Einleitende Bemerkungen

[…] In diesem Abschnitt soll das Problem des Personseins im Unterricht am Beispiel einer Sequenz aus Interviews einer Forscherin mit einer Schülerin zu einer Unterrichtsstunde im Fächerverbund Geschichte und Sozialkunde herangezogen werden.[1] Dabei möchte ich nicht den Anspruch einer vollständigen Interpretation einlösen, sondern die Diskussion für die Frage nach der pädagogischen Bedeutsamkeit des Personseins für Schüler(innen) im Unterricht eröffnen. In der Interviewsituation wird die Schülerin in ihrer Rolle als Schülerin interviewt. Sie wurde direkt im Anschluss an eine Unterrichtsstunde dazu aufgefordert, über ihr Verhältnis zum eben besuchten Unterricht Auskunft zu geben. Die Sequenz beginnt mit einer Frage der Interviewerin nach der Mitarbeit der Interviewten im Unterricht:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

 

Int.: Ha| glaubst Du, dass Du gut mitgearbeitet hast, heute?
SwM: Ja, ich hab oft aufzeigt.
Int.: Ja. (.) Daran hast es g’merkt?
SwM: Hmhm. Aber der lAnfang des Namens], der Herr [Name] nimmt mich auch oft dran, wenn ich aufzeig. Das mag ich so an, weil dann (..), dann zei| zeig ich wenigstens zu irgendeinem Zweck auf. Der Herr [Name eines anderen Lehrers], der nimmt mich nie dran, wenn ich aufzeig.
Int.: Hmhm. Und woran hä| wovon hängt das ab? […]
SwM: Keine Ahnung. Vielleicht wirk ich vor’m Herrn [Name dieses anderen Lehrers] nicht so intelligent, wie > {lachend:} vor’m Herrn [Name] oder so. [1]

In meiner Analyse dieser kurzen Passage orientiere ich mich an den im vorherigen Abschnitt dargelegten Strukturmomenten der Personalität, die ich bereits unter den Gesichtspunkten der Ambivalenz, Perspektivität und Leiblichkeit beschrieben habe. Mein Fokus richtet sich auf die Frage, wie sich aus den Aussagen des Mädchens ihr Selbstverständnis als Schülerin rekonstruieren lässt. Zudem wird die Frage nach der möglichen Bedeutung eines solchen Selbstverständnisses für die Bildungsprozesse der Befragten gestellt. Das Ziel der folgenden Interpretation besteht nicht darin, eine fertige Fallstudie zu präsentieren oder eine Antwort auf die im theoretischen Teil formulierten Fragen zu finden, sondern eher darin, letztere noch weiter zu konkretisieren.

»Dann zeig ich wenigstens zu irgendeinem Zweck auf« (Stichwort: Ambivalenz)

Wir sind davon ausgegangen, dass die sich im Unterricht befindenden Kinder und Jugendliche mit einer bestimmten Ambivalenz konfrontiert sind: Einerseits befinden sie sich in der Schule, um sich mit Wissensinhalten auseinanderzusetzen, die zu ihrer jeweiligen Entwicklung beitragen sollen. Zugleich haben sie eine bestimmte Rolle zu erfüllen, sie sind Schüler(innnen). Anhand des Materials will ich mich zunächst mit der Frage befassen, wie letzteres thematisch wird. Die Sequenz beginnt mit der Frage der Interviewerin, ob die Interviewte im Unterricht mitgearbeitet habe. In der Frage nach der Mitarbeit wird die Schülerrolle im Unterricht von der Interviewerin bereits implizit als fremdbestimmter »Job« formuliert, bei dem man mehr oder weniger gut mitarbeiten kann oder auch nicht. Hier wird also bereits ein Bedeutungszusammenhang eröffnet, der viele andere mögliche Auslegungen von Unterricht ausschließt. Die Schülerin bejaht die Frage nach der Mitarbeit mit dem Argument, dass sie oft aufgezeigt habe. Sie spricht damit eine alltägliche Praxis von Schüler(inne)n an: das Aufzeigen. Für die Befragte besteht offenbar ein deutlicher Zusammenhang zwischen Aufzeigen und Mitarbeiten. Sich zu melden ist für sie Ausdruck ihrer Mitarbeit im Unterricht. Mit dem Aufzeigen erweist sie sich als den Unterricht unterstützende Schülerin, sie nimmt die (ihr nicht zuletzt von der Interviewerin zugewiesene) Schülerrolle also für sich an. Der Interviewten ist dieser Zusammenhang offenbar bewusst, sie kennt die Regeln von Schulunterricht. Andererseits scheint es ihr nicht bloß um das Aufzeigen zu gehen. Sie will nicht nur Aufmerksamkeit bekommen, sie möchte drangenommen werden. Sie zeigt offenbar zu dem Zweck auf, einen aktiven Redebeitrag zum Unterricht leisten zu dürfen. Die Interviewte stellt ihr eigenes Handeln damit als ein über eine bestimmte Idee von Unterrichtsgeschehen motiviertes Handeln dar. Unterricht wird im Allgemeinen normativ dadurch bestimmt, dass die Schüler(innen) mitarbeiten sollen. Sich zu melden ist für die Schülerin Ausdruck der von ihr verlangten Mitarbeit. Dabei ist das leere so tun als ob man im Unterricht mitarbeiten möchte, ein Aufzeigen nämlich, ohne drangenommen werden zu wollen, nicht von ihr erwünscht. Die Erfüllung des von ihr Bezweckten ist aber nicht von ihr selbst abhängig. Es ist der Lehrer, der sie aufrufen kann oder eben nicht. Dabei bezieht sich die Schülerin in ihrer Antwort auf die Frage nach ihrer Mitarbeit im Unterricht nicht auf den Inhalt der Schulstunde, sondern auf eine ganz spezifische Form der Teilnahme am Unterricht. Sie erwähnt gar nicht, was sie hätte sagen wollen. Der Zweck des Aufzeigens liegt für sie darin, einen aktiven Redebeitrag zu leisten. Dazu vom Lehrer, von der Lehrerin auch tatsächlich aufgefordert zu werden, ist das, was sie implizit als positiv bewertet.

Inwiefern zeigt sich in dieser Sequenz die Ambivalenz des Personseins der Interviewten? Einerseits, so könnte man sagen, drückt sie in ihren Äußerungen die Annahme ihrer Rolle als Schülerin aus. Andererseits besitzt sie durchaus eine reflexive Distanz zu ihrem Schülerverhalten. Sie erkennt nämlich, dass es vom Lehrerhandeln abhängig ist. Ihr Aufzeigen erhält seinen Sinn (seinen Zweck) erst über das Drannehmen.

»Der Herr [Name] nimmt mich auch oft dran« (Stichwort: Perspektivität)

Die Interviewte stellt einen Unterschied zwischen den verschiedenen Lehrer(lnne)n in Bezug auf das Drannehmen fest. Vor allem legt sie dar, wie sie sich einen derartigen Bezug auf sich selbst erklärt. Sie meint, auf den einen Lehrer intelligenter als auf den anderen zu wirken. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie dies anbringt, lässt darauf schließen, dass dies für sie schlicht zu ihrem Schulalltag zu gehören scheint. Sie deutet ihr Schülersein also als von unterschiedlichen Einschätzungen ihrer (kognitiven) Leistungen durch die Lehrperson bestimmt. Ihr Schülersein wird für sie in Bezug auf die unterschiedlichen, nicht miteinander kompatiblen Perspektiven, die von Lehrpersonen auf sie eingenommen werden, thematisch: Den Widerspruch, dass zwei verschiedene Lehrer auf dasselbe Rollenverhalten ganz unterschiedlich reagieren, löst sie nicht auf. Es wird nicht deutlich, welche Bedeutung dies für sie hat. Die Interviewte ist in der Lage, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, sich also aus der Perspektive des Lehrers zu betrachten. Interessant ist das Kriterium, wonach sie meint, von den Lehrerinnen beurteilt zu werden. Es geht ihr offenbar darum, intelligent zu wirken. Vielleicht wirk ich vor’m Herrn [Name dieses anderen Lehrers] nicht so intelligent, wie > {lachend:} vor’m Herrn [Name] oder so.« Zugleich ist sie sich der Gültigkeit dieses Kriteriums aber offenbar nicht sicher (vielleicht); der von ihr vollzogene Perspektivenwechsel findet hier seine Grenzen. Es scheint ihr nicht deutlich zu sein, worin die Maßstäbe für die erfolgte Beurteilung liegen. Sie weiß schlichtweg nicht, warum der eine Lehrer so handelt wie er es tut. Andererseits unterstellt sie beiden Lehrern dasselbe Anliegen: sie soll intelligent auf diese wirken. Mit dem Wirken spricht sie die Rollenhaftigkeit ihres Schülerinseins an und drückt ein gewisses Bewusstsein über die ihr zugedachte Rolle aus, von der sie sich, indem sie lacht, aber in gewisser Weise wieder distanziert. Indem sie lachend das mehr-oder-weniger-intelligent-Wirken als eher unwichtig abtut, zeigt sie eventuell Distanz zum Schulunterricht überhaupt.

»Aufzeigen« (Stichwort: Leiblichkeit)

In der von der Interviewten beschriebenen Unterrichtsszene spielt eine körperliche Geste die zentrale Rolle: das Aufzeigen. Sie berichtet davon, schon oft aufgezeigt, also die Hand gehoben zu haben, um das Wort zu bekommen. Aufzeigen kann sehr unterschiedlich motiviert sein. Für die Interviewte scheint es eine alltägliche Geste zu sein, die keiner näheren Erklärung bedarf. Damit setzt sie die Vertrautheit auch der Interviewerin mit einer gängigen schulischen Praxis voraus. Die Interviewte macht deutlich, dass sie mit dieser Geste einen Zweck verfolgt. Nicht auf den gestreckten Finger, auf die Hand, den Arm, der in die Luft gereckt wurde, soll aufmerksam gemacht werden, sondern es geht um etwas anderes, um ein sich-zu-Wort-melden ohne Worte. Mit dem Aufzeigen positioniert die Schülerin sich im Aufmerksamkeitsraum des Lehrers. Sie ist zwar fraglos physisch im Klassenraum präsent, für den Lehrer allerdings scheint sie dies aber noch nicht unbedingt zu sein. Dessen begehrte Aufmerksamkeit richtet sich, so macht die Interviewte deutlich, nun nicht auf ihren Finger etc., sondern auf sie als Person. Ihre Meldung kann die Aufforderung zur Folge haben, sich in den Unterricht einzubringen. Sie erkennt die Tatsache, dass ein Lehrer, eine Lehrerin dabei selektiv vorgeht. Allerdings führt die Interviewte dies in der Interviewsequenz nicht etwa auf die große Zahl der Schüler(innen) im Raum zurück, sondern darauf, dass der eine Lehrer sie als intelligent wahrnimmt, während der andere dies nicht tut. Unter welchen Umständen aber wirkte in Schüler, eine Schülerin ihrer Auffassung nach als intelligent und was ist die Ursache für eine solche Wirkung? Kann jemand intelligent sein, ohne intelligent zu wirken? Ist die Intelligenz etwas einer Person Äußerliches?

Die Situation wird von der Interviewten als eine nicht authentische beschrieben. Es handelt sich anscheinend für sie eher um eine Art Spiel, bei dem die Rollen genau verteilt und die Handlungen streng rollenförmig sind (»Aufzeigen«, »Drannehmen«, »intelligent Wirken«), Ein Bezug zum Inhalt des Unterrichts wird, wie schon gesagt, von der Interviewten in der genannten Sequenz nicht hergestellt. Bedeutet dies, dass für sie der Unterricht ein sinnleeres Geschehen darstellt? Dies wird in der behandelten Sequenz nicht deutlich. Die Interviewte gibt dem Unterrichtsgeschehen vielmehr bestimmte Bedeutungen. Das »Aufzeigen« findet unter einer bestimmten Zielsetzung, nämlich »drangenommen« zu werden. Dies ist der Sinngehalt des Geschehens für sie. Die beiden Lehrer werden dem entsprechend anhand der unterschiedlichen Reaktionen auf ihr »Aufzeigen« bewertet: »Das mag ich so an […]., weil« Nicht das Lehrerhandeln scheint hier bewertet zu werden, sondern sie mag es »an ihm«, dass er sie »drannimmt«. Ihre Bewertung ist also personenbezogen formuliert. Zugleich drückt sie ein gewisses Bewusstsein ihres eigenen dem Ermessen der Lehrperson Ausgeliefertseins aus. Sie ist als Schülerin der Willkür ausgesetzt, ob sie vor einem Lehrer intelligent genug wirkt, um mitreden zu dürfen. Jene Willkür wird jedoch durch sie selbst, wie ich meine, durch die Art und Weise, wie sie diese Willkür für sich deutet, gebrochen: sie »wirke« nur das eine Mal intelligent und das andere Mal nicht. Die Frage, in welchem Zusammenhang das Intelligent-Wirken zu ihrem Selbstbild als mehr-oder-weniger- intelligent-seiende Person steht, wirft sie nicht auf. Die Interviewte zeigt, so meine ich, damit eine gewisse Distanz zum Unterricht.

Wie steht es um die pädagogische Relevanz der hier nachweisbaren Distanz? Welchen Spielraum lässt die (im Beispiel deutliche) klare Rollenverteilung im Unterricht den an diesem Beteiligten? Ist es denkbar, dass der von der Interviewten beschriebene Unterricht ihr rollenförmiges Handeln eventuell auch nicht zu lässt? Welchen Einfluss hat sie selbst auf die Grenzen ihres rollenförmigen Handelns? All diese Fragen müssen an dieser Stelle offen bleiben. In einem letzten Abschnitt soll aber angegeben werden, wie mögliche Antworten auf die gestellten Fragen gefunden werden können.

Fußnoten:

[1] Das Interview wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes von Marion Pollmanns zu »Unterrichten und Aneignung« (vgl. Pollmanns 2010) in der 8. Schulstufe eines Gymnasiums in Graz (Österreich) durchgeführt (Vgl. Pollmanns & Schwarz 2008). Die herausgegriffene Sequenz ist speziell für unsere Fragestellung ausgewählt, dennoch repräsentiert die Interviewte, so meine These, die es noch zu prüfen gilt, an jeder Stelle die für sie jeweils spezielle Aneignungsperspektive der Schülerrolle. Die Interpretation folgt einem hermeneutisch-phänomenologischen Ansatz, die verfolgt aber auch das Ziel, diese Methode weiterzuentwickeln bzw. den Zusammenhang phänomenologisch-deskriptiver Metatheorie und phänomenologischen Forschen für die Pädagogik voranzutreiben. (Vgl. dazu Meyer-Drawe 2001; Maso 2010).

[2] Pollmanns & Schwarz 2008.

Literaturangaben:

Maso, I. (2001): Phenomenology and Ethnography. In: Atkinson, P.; DeIamont, A.; Coffey, A.; Delamont, S.; Lofland, J.; Lofland, L. (eds.): Hand- book of Ethnography. Thousand Oaks,’CA: Sage, S. 136-144

Meyer-Drawe, K. (2001): Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Intersubjektivität. München: Fink

Pollmanns, M.; Schwarz, E. (2008): Interview mit einer Schülerin (SwM) zu einer Geschichte und Sozialkundestunde in einer 4. Klasse (8. Schulstufe), http://archiv.apaek.uni-frankfurt.de/933 [Stand: 1.9.2010]

Pollmanns, M. (2010): Zur Aneignungsseite des Unterrichts. Pädagogische Fallstudie unterrichtlicher Lern- und Bildungsprozesse. In: Hackl, B.; Egger, R. (Hgg.): Sinnliche Bildung? Pädagogische Prozesse zwischen vorprädikativer Situierung und reflexiver Aneignung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 108-122

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