ist. Daneben berichtet er von Jungs aus seiner Parallelklasse, die andere Schüler geärgert und verprügelt haben. Er selbst war davon zwar nicht betroffen, jedoch seine Freunde. Die Beziehung zu seinen Lehrern beschreibt er als positiv, wobei er hier vorrangig die gelungene inhaltliche Vermittlungsleistung ins Zentrum rückt: „die lehrer ham= wir eigentlich alle gut gefallen sie haben einem einem das gut beigebracht“. Die Klassenlehrerin Frau Schneider hat für Clemens eine besondere Bedeutung und findet dementsprechend häufig Erwähnung in seiner Darstellung: „frau schneider die fand ich auch die vier jahre ziemlich gut weil die hat uns eigentlich alles beigebracht was wir wissen müssen und die bringt uns noch immer eigentlich mehr bei als man eigentlich wissen muss in der vierten klasse“.

Clemens ist in der Grundschule ein guter aber kein herausragender Schüler. Er bewegt sich leistungsmäßig im oberen Mittelfeld und erhält am Ende der vierten Klasse die gymnasiale Schullaufbahnempfehlung. Er kann jedoch nicht in der gleichen Leichtigkeit wie Rainer exzellente Ergebnisse erreichen und muss stattdessen Lernschwierigkeiten durch verstärktes Üben kompensieren. Die schulischen Leistungsanforderungen und ihre Bewältigung geraten innerhalb seiner Erzählung vor allem ab der dritten Klasse, mit dem Erhalt des ersten Notenzeugnisses, in den Blick und gewinnen an Bedeutung. Hierüber sieht er sich erstmals mit seiner Leistungsplatzierung innerhalb der Klasse konfrontiert: „da hab ich gemerkt dass ich nicht grad der beste bin“. Clemens erhält vorwiegend Zweien, einige Einsen und drei Dreien. Diese Dreien veranlassen ihn, seine schulischen Investitionen und zeitlichen Aufwendungen deutlich zu erhöhen, was schließlich auch zu einer Verbesserung seiner Noten führt. Seine schulischen Investitionen werden allerdings durch seinen Chorbesuch bestimmt und begrenzt, der seinen Tagesablauf deutlich strukturiert: „sonst hab ich keine zeit weil ich hab ja chor und das ja auch bis fünfzehn-siebzehnuhr und dass ist ja dann schon ziemlich spät und da muss ich auch noch bis nach k. das dauert ja ne halbe stunde dann //mhmh// da bin ich manchmal sogar mittwochs sogar manchmal erst um sechs da und dann müssen wir ja auch noch abendbrot essen das geht dann bis neunzehn uhr und zwanzig uhr geht’s dann halt ins bett“. Zusätzlich gibt es häufig Chorauftritte, die nicht nur national sondern zum Teil auch international stattfinden. So zeichnet sich, durch die Kopplung von Schule und Chor, bereits in der Grundschule eine hohe zeitliche Belastung ab.

Der inkonsistente schulische Bezug – Ergebnisse der Reflektierenden Interpretation

Clemens individuelle Orientierungen in Bezug auf Schule und schulische Selektion zeigen sich deutlich verwoben mit den schulischen Vorstellungen der Mutter, die in der Funktion als Bildungsanwältin auf Clemens Schulkarriere Einfluss nimmt. Wie schon in der Einführung deutlich wurde, beginnt die Weichenstellung für Clemens Schulkarriere bereits im Kindergartenalter mit der Anmeldung im städtischen Chor. Hierüber wird es möglich, Clemens an einer bestimmten Schule und bei einer der Familie bekannten Lehrerin unterzubringen. Auch in Bezug auf die zentrale Selektionsschleuse des Übergangs in die Sekundarstufe tritt Clemens Mutter, unterstützt durch seine Großmutter, als Bildungsanwältin in Erscheinung.

Im Folgenden sollen nun Clemens individuelle Orientierungen in Bezug auf den Übergang und die Schullaufbahnentscheidung dargestellt werden:

C: der abschluss dann von der vierten Klasse der wird auch ziemlich schwer fallen=find ich //ja// ja weil halt hat=sieht man dann die mitschüler nicht mehr so nur noch vier schüler aus der alten klasse mit dann auf die a-schule gehen und die andern gehen alle woanders hin einer aus unser klasse der geht zum beispiel auf auf irgend sone sekundarschule in .t.d.-stadt irgendwo und die der ist da ganz alleine der hat da gar keinen mitschüler mit

Mit dieser von Clemens selbst eingeführten Thematisierung des antizipatorisch vollzogenen Übergangs steht die Integration in soziale Netzwerke im Fokus. Der Übergang wird unter der Perspektive des Verlustes der kontinuierlichen Rahmungen durch die Klassengemeinschaft betrachtet. Deutlich wird, dass sich die Verlustperspektive nicht auf exklusive freundschaftliche Beziehungen richtet, sondern eher auf die vertraute soziale Rahmung durch die Klasse. Auch die Mitschüler, die an die gleiche Schule wechseln, können diese Kontinuität nicht gewährleisten. Damit kristallisiert sich hier der positive Horizont einer Klassengemeinschaft heraus, in der es möglich ist, in vertrauter Besetzung über Jahre zusammenzubleiben. Der negative Horizont beinhaltet hingegen einen Bruch dieser sozialen Rahmung und darüber hinaus ein Verlassen – und Desintegriertsein, was sich stellvertretend anhand der Beispielerzählung des Mitschülers in der Fremde dokumentiert. Damit deutet sich hier eine Haltung an, die auf eine kontinuierliche vertraute und damit Sicherheit bietende Rahmung hin orientiert ist und in der das Neue als etwas tendenziell Verunsicherndes und Bedrohliches angesehen wird.

Neben dieser sozialen Dimension wird erkennbar, dass Clemens bezüglich der eigenen Schulkarriere und des schulischen Übergangs auf eine gymnasiale Bildungslaufbahn orientiert ist, hierbei aber eher auf das allgemeine Renommee einer gymnasialen Bildung an sich und nicht auf die gesteigerte Form einer elitären Schullaufbahn. Dabei zeigt sich, dass der Besuch des Gymnasiums für ihn keine Selbstverständlichkeit darstellt:

C: wenn man das schaffen schafft auf ne a-schule oder ein anderes gymnasium zu gehen dann sollte mans auch ausnutzen also nicht sagen schaffe ich nicht kann ich nicht und dann auf irgendeine sekundar=sekundarschule gehen

Die Sekundarschule taucht innerhalb seiner Orientierungen als eine zu vermeidende Alternative auf. Clemens individueller Orientierungsrahmen, bezogen auf die Übergangsentscheidung, spannt sich damit zwischen dem positiven Horizont einer gymnasialen Bildung und dem entgegengesetzten Pol einer Sekundarschullaufbahn auf. Die Vermeidung der letztgenannten negativ konnotierten Laufbahn stellt eine Legitimation dafür dar, das Wagnis einer gymnasialen Bildung einzugehen. Das zunächst von Clemens ausgewählte Gymnasium scheint erstmal nicht zu seinen Orientierungen und Leistungen zu passen. Weil sein Freund aber ebenfalls auf dieses Gymnasium gehen will, orientiert er sich auf eine Schule, die durch Aufnahmetests und Profilschneidung innerhalb des Rankings der Gymnasien der Stadt weit oben rangiert. Allerdings ist ihm dieser Status der Schule nicht präsent. Über die Großmutter wird ihm vermittelt, dass seine Leistungen in Bezug auf das hohe Anspruchsniveau dieser Schule nicht ausreichen. Er orientiert sich an dieser Fremdeinschätzung und unterlässt es, an der Aufnahmeprüfung für das G-Gymnasium teilzunehmen: „ja und dann mit dem G-Gymnasium da habe ich die aus=aufnahmeprüfung gar nicht mitgemacht //achso// weil meine oma gesagt hat das ich ja da nicht so gut bin//mhmh// nicht gut genug für diese schule bin“. Über die Familie, v.a. über die Mutter, wird Clemens auf die A-Schule „umorientiert“, allerdings ohne dass ihm die ebenbürtige Ansprüchlichkeit und der exklusive Status dieser Schule vermittelt werden:

C: am anfang wollte ich eigentlich aufs g-gymnasium aber das hat ja dann dazu bin ich nicht gut genug und auch hätte ich ja dann nicht mehr so richtig zeit für nen chor also hat ham mich dann mit meiner mutti darüber gesprochen und die hat gesagt es wäre auch besser wenn ich auf die a-schule gehen würde und das fande ich eigentlich auch ganz gut

Clemens rückt von den eigenen Schulwahlvorstellungen ab und übernimmt die Übergangsvorstellungen der Mutter. Diese Übernahme der schulischen Orientierungen der Mutter erfolgt in dieser Thematisierung weitgehend reibungslos. Die Entscheidung der Mutter erscheint zudem passförmig zu Clemens Orientierung an einer kontinuierlichen sozialen Gemeinschaft, die mit dem Besuch der A-Schule über den Wechsel vieler Chormitglieder dorthin gewährleistet werden kann: „und da kennt man halt schon viele durch den chor“. Über die institutionelle Nähe der A-Schule zum Chor erscheint Clemens der Übergang auf diese als Zwangsläufigkeit: „weil ich halt dann im chor bin gehe ich auf die a-schule weil die gehören irgendwie mit zum chor dazu“. Mit einem 2. Platz in der Aufnahmeprüfung für den Musikzweig gelingt es ihm sogar, sich als besonders exzellent auszuweisen: „ja und die aufnahmeprüfung hab ich auch gut geschafft mit nem zweiten Platz“. Dieses hervorragende Abschneiden liefert den Beweis für die Richtigkeit der Entscheidung. Dabei bleibt aber die Differenz des musischen Zugangs zu dem der anderen Schüler ausgeblendet. Der exklusive Status der A-Schule und deren hohe schulische Leistungsanforderungen sind Clemens nicht präsent.

In dieser Passage zum schulischen Übergang zeigt sich, dass Clemens sich an den schulischen Vorstellungen der Mutter orientiert und diese übernimmt. Der eigene Wunsch und die autonomen Tendenzen werden zurückgestellt und die Bildungsanwaltschaft der Mutter verbürgt. Eine eigene Auseinandersetzung mit den Profilen der Schullandschaft wird hierdurch aber unterbunden.

An dieser Stelle soll nun dargelegt werden, wie die schulischen Leistungsanforderungen und Selektionsereignisse, die über das System der schulischen Bewertung produziert werden, innerhalb des individuellen Orientierungsrahmens verortet sind. Dabei stellt sich bei Clemens die Frage, inwieweit seine Orientierungen in Bezug auf schulische Leistungen auch eine Außenorientierung darstellen, innerhalb derer er versucht, den Vorstellungen der Mutter zu entsprechen. Dies kann anhand einiger Brüche beleuchtet, aber nicht vollständig aufgelöst werden.

Wie bereits in der Beschreibung der Grundschulzeit deutlich wurde, ist Clemens bestrebt, gute Leistungen zu bekommen. Als Konsequenz der Leistungsbilanz des ersten Notenzeugnisses, über das er seiner Leistungsplatzierung innerhalb der Klasse gewahr wird, erhöht er deutlich seine Anstrengungsbereitschaft und schulischen Investitionen: „weil ich hab halt dann bemerkt in der dritten klasse dass ich nicht grad der beste bin //mh// und da musst ich mich halt dann ziemlich bemühen“. Clemens Orientierungen, vor deren Hintergrund diese Anstrengungen vollzogen werden, sind auf gute Noten gerichtet und darauf, ein guter Schüler zu sein. Daran bindet sich innerhalb seines Orientierungsrahmens eine Unterscheidung der Noten, in solche, die es anzustreben gilt und die einen guten Schüler ausmachen, und solche, die nicht dazu zählen. So ist er bemüht, auf seinem Zeugnis nur Einsen und Zweien zu erhalten, während die Drei bereits eine Zensur darstellt, die vermieden werden soll:

C: ich hab mehr geübt […] und da habe ich mich halt sehr doll bemüht dass ich in mathe dann auf ne zwei komme //mmh mmh// und in den anderen fächern auch auf ne zwei komme ja und das habe ich dann ja auch geschafft

Charakteristisch für Clemens Orientierungen erweist sich der Zusammenhang, dass gute Noten nicht durch bloße Befähigung erlangt werden können, sondern, dass man sich bemühen und investieren muss, um diese zu erreichen. Diese schulischen Investitionen bilden dabei das Enaktierungspotential. Mit dieser Logik des Strebens verknüpft sich ein tendenziell negatives Bild von der eigenen Begabung:

I: du hats erzählt dritte klasse wurde es so schwieriger ne hast du ganz am anfang mal erzählt dass du
C: ja da wars ziemllich schwierig erst mal weil durch die ((ausatmen)) durch die malfolgen da haben wir dann die malfolgen angefangen und ich bin halt nicht grad im denken der beste ich merk mir nicht so richtig was //mmh// […]

In der Konsequenz dieses Selbstbildes, innerhalb dessen er sich in Bezug auf schulische Leistungsanforderungen nicht als exzellent erlebt und ansieht, leistet er über schulische Investitionsbereitschaft verstärkt Kompensationsarbeit, um sich im positiven Horizont eines guten Schülers verorten zu können. Innerhalb dieser Orientierungen wird die Intensität der eigenen Anstrengungsbereitschaft an die schulische Bewertung gebunden. So gelingt es ihm schließlich innerhalb eines Halbjahres die Dreien in Zweien zu verbessern und ist es ihm möglich, dies als Ergebnis seiner erhöhten Investitionen anzusehen und als Erfolg zu erfahren: „und das hab ich dann ja auch geschafft“. Auf der anderen Seite wird innerhalb einer solchen Orientierung aber auch ein Scheitern dominant in die eigene Verantwortlichkeit gerückt. Es wird allerdings erkennbar, dass die Orientierung auf das Streben nicht ungebrochen ist. So zeigen sich keine Gewissheiten über die Wirksamkeit der eigenen Investitionen und den Einfluss auf die schulische Bewertung, sondern Unwägbarkeiten und Verunsicherung, wenn er z.B. sagt, dass seine Leistungen in Mathe rauf und runter gehen oder er mehrmals betont, dass er hofft, eine gute Zeugnisnote zu bekommen, wodurch das schulische Bewertungssystem eine Undurchschaubarkeit erhält und es als dem eigenen Wirkungsbereich entzogen angesehen wird.
Hierüber deutet sich bereits eine Brüchigkeit innerhalb der Orientierung des Strebens an. Weitere zeigen sich darin, dass das hohe Übungspensum zu Überlastung und Spannungsmomenten in seinem schulischen Bezug führen: „dann in der dritten klasse hat eigentlich die schule dann nicht mehr so richtig spaß gemacht weil man musste halt viel üben und alles mögliche“. Dies belegt zusätzlich, dass Clemens schulische Orientierungen Brüche aufweisen und es neben der Ausrichtung auf Noten auch Momente der Fremdheit gegenüber der Schule gibt.

Zusammenfassend wird hier ein individueller Orientierungsrahmen erkennbar, der sich insgesamt als schul- und notenaffin erweist, der gleichzeitig aber Inkonsistenzen in der schulischen Bezogenheit beinhaltet und Tendenzen einer Fremdheit gegenüber der Schule und dem schulischen Bewertungssystem aufweist. Über die Distanzierung von der Orientierung des Strebens deutet sich hier eine Außenorientierung an familialen Vorstellungen an. Trotz der Momente der Fremdheit bleibt die Orientierung bestehen, den schulischen und familialen Anforderungen zu entsprechen.

Eine solche Orientierung auf Entsprechung zeigt sich auch in seinen Darstellungen zur alltäglichen Bewertungssituation:

I: und wie ist das für dich im unterricht wie war das für dich hier an der grundschule für dich wenn du jetzt aufgerufen wirst an die tafel zu kommen //ja// […]
C: ja eigentlich das ist eigentlich ganz normal für mich weil das haben wir schon in der ersten und zweiten klasse schon gemacht //ja// und im kindergarten eigentlich auch auch ein bisschen dahaben wir auch so schon nen bisschen das alphabet gelernt und da sollte irgendjemand dann mal irgendeinen buchstaben irgendwohin schreiben und dann wurde es eigentlich schon ganz normal für mich

Hierin kristallisiert sich der positive Horizont einer souveränen Entsprechung dieser Bewährungssituationen heraus. Allerdings verweist die doppelte Relativierung „ja eigentlich das ist eigentlich ganz normal“ darauf, dass er sich im Horizont des souveränen Umgangs nicht in der Form verorten kann, bzw. dass es hier Abweichungen gibt und er den eigenen Normalitätserwartungen nicht immer entsprechen kann. Diese Abweichung kann aber nicht benannt werden, sondern wird über die Normalisierung und die Konstruktion einer kontinuierlichen Phase der Einsozialisation zu bewältigen versucht. Über beide Begründungslinien kommen keine eigenen Erfahrungen zum Ausdruck. Gerade aber über die Verlängerung der Phase der Einsozialisation in die Kindergartenzeit, in der „irgendjemand irgendeinen buchstaben irgendwohin schreiben sollte“, wird die konstruierte Normalität im Umgang mit schulischer Selektion brüchig.

Zusammenfassung zum individuellen Orientierungsrahmen und Ausblick auf die weiterführende Schule

Clemens Orientierungsrahmen in Bezug auf Schule und schulische Leistungen weist damit differierende Facetten auf. Seine Orientierungen sind insgesamt schulkompatibel, da er über schulische Anstrengung versucht, den schulischen Anforderungen auf einem hohen Notenniveau zu entsprechen. Diese Orientierung weist jedoch Brüche auf, die in Momenten der Überlastung und der schulischen Distanzierung aufscheinen. Die Momente der eigenen Distanzierung von der Haltung des Strebens verweisen auf eine Außenorientierung an familialen Ansprüchen und vor diesem Hintergrund auf eine Übernahme des Prinzips des Strebens. Clemens Schullaufbahn wird von seiner Mutter deutlich strukturiert und gelenkt. Auch in Bezug auf die Übergangsentscheidung wird erkennbar, dass Clemens die Bildungsanwaltschaft seiner Mutter verbürgt und anerkennt. Eigene Wünsche und autonome Tendenzen in Bezug auf den Übergang werden zurückgestellt und die familialen Vorstellungen übernommen. Dabei bleibt ihm der exklusive Status der Schule verborgen und wird zusätzlich über das hervorragende Abschneiden in der musischen Aufnahmeprüfung verkannt. Der Übergang selbst wird von Clemens unter einer Verlustperspektive in Bezug auf vertraute überschaubare soziale Rahmungen betrachtet. Hierin zeigt sich ein positiver Gegenhorizont, der eine kontinuierliche bruchlose soziale Rahmung beinhaltet. Demzufolge haftet dem Übergang auf eine neue Schule auch eine Bedrohlichkeit an, die in der Antizipation des Übergangs selbst durch die vier mitgehenden Freunde nicht kompensiert werden kann. In Bezug auf die A-Schule gibt es aber den Versuch, diese über die hohe Anzahl an Chorschülern zu bannen. In dieser, über den Chor vertrauten Rahmung liegt die Chance, tatsächlich kompensierend gegenüber der tendenziellen Bedrohlichkeit des Neuen zu wirken. Andererseits kann es sich aber auch dadurch, dass die Chorschüler nur einen kleinen Teil dieser Schülerschaft bilden, um eine Illusion handeln. Weitere Krisenpotentiale liegen in der Verkennung des exklusiven schulischen Status und den daran gebundenen erhöhten Leistungsanforderungen, wodurch eine eigene antizipierende Auseinandersetzung mit möglichen Schwierigkeiten auf der Leistungsebene ausbleibt. Gerade vor dem Hintergrund der, innerhalb des Orientierungsrahmens aufscheinenden Momente des Strebens und der Ausrichtung auf die Erfüllung schulischer und familialer Anforderungen könnte es an der neuen Schule zu deutlichen Symptomen einer Überlastung und einer Ausweitung der individuellen schulischen Distanzierung kommen. Dies könnte sich zudem über die starke zeitliche Vereinnahmung durch den Chor verschärfen.

Der irritierende Beginn – Beschreibung des Ankommens

Clemens kommt aufgrund einer Chorreise erst drei Tage nach dem regulären Beginn an die neue Schule. Sein Ankommen gestaltet sich schwierig. Er ist irritiert von der großen Anzahl neuer Schüler, vom Zustand des Gebäudes aber auch von den hohen Leistungsanforderungen, was dazu führt, dass er sich zu Beginn nicht wohl fühlt und dementsprechend nicht gern zur neuen Schule geht. Auch in seinem Notenbild zeigen sich deutliche Einbrüche, die Clemens so nicht erwartet hat. In Biologie und Mathe erhält er eine Vier, womit er deutlich von den Ergebnissen abweicht, die er auf der Grundschule erreichen konnte: „und in der grundschule in der letzen klassenarbeit hatte ich in mathe war ich der beste in der klasse und bin halt auf der a-schule plötzlich sone schlechte note“. Auch Englisch bereitet ihm Probleme, aus seiner Sicht auch deshalb, weil er, im Gegensatz zu vielen seiner Mitschüler, in der Grundschule keinen Englischunterricht hatte. Er erhält aber zum Beispiel in Geographie und Deutsch auch Zweien und auch in Musik bleiben seine Noten konstant. Dennoch erlebt er den Unterricht und den Unterrichtsstoff gegenüber der Grundschule als deutlich schwieriger und bleiben die schlechten Noten für ihn nachhaltig irritierend.

Clemens anfängliche Verunsicherungen, die u.a. durch die vielen Schüler an der neuen Schule hervorgerufen werden, lassen etwas nach. Er findet neue Freunde, was neben anderem dazu führt, sein Wohlbefinden an der neuen Schule zu steigern. Zudem ist er froh, viele Schüler auch aus dem Chor zu kennen. Neben den neu gefundenen Freunden gibt es aber auch Mitschüler in seiner Klasse, über die er sich ärgert, da diese „quatsch“ machen und damit den Unterricht stören. Mit den Lehrern findet er sich nach eigenen Angaben ganz gut zurecht. Allerdings bereitet es ihm Schwierigkeiten, im Unterricht hinterherzukommen, da der Unterrichtsstoff und die Aufgaben nicht mehr so ausführlich erklärt werden. Deutlich wird auch, dass sich die Vereinbarkeit von Schule und Chor, entgegen der Erwartungen einer guten Vernetzung beider Bereiche an der A-Schule, immer schwieriger gestaltet:

I: wie ist das so schule und chor zu vereinbaren ist ja doch . //also// schwierig
C: ich finds (gedehnt) für mich zeit //mh// halt auch viel für den unterricht und so vorbereiten muss also richtig doll weil wir halt viele arbeiten zur zeit schreiben //mh// (räuspern) in der nächsten woche halt zwei und dann kommt glaube ich noch irgendwie dazu in geographie und so glaube ich auch noch eins schreiben . das ist zur zeit ein bisschen schwer ansonsten geht’s eigentlich schon im chor (räuspern)

Clemens hat bis auf Freitag jeden Tag sieben Schulstunden und bis auf einen Tag zusätzlich noch zwei Stunden Chor im Anschluss. Er ist weiterhin bestrebt, viel für die Schule zu tun, wofür allerdings angesichts des Chorprogrammes kaum Zeit bleibt. Damit setzt sich die Doppelbelastung fort, die aber durch die erhöhten Leistungsanforderungen und die auftretenden Leistungsschwierigkeiten noch verstärkt wird und sich aufschichtet.

Die Suche nach Orientierungssicherheit und der „versaute“ Leistungsstand – Ergebnisse der Reflektierenden Interpretation des zweiten Interviews

Mit dem Übergang wird eine Verunsicherung von Clemens deutlich, die sich zu Beginn auf die äußeren Rahmenbedingungen bezieht und später auch auf die schulischen Kernbereiche sowie auf die Konfrontation zwischen Schule und Chor ausweitet. Der Übergang und die neue Schule bergen somit plötzlich zahlreiche verunsichernde Faktoren unterschiedlicher Ebenen, was bewirkt, dass er zu Beginn nicht so gern zur Schule geht. Die zentrale Thematik, die sich in der Verunsicherung dokumentiert, ist ein Verlust an Orientierungssicherheit. Dies soll zunächst anhand der sozialen Orientierungsdimension, die auch im Interview als erstes angeführt wird, dargelegt werden:

C: also (gedehnt) am anfang der schule als ich hier her gekommen bin .(zungenschnalzen) mmh fand ich erstmal noch en bisschen komisch (gedehnt) weil auf der grundschule waren ja viel weniger kinder und dann sind halt plötzlich so viel und dass ist ja auch ein großes gymnasium hier und so . und dann war das halt öfter ein bisschen komisch“

Hierin lassen sich sowohl positive, als auch negative Horizonte identifizieren. So wird der positive Horizont einer überschaubaren Rahmung mit geringerer Schülerzahl, wie sie an der Grundschule gegeben war, deutlich und damit einer Rahmung, die Orientierungssicherheit bietet und in der der Einzelne nicht in der Schülermenge untergeht. Die Verunsicherung durch die hohe Schülerzahl wird nun plötzlich und damit ohne Vorbereitung erfahren, was darauf deutet, dass es zuvor keine oder aber eine verkennende Auseinandersetzung und Antizipation dessen gegeben haben muss. Zudem werden keine Enaktierungspotentiale erkennbar, die dazu dienen können, der Verunsicherung zu begegnen und Orientierungssicherheit zu gewinnen. Vielmehr zeigt sich, dass Clemens sich diesen äußeren Bedingungen ausgesetzt sieht, ohne dagegen agieren zu können. Die implizite Krisenhaftigkeit bleibt damit, zumindest für die Anfangsphase, auf Dauer gestellt „war das halt öfter ein bisschen komisch“. Des Weiteren nimmt der Eindruck des Schulgebäudes einen wichtigen Stellenwert in Bezug auf das eigene Wohlbefinden ein: „vorher hab ich mich nicht so wo=wohl gefühlt hier weil es halt irgendwie nicht nicht so ne moderne schule wie halt die grundschule war die war ja grundschule war neu saniert und die ist halt nicht grad naja“. Dies verweist darauf, dass auch äußere schulische Gegebenheiten in Clemens Orientierungsrahmen eine Rolle spielen. Das Auseinanderklaffen des Sanierungszustandes zwischen Grundschule und der neuen Schule führt zu einer Einschränkung des eigenen Wohlbefindens. Dieser äußere Aspekt bildet somit eine weitere Orientierungsgröße, die an der neuen Schule irritiert wird. Clemens Orientierungen sind damit auf eine, an den Zustand des Gebäudes gebundene, angenehme (Lern-)Atmosphäre ausgerichtet. Dies zeigt aber auch, dass selbst, neben anderen, solche äußeren Aspekte zu einer Verunsicherung der eigenen Orientierungssicherheit und einer Einschränkung des Wohlbefindens führen können. Über diese beiden Sequenzen deuten sich Probleme im Umgang mit dem Neuen an. Es werden über die Darstellung keine Enaktierungspotentiale zur Überwindung der irritierenden Erfahrung erkennbar. Hierin dokumentiert sich ein Sich-Ausgesetzt-Fühlen und ein Hinnehmen der äußeren Bedingungen und Umstände, ohne dass Clemens eigene Beeinflussungs- und Veränderungsmöglichkeiten sieht oder in Anspruch nehmen kann.

In den ersten Sequenzen wird aber über die Eröffnung eines Phasenmodells auch die Aussicht auf eine Besserung erkennbar, wie er sie im Folgenden darstellt:

C: und dann hat mir eigentlich die schule mehr gefallen ich bin auch . halt hat mir bissch- mehr spaß gemacht hinzugehen als vorher ich hab auch hier neue freunde wieder gefunden ich hatte zwa=zwar auch von der grundschule sind auch freunde von mir mit hergekommen nils jens und so und jürgen und dann (2 Sek.) ja und dann habe ich halt noch andere freunde gefunden

Hier wird noch einmal bestätigt, dass es zu Beginn der Schulzeit auch innere Widerstände gegeben hat, die neue Schule zu besuchen. Auch wenn es Clemens jetzt mehr Spaß macht hinzugehen, wird keine positive Schulgeschichte erzählt und bleiben Beeinträchtigungen bestehen. Erkennbar wird, dass die vier Freunde aus der Grundschule die Irritation des schulischen Beginns nicht kompensieren konnten. Clemens thematisiert vielmehr eine Verbesserung, die sich unter anderem daraus ergibt, dass er neue Freunde findet. Darin, dass diese neuen Freunde aber nicht näher benannt und umschrieben werden und auch darin, dass die Freunde aus der Grundschule als Kompensationsmöglichkeit ausfallen, dokumentiert sich eine Orientierung, die zunächst nicht auf enge Freundschaftsbindungen ausgerichtet ist, sondern darauf, über eine Erweiterung des vertrauten sozialen Rahmens Orientierungssicherheit gewinnen zu können. Auch die Lehrerschaft bildet für ihn einen sozialen Raum, in dem es sich, beinahe geographisch gesehen, zurechtzufinden gilt: „ja ich find mich auch hier mit den lehrern ziemlich gut zurecht“. Hierbei handelt es sich um eine weitere Dimension sozialer Rahmung, in der es darum geht, Orientierungssicherheit zu gewinnen. Dabei tritt abermals nicht die Beziehungsqualität selbst, sondern ein Wissen um die Charakteristik dieser neuen sozialen Gegebenheiten in den Blick. Dies verknüpft sich mit dem Ziel, sich in diese äußere Rahmung einzupassen und angemessen handeln zu können. Über alle bisherigen Sequenzen hinweg wird damit der positive Horizont eines Integriertseins in die fremde Rahmung und die Ausrichtung auf eine Orientierungssicherheit in dieser deutlich. Charakteristisch ist sowohl die starke Orientierung auf die Rahmenbedingungen, als auch die bisher ausbleibenden oder nur ansatzweise aufscheinenden eigenen Handlungspotentiale, sowie der Wunsch eines eher unauffälligen Integriertseins.

Der Wunsch und positive Horizont des Orientierungsrahmens nach adäquater Einführung zeigt sich auch auf der Ebene der Leistungsanforderungen. So sagt Clemens, dass der Schulstoff bedeutend schwerer geworden ist und bringt dies damit in Verbindung, dass der Stoff für ihn nur unzureichend erklärt wird:

C: inner grundschule hat man ja noch . al=alles ausführlich (betont) und ausführlich erklärt (betont) und dann //ja// kommt man hierher und dann wird einem das hingeknallt da musst du das machen obwohl du das vorher gerad mal zehn minuten lang vielleicht erklärt wurde und das ist halt erst mal ein bisschen schwierig mmh naja

Zum einen dokumentiert sich hier eine Differenzerfahrung des eigenen Leistungs- und Fähigkeitskonzeptes. Zum anderen verweist dies auf eine deutliche heteronom geprägte Erfahrung, die eine Entwertung der eigenen Person beinhaltet. Damit werden hier ein Unbehagen und auch eine implizite Kritik an der professionellen Arbeit der Lehrer deutlich. Diese bleibt aber implizit und mündet letztlich in einem Hinnehmen und dem Versuch einer Entsprechung, während Aktionspotentiale einer Begegnung dieses Unbehagens – zum Beispiel Erklärungsbedarf anzumelden – unterbleiben. Des Weiteren deutet sich hier keine weitergehende Analyse und Reflexion dieser Erfahrung an.

Auch bezüglich der erwarteten guten Vereinbarkeit von Schule und Chor über die A-Schule gibt es irritierende Überraschungsmomente. Zusätzlich zu der starken Strukturierung der außerschulischen Zeit durch den Chor, gibt es Chorfahrten während der Schulzeit: „bloß doof ist jetzt man kriegt jetzt mit dass man viel nachholen muss wenn man von der schwedenreise gekommen ist man hatte viel verpasst es war eine woche lang“. Damit wird deutlich, dass das Argument für die A-Schule, das eine hohe Vereinbarkeit und institutionelle Abstimmung zwischen Schule und Chor versprach, nicht in erhofftem und erwartetem Maße zutrifft. Auch in dieser Beziehung kommt es zu einer Nichtentsprechung der Erwartungen und auch hier deuten sich Überlastungssymptome an. Eine Regelhaftigkeit dieser Passage zeigt sich in dem positiven Horizont Orientierungssicherheit zu gewinnen und die Ausrichtung auf eine Integration, die sich im Idealfall über eine von außen gelenkte Integrationsarbeit und umfassende Einführung ergibt. Fehlende Orientierungssicherheit und nicht geglückte Integration bergen eine Krisenhaftigkeit. Dabei werden keine Enaktierungspotentiale deutlich. Vielmehr dokumentiert sich hier die grundlegende Haltung des Hinnehmens der äußeren Bedingungen. Auch bei auftretender Krisenhaftigkeit, über die sich eine Fremdheitserfahrung dokumentiert, wird an dem Versuch der Entsprechung der Anforderungen der „neuen Welt“ festgehalten.

Sind in der vorhergehenden Darstellung bereits für Clemens überraschende und irritierende Leistungsbezüge aufgetaucht, die auf eine Differenzerfahrung des eigenen Fähigkeitskonzeptes verweisen, so soll dies anhand der ausgewählten Leistungspassage gemäß unseres Forschungsschwerpunktes noch einmal näher in den Blick geraten:

C: in der grundschule in der letzen klassenarbeit hatte ich in mathe war ich der beste in der klasse und bin halt auf der a-schule plötzlich sone schlechte Note

Zunächst wird erkennbar, dass es die Annahme einer annähernden Fortsetzung seines Leistungsstandes der Grundschule gibt und sich nun unerwartet, negativ irritierend eine deutliche Abweichung zeigt. Weiterhin dokumentiert sich in der doppeldeutigen Formulierung: „und bin halt auf der a-schule plötzlich sone schlechte note“ eine enge Verknüpfung der Noten mit dem eigenen Statuserleben. Es zeigt sich, dass Clemens nicht nur in einem Fach eine schlechte Note erhält: „ich glaub dann hat ich irgend ne arbeit auch noch versaut“. Neben der Mathearbeit erhält er auch in der Bioarbeit eine Vier. Durch die für ihn unerwartete Anhäufung schlechter Noten wird das eigene Fähigkeitsselbst fundamental irritiert. Gleichzeitig gerät über die Formulierung „ich habs versaut“ eine eigene Verantwortung für die schlechten Noten in den Blick. Es gibt keine Entlastungskonstruktionen im Sinne von an den Übergang auf die A-Schule gebundenen gestiegenen Leistungsanforderungen. Zudem erreicht Clemens beispielweise in Deutsch, Geographie und Musikkunde Zweien. Diese können aber die negativ besetzten Noten in seinen Augen nicht kompensieren. Gleichzeitig gibt es keine Analyse und vertiefende Reflektion der Ursachen und es werden auch keine Enaktierungspotentiale deutlich. Er sieht sich damit dieser Entwicklung abermals ausgeliefert.

In der Bezeichnung „versaut“ drückt sich die „Beschmutzung“ eines bestimmten, nach außen zu dokumentierenden Leistungsstandes aus. Insgesamt zeigt sich hier die Orientierung innerhalb eines bestimmten Notenspektrums so abzuschneiden, dass an die Kontinuität vergangener Leistungen angeschlossen werden kann. An die Note knüpft sich der Wunsch einer guten Außenpräsentation. Somit hat bereits die einzelne Arbeit einen Außenpräsentationscharakter.

C: und dann musste ich halt dann zwei arbeiten im prinzip noch mal schreiben weil ich hab dann als berichtigung //mh// . dann musste ich dann dass im prinzip die ganzen arbeiten die ganzen zwei arbeiten noch mal machen . weil das meine mutti immer so möchte wenn ich ne note unter drei habe muss ich dann die ganze arbeit noch mal machen //mh//

Der Präsentationscharakter wird mit dieser anschließenden Sequenz in direkte Beziehung zur Mutter gebracht, die damit eine Instanz darstellt, welche hohe Relevanz für den eigenen Leistungsbezug besitzt und die definiert, wann eine Arbeit keinen Außenpräsentationscharakter mehr besitzt. Die pädagogisch intendierte Maßnahme der Wiederholung der misslungenen Arbeit im außerschulischen Raum wird dabei von Clemens als Sanktionierung erfahren, deren Sinn sich ihm nicht vollständig erschließt. Zudem zeigt sich eine implizite Kritik an der durch die Mutter initiierten Praxis. Gleichzeitig befolgt und verbürgt er diese Maßnahme, wie in seiner darauf folgenden Stellungnahme deutlich wird: „ich find das auch eigentlich gar nicht so schlecht weil dann lernt man das im prinzip noch mal“. Erkennbar wird, dass er diese Argumentationen reproduzieren kann, er sich dem auch aussetzt und dies trotz impliziter Distanz verbürgt:

C: ich guck mir auch wenn ich eine eins oder ne zwei habe die arbeiten immer noch mal an und so präg mir das nen bisschen ein […] weil man das dann gut weiß und das andere darauf aufbauen kann

Zum einen wird hier nochmals das schulische Pensum der Investitionen erkennbar, innerhalb dessen nicht nur die schlechten Arbeiten abermals geschrieben werden, sondern auch die guten Arbeiten nochmals angesehen werden und damit das pädagogische Prinzip der Mutter auch für die guten Arbeiten übernommen wird. Diese etwas paradox anmutende zusätzliche Arbeit – das noch einmal zu lernen, worin man sich bereits bewährt hat – wird abermals auf theoretischer Ebene argumentativ untermauert.

Zusammenfassend zeigt sich, dass der Leistungseinbruch an der neuen Schule nicht erwartet oder einkalkuliert war. Innerhalb der eigenen Orientierungen bestand die Annahme, die Leistungen der Grundschule zumindest annähernd fortsetzen zu können. Dies verweist auf eine vorhergehende verkennende Bezugnahme auf die A-Schule, wie sie auch im ersten Interview deutlich wurde. Die Bewertung der A-Schule in Bezug auf die eigenen Leistungen wird unüberschaubar. Einerseits sieht Clemens sich der Bewertungsmaschinerie der neuen Schule und andererseits den Interventionsmaßnahmen seiner Mutter ausgesetzt. Gleichzeitig besteht die Orientierung, den schulischen und familialen Anforderungen zu entsprechen.

Zusammenfassung und Ausblick auf die weitere Schullaufbahn

Auch an der neuen Schule zeigt sich Clemens Orientierung auf eine vertraute überschaubare Rahmung, die es ihm leicht macht, sich darin zurechtzufinden und zu integrieren. Diese gerät jedoch mit dem Übergang auf die A-Schule in Bedrängnis, da hier seine Ausrichtung auf Orientierungssicherheit und Integration auf mehreren Ebenen konterkariert wird. Es bereitet ihm Schwierigkeiten, dieser Verunsicherung über Enaktierungspotentiale zu begegnen. Zwar gibt es mit der Vergrößerung der vertrauten Rahmung eine Verbesserung seiner Situation, dafür weiten sich die Irritationen auf den Leistungsbereich und die Konfrontation von Schule und Chor aus. Im Leistungsbereich wird sein Fähigkeitsselbst fundamental irritiert. Es zeigt sich in bestimmten Fächern ein deutliches Auseinanderklaffen zwischen den bisher erreichten Ergebnissen an der A-Schule und seinen Leistungen an der Grundschule. Entlastungsfiguren, wie eine Erklärungsfigur über erhöhte Anforderungen an der A-Schule, können nicht herangezogen werden. Die Krisenhaftigkeit schichtet sich vielmehr über den Druck der Außenpräsentation zusätzlich auf. Weiterhin wird das große Interesse von Clemens Mutter an seiner Schulkarriere deutlich, die hohen Einfluss auf sein Verhältnis zu schulischen Leistungen nimmt und die bei schlechten Arbeiten interveniert. Sowohl bezüglich schulischer, als auch familiärer Anforderungen scheint eine implizite Distanzierung und Kritik auf. Diese wird aber nicht reflektiert, sondern von der Orientierung, den äußeren Ansprüchen gerecht werden zu wollen, überlagert. Es zeigen sich auch an der neuen Schule Momente des Strebens, die allerdings von den Ergebnissen irritiert werden. In den Reaktionen auf die Irritation deuten sich eher Elemente des Sich-ausgesetzt-Fühlens als eine überzeugte eigentätige Aktivierung von Enaktierungspotential über die schulische Anstrengung an. Das Benotungssystem der neuen Schule erhält noch einmal eine stärkere Undurchsichtigkeit als an der Grundschule und die Momente der Fremdheit, die sich bereits im ersten Interview zeigten, potenzieren sich. Mit den sich aufschichtenden Belastungen in Schule und Chor und mit der Orientierung, den schulischen und familialen Ansprüchen entsprechen zu wollen, besteht die Gefahr, dass Clemens hier an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gerät. Chancen auf Entlastung bestehen an dieser Schule nur dann, wenn Clemens der hohen Leistungsanforderungen an der A-Schule gewahr wird, hierüber auf entlastende Erklärungsfiguren zurückgreifen und gleichzeitig von den Ansprüchen, sich im oberen Notenbereich ansiedeln zu müssen, abrücken kann. Es ist anzunehmen, dass an einer weniger leistungsorientierten Schule eine höhere Chance bestanden hätte, über leistungsbezogene Erfolgserlebnisse das Fähigkeitsselbst und hierüber die Annahme einer eigenen Einflussnahme auf die schulischen Ergebnisse zu festigen. Dies und eine geringere Belastung hätten zudem die schulischen Fremdheitserfahrungen reduzieren können.

Fußnoten:

(1) „meine mutti die kannte frau schneider schon weil mein onkel das ist ist ihr bruder /ja// die und der war ja bei frau schneider also ich kannte sie ihn //mh// die frau schneider und die find- fand dass es ne gute lehrerin ist und so und deswegen wollte sie das ich hier auch auf diese schule komme“

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