Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Hintergrund-Informationen zu Tina:

– Tina ist 15 Jahre alt und geht in die 9. Klasse.

– Tina ist Leistungsturnerin und auf lokaler Ebene dafür bekannt.

– Sie hat in der 7. Klasse von der Realschule auf das Gymnasium gewechselt (dadurch, sagt sie, weiß sie, wie es ist Außenseiterin zu sein und will diese Rolle auf jeden Fall vermeiden).

– Ein Großteil des Interviews dreht sich um einen massiven Gruppenkonflikt, der Tina im letzten Schuljahr beschäftigt hat und auch heute noch beschäftigt: eine Dreiergruppe (Gabi, die „Anführerin“ mit ihren beiden „Adjutantinnen“), die sich selbst als „cool“ bezeichnet, diskriminiert permanent die „Angepassteren“ und „Streberle“ und dabei insbesondere eine Mitschülerin. Auch Tina war Opfer dieser Diskriminierungen. Dabei wird mit „sadistischen“ Mobbing-Methoden vorgegangen (z.B. Angriffe mit Hockeyschlägern, Verspottungen und „Verarschungen“, die Persönliches betreffen).

– Im Gegensatz zum letzten Schuljahr fühlt sich Tina in ihrer jetzigen Klasse sehr wohl, nachdem die Klassen ihrer Jahrgangsstufe neu zusammengesetzt wurden.

– Der ausgewählte Interviewausschnitt handelt von ihrem ambivalenten Verhältnis zu sich selbst und zu ihren Mitschülerinnen im (aktuellen) Sportunterricht, welches sie auf ihre „Sonder“-Rolle als Sport-Expertin zurückführt.

T.: Ja aber jetzt machen wir Sprung und das ist schon besser wie Boden und Schwebebalken.

I.: Warum besser?

T.: Ähm. Ich mach Sprung nimmer [im Verein], ich mach ja nur noch Boden und mach es auch nicht so gerne. Wir machen jetzt Längskasten und das kann ich auch nicht so gut.

I.: Dir ist es jetzt also sogar lieber, dass du es selber nicht so gut kannst T.: und ja, ja. Das ist mir viel lieber. Das ist so ooz- [schwäbisch für „sehr“] langwei­lig, wenn du da immer, was weiß ich, du musst immer Hilfestellung machen (La­chen), ja, das ist mir echt viel lieber. Und dann ist es auch so, du kannst mit den anderen mitreden (Lachen) ich weiß nicht, aber ich mag das nicht so, wenn ich dann besser bin und dann sagen sie es immer so: ,Ja komm Tina, zeig doch mal’, dann kommst du dir immer so vor, als würdest du voll angeben, ja und das willst du eigentlich gar nicht….Und es gibt auch welche, die sind echt gut, verdammt gut, für das, dass sie noch nie turnen. Sag ich dann auch…

I.: Ja? Also das ist dir dann auch wichtig, das denen zu signalisieren. Wie reagieren die da drauf oder finden die das gut, dass du das sagst?

T.: Nö, wenn ich dann sag: ,Das ist doch schon voll gut, was wollt ihr eigentlich’. Dann sagen sie immer: ,Haja, aber so gut wie du sind wir noch lange nicht. Komm, Tina, schwätz nicht‘. Ich so:,Müsst ihr auch gar nicht werden, ich mach das auch schon viel länger‘, ja, also. Aber das ist ein total komisches Verhältnis manchmal. …Ich bin mir nicht sicher, ob das, ob sie wirklich jetzt neidisch sind oder ob sie das anerkennen. Und es gibt dann halt eine, die ist sehr, voll ehrgeizig, die sagt dann immer .Komm Tina, hilf mir, hilf mir1. Und dann ich so: ,lch weiß nicht, ich kann es nicht sagen, ich bin keine Lehrerin ja’. Und die versucht dann immer so gut zu sein wie ich und die trainiert, trainiert und so und das klappt halt einfach nicht, und dann ist sie echt sauer auf mich, weil ich besser bin.

I.: Dir ist es also unangenehm, so ein bisschen die Lehrerin rauszuhängen, oder?

T.: Ja, ich mag das nicht. Ich bin keine Lehrerin und .. das seh ich auch nicht ein. Das wird irgendwann mal voll langweilig, ja, das wird so .. ätzend (!), wenn immer alle herkommen so:, Tina, wie geht das, Tina helf mir“. Ich so: (Seufzen).

Dieses Interviewbeispiel wurde zunächst offen kodiert, d.h. es wurde versucht, sowohl sog. „in-vivo“-Kodes (wörtlich verwendete Begriffe der Schüler) als auch ‚theoretische‘ Kodes zu finden, die die wesentlichen angesprochenen Themen aus Schülersicht erfassen. Solche Kodes lauten z.B. Hilfestellung, Langeweile, Rollenkonflikt, sich aufregen/ärgern, Unsicherheit, Vormachen vor der Klasse usw.

Beim axialen Kodieren der Textstelle geht es dann darum – auf das Phänomen „Gruppenbeziehungen“ hin bezogen – die spezifischen ursächlichen Bedingungen, kontextuellen Bedingungen, Handlungs- und Interaktionalen Strategien sowie Konsequenzen in der aus Schülersicht beschriebenen Situation herauszuarbeiten und dabei ausführliche interpretative Memos zu diesen paradigmatischen Kategorien zu schreiben. Im folgenden soll nun ein eine zusammenfassende Interpretation enthaltendes Memo zu der angeführten Textstelle angeboten werden, in der insbesondere auch Theorie-Rückbezüge angestellt werden.

Interpretation

Tina ist Leistungsturnerin und als solche auch „Expertin“ in der geschilderten, aber auch in ähnlichen Situationen. Die von der Lehrerin zugeschriebene Rolle einer „Hilfestellungsgeberin“ stellt sich für sie ambivalent dar und führt dazu, dass sie sich in einem intrapersonellen Konflikt wahrnimmt: „dann kommst du dir immer so vor, als würdest du voll angeben, ja und das willst du eigentlich gar nicht.“

Ihre Stellung zur sozialen Gruppe „Sportklasse“ (als Ganzes) erlebt sie im Sportunterricht aufgrund ihrer Expertenstellung als von den „normalen“ Intraklassenbeziehungen abweichend und sie wehrt sich dagegen, „über“ die anderen gestellt und in eine (Hilfs-)Lehrerolle gedrängt zu werden: „…ich mag das nicht. Ich bin keine Lehrerin und das seh ich auch nicht ein.“ Es scheint ihr sehr wichtig, als gleichwertig und -berechtigt angesehen zu werden und über die Gruppenmitgliedschaft „Sportklasse“ positive Identifikation zu erlangen.

Der Sportunterricht führt nun bei fast allen befragten Schülern zu einer relevanten (Sub-)Kategorisierungsbedingung, der sich auch bzw. gerade Tina nicht entziehen kann: dies ist die Kategorie „Sportlichkeit“ oder genauer „sportliche Leistungsfähigkeit“. Anhand dieser Bedingung kommt es aus Tinas Sicht zu einer Kategorisierung in Ingroup (bestehend aus Sportexperten bzw. Hilfslehrern, in der sie sich alleine und „gezwungenermaßen“ wahrnimmt) und Outgroup (die „normalen“, restlichen Schüler der Sportklasse). Diese Kategorisierung steht in „Konflikt“ mit der für Tina nach eigenen Angaben v.a. bedeutsamen Gruppenidentifikation über die Klassengemeinschaft. Tinas (interpersonales) Verhalten in bestimmten sportunterrichtlichen Situationen weist nun aber darauf hin, dass sie vornehmlich als Sportexpertin denkt und handelt – bewusst oder unbewusst also die leistungsbezogenen Gruppenzugehörigkeit über die Schulklassen-Gruppenzugehörigkeit stellt. Als sie z.B. die Anfrage einer Mitschülerin Hilfestellung zu leisten ablehnt, zeigt sie eine auf die anderen ablehnend wirkende Haltung, die bei der Outgroup .Leistungsschwächere’ genau so ankommt, wie sie es i.S. ihres Wunsches nach positiver Identifikation im Klassenrahmen eigentlich nicht will: „Nö, wenn ich dann sag: ,Das ist doch schon voll gut, was wollt ihr eigentlich‘. Dann sagen sie immer ,Haja, aber so gut wie du sind wir noch lange nicht. Komm, Tina, schwätz nicht’. Ich so: ,Müsst ihr auch gar nicht werden’. Aber das ist ein total komisches Verhältnis manchmal“. Das „komische Verhältnis“ scheint v.a. davon geprägt zu sein, dass Tina stark verunsichert bezüglich ihres (vermuteten) Bildes bei „den anderen“ (wieder „sportlich“ kategorisiert) ist und ihr Selbstkonzept durch die misslingende positive soziale Identifikation im Klassenkontext wie in der ungeliebten Expertenrolle instabil und unsicher ist: „Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich jetzt neidisch sind oder ob sie das anerkennen“. Die relevante Vergleichsgruppe stellen hier eindeutig die „schlechteren“ dar und das (in diesem sozialen Vergleich) wahrgenommene Spannungsfeld zwischen Neid und Anerkennung bestimmt ihre unsichere, ambivalente soziale Identität im Sportunterricht.

Auch ihr berichtetes Verhalten wirkt dann – aus Forschersicht – entsprechend von Unsicherheit und Missverständlichkeit begleitet und könnte in den Augen der Mitschülerinnen durchaus als arrogant bzw. überheblich/„gönnerhaft“ ankommen. Um nochmals auf das Beispiel mit der um Hilfestellung bittende „hammerehrgeizigen“ Schülerin zurückzukommen: Tina verweigert diese Hilfe mit dem Hinweis darauf, „nicht die Lehrerin“ zu sein und handelt damit auf der Grundlage ihrer leistungsbezogenen Sportexperten bzw. Hilfelehrerinnenrolle, an die sich die Anfrage möglicherweise gar nicht richtet – die Mitschülerin könnte schließlich auf der Basis anderer sozialer Identität(en), nämlich z.B. der gemeinsamen Klassenmitglied und -gemeinschaft anfragen. Bei Tina kommt die Anfrage aber wiederum in dem für sie (situativ) relevanten Sportlichkeits-/Leistungskontext an. Mit diesem von ihr eigentlich gar nicht in erster Linie „gewünschten“ Vergleich (kognitiv will sie schließlich nur „eine der anderen“ im Klassenverband sein) stellt sie selbst aber ihre resultierende, belastende Rollenambivalenz erst her. Durch ihr von dieser Ambivalenz und damit unsicheren sozialen Identität bestimmtes Verhalten stellt sie den Mitschülerinnen gegenüber Konfliktpotential her, denn vermutlich zeigt sich ihre innere Unsicherheit den Mitschülerinnen auch „äußerlich“ – ihre Aussagen im Interview deuten jedenfalls darauf hin, dass sie sich gelangweilt und genervt gibt: „Das ist so ooz- langweilig, wenn du da immer, was weiß ich, du musst immer Hilfestellung machen… Ja, das wird irgendwann mal voll langweilig, ja, das wird so ätzend (!), wenn immer alle herkommen so: .Tina, wie geht das, Tina helf mir‘. Ich so: (Seufzen)“. Aus Forschersicht stellt sich Tinas Wunsch, gleichberechtigtes Gruppenmitglied in der Sportklasse zu sein und ihre Einstellung den anderen gegenüber, die durchgängig von der leistungsbezogenen Kategorisierung und ihrem Expertenstatus beeinflusst bzw. dominiert zu sein scheint, geradezu paradox dar. Aufgrund ihrer stark rollenspezifischen und dadurch .sportiven’ Perspektive und Vergleiche verbaut sie sich – u.U. eher unbewusst als bewusst – unvermeidbar ihren Wunsch auf eine „sport-unabhängige Gruppenidentifikation und das „komische Verhältnis“ wird zur „logischen“ Folge.

Als Konsequenz dieser negativen (gruppenbezogenen) Deutung des Sportunterrichtsalltags, wünscht sich Tina Situationen bzw. Inhalte (wie z.B. „Sprung“), bei denen ihr Expertenstatus erst gar nicht oder zumindest schwächer zum tragen kommt: „Das kann ich auch nicht so gut“ und „…dann ist es auch so, Du kannst mit den anderen mitreden“. Tina stellt selbst fest, dass sich erst durch die Aufhebung ihrer wahrgenommenen Sonderrolle und damit der Aufhebung der für sie bedeutsamen (da ja v.a. auch außerschulisch lebensweltrelevanten) leistungsbezogenen Perspektive gleichberechtigtes „Miteinander reden“ und somit ein für sie zufrieden-stellendes Verhältnis zur Gruppe der restlichen Mitschülerinnen im Sportunterricht einstellen kann und dann schließlich auch positive soziale Identität über die Sportklassengemeinschaft möglich werden könnte. Die Kommunikation zwischen Tina und ihren Mitschülerinnen „scheitert“ möglicherweise tatsächlich v.a. daran, dass Tina aus dem System „Leistungssport“ heraus bewertet, vergleicht und agiert und dadurch Schulsport gar nicht „unabhängig“ davon betrachten kann: Sie sagt, [so gut wie ich] „müsst ihr auch gar nicht werden“ und begründet ihren Leistungsvorsprung: „ich mach das halt länger“. Ihre Mitschülerinnen aber bewerten womöglich außerschulischen und schulischen Sport undifferenziert und sehen Tina im Sportunterricht deshalb als (nicht nur oder ggf. gar nicht sportlich) relevante Vergleichsperson, sondern v.a. als Klassenkameradin an. Da sich Tina aber darauf nicht einlassen kann und/oder will, kommt es zu den beschriebenen Missverständnissen und Beziehungsstörungen und der Verhinderung (eigentlich gewünschter) sozialer Identität im Sportunterricht.

Soziale Kategorisierung, soziale Identität und soziale Vergleiche beruhen in vielen der im Rahmen des Projektes RETHESIS analysierten Interviews zur Schülersicht im Sportunterricht auf der Bedingung „Sportlichkeit“ bzw. „sportliche Leistungsfähigkeit“. Während sie für manche Schüler zur alleinigen salienten Kategorisierung- und Identifizierungsbedingung im Sportunterricht wird, Ingroup-Favorisierung und Outgroup-Diskriminierung sich also vorwiegend zwischen „Guten“ und „Schlechten“ abspielt, führt sie für andere Schüler – und hierfür wäre Tina ein Beispiel – zur Wahrnehmung von „Konkurrenz“ unterschiedlicher Kategorisierungs- und Identifikationsbedingungen und deshalb schließlich zu Rollenkonflikten und unsicherer bzw. instabiler sozialer Identität im Sportunterricht.

Der Vergleich und das intensive axiale und selektive Kodieren der vorliegenden Interviewdaten zum Themenkomplex „Gruppenbeziehungen“ haben schließlich u.a. zur Formulierung des folgenden Deutungs- und Erlebensmusters aus Schülersicht geführt. Das diskutierte Beispiel „Tina“ wäre dabei eines von mehreren Beispielen, die diesem Muster zugeordnet wurden:

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