- Fallarbeit in der Sportlehrerausbildung – Schwänzchenfangen
- Fallarbeit in der Sportlehrerausbildung – Vorurteile
Einleitende Bemerkungen
Die folgenden Beobachtungen zu schulischer Inklusion im Sport beziehen sich auf die Grundschule B., eine Regelschule in Niedersachsen, Seit sechs Jahren gibt es dort nach Forderungen einer engagierten Elterninitiative eine Kooperationsklasse mit der Montessori-Grundschule für Kinder mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.
Die dritte Klasse besteht insgesamt aus 21 Schülerinnen und Schülern. Sieben Kinder davon sind solche mit besonderem Förderbedarf des Schwerpunkts geistige Entwicklung. Die verschiedenen Ausprägungen der Behinderungen äußern sich recht unterschiedlich. Drei Schüler sind Frühgeburten gewesen und weisen keinerlei äußere Anzeichen einer geistigen Leistungsschwäche auf. Ihre Beeinträchtigung wird erst bei komplexeren kognitiven Aufgaben deutlich. Ein Mädchen mit dem Downsyndrom fällt dagegen sofort durch ihr typisches Äußeres auf. Des Weiteren ist ein Junge – hier namens Paul[1] – halbseitig gelähmt, welches auch die Hauptursache seiner geistigen Leistungsschwäche darstellt. Ein Schüler – hier Tom genannt – ist ein „Wiederholer“ aus einer Regelklasse der B.-Schule und dementsprechend ein Jahr älter als die anderen Kinder. In seiner ehemaligen Klasse ist er durch negatives Sozialverhalten aufgefallen und hat nach Aussage des Sonderpädagogen außerdem eine Lernschwäche, ohne hierfür aber einen ausgewiesenen Förderbedarf zu beanspruchen. Er ist seinen Mitschülern körperlich deutlich überlegen.
Der Unterricht erfolgt in pädagogischer Doppelbesetzung: Die Kinder haben zwei Klassenlehrer; einen Sonderpädagogen von der Montessori-Schule – welcher jedoch Vollzeit mit der Kooperationsklasse an der B.-Schule arbeitet – und eine Grundschullehrerin ohne spezielle Zusatzausbildung.
Die Kooperationsklasse hat seitdem ersten Schuljahr 14 Stunden gemeinsam Unterricht in den Fächern Deutsch, Mathematik, Sachunterricht, Kunst, Musik und Sport. Der Sportunterricht findet zweimal wöchentlich in der schuleigenen Sporthalle statt und dauert je eine ganze Stunde (nicht 45 Minuten im Sinne einer Schulstunde). Auch hier wird nach dem Prinzip des gemeinsamen Unterrichts vorgegangen, keiner wird aufgrund von Schwächen oder motorischen Eigenarten isoliert unterrichtet. Beide Lehrkräfte sind anwesend, wobei die Klassenlehrerin – studierte Sportlehrerin – den Großteil der Stunde plant und anleitet. Jedoch geschieht dies unter vorheriger Absprache mit dem Sonderpädagogen.
Falldarstellung
In der zweiten und dritten Stunde hospitieren wir in einer zweiten Klasse in Sport. Inhalt der Stunde ist die Hockwende, die an verschiedenen Stationen mit großen Kästen ausgeführt werden sollte, die wir, schon bevor die Klasse die Halle betritt, aufbauen.
Am Beginn der Stunde bekommen die Schülerinnen und Schüler ein paar Minuten freie Spielzeit; sie können sich Bälle, Seile, Tücher, Reifen usw. nehmen und damit in der Halle spielen. Dann beendet Frau S. durch ein lautes „Stopp!“ die freie Spielzeit. Frau S. fordert die Schülerinnen und Schüler auf, zu ihr zu kommen, was sie auch tun. Sie stehen in einem lockeren Haufen um sie herum. Sie kündigt an, dass es heute um die Hockwende gehen solle, dass sie vorher mit den Schülerinnen und Schülern noch ein Aufwärmspiel machen möchte. Während des Aufwärmspiels, einem einfachen Fangspiel, stehen die großen Kästen eher im Weg. Nach Beendigung des Spiels verteilt Frau S. die Kinder auf die verschiedenen Stationen, die über die gesamte Halle verstreut sind; es sind unterschiedlich viele Kinder an einer Station. Nachdem alle Kinder zugeordnet sind, erklärt Frau S. von der Mitte der Halle aus die Hockwende und wie sie an den einzelnen Stationen ausgeführt werden soll. Die Schülerinnen und Schüler an den weiter entfernt liegenden Stationen sind unruhig. Frau S. ermahnt sie wiederholt. Als das nicht wirkt, schreit sie laut. Daraufhin wird es still.
Als die Stationsarbeit beginnt, führen viele Schülerinnen und Schüler die Hockwende nicht so aus, wie Frau S. sie angesagt hat. Frau S. steht weiterhin in der Mitte der Halle und kommentiert solche Sprünge mit einem sehr lauten: „Falsch!“ Zwischendurch laufen immer wieder einzelne Kinder aus der Halle, offensichtlich um etwas zu trinken oder auf Toilette zu gehen. Frau S. geht jetzt während des Übens zu den Stationen, um dort neue Übungen einzuführen. Nach einiger Zeit sollen die Schülerinnen und Schüler die Stationen wechseln. Einige Kinder beschweren sich, weil sie an ihrer Station noch gar nicht dran waren. Etliche Schülerinnen und Schüler haben durch den Stationswechsel oder durch das Verlassen der Halle die neuen Übungen noch nicht mitbekommen. Auch diese Schüler werden angeschrien, sie würden die Übung falsch machen.
Je länger die Stunde dauert, desto unruhiger werden die Schülerinnen und Schüler. Sie streiten sich untereinander, albern herum‘, sind sehr laut und unterhalten sich. Frau S. greift hierbei nicht ein.
Zum Abschluss erklärt Frau S. ein ziemlich kompliziertes Spiel, das die Klasse offensichtlich noch nicht kennt. Meine Mitpraktikantin und ich verstehen Frau S. Erklärungen nicht – ebenso wie die Kinder. Nach ein paar Versuchen, das Spiel in Gang zu bringen, bricht Frau S. die Stunde ab und schickt die Kinder zum Umziehen.
Interpretation
Im Folgenden werde ich die Unterrichtsstunde hauptsächlich auf den möglichen Einsatz von organisatorischen Ritualen hin untersuchen (vgl. Jäckel, 1999, S. 21), da diese für einen stärker strukturierten Ablauf der Stunde von Bedeutung sind. Für diese Art von Ritualen stütze ich mich besonders auf Bohlen (2005).
Rituale zu Beginn
Schwierigkeiten zu Beginn von Unterrichtsstunden können sowohl durch den Wechsel der Fachlehrerin als auch durch den Ortswechsel entstehen. Gerade im Sportunterricht, in dem sich die Kinder sehr viel bewegen können, gilt es, darauf zu achten, dass dennoch ein strukturierter Ablauf stattfinden kann. Der Grundstein dafür kann schon zu Beginn einer Stunde gelegt werden, So können Rituale am Anfang dafür sorgen, dass eine Zeit des Einlassens und Ankommens geschaffen wird. Die Schülerinnen und Schüler haben Gelegenheit, sich auf veränderte Bedingungen und Stimmungen einzustellen (vgl. Bohlen, 2005, S. 19).
Auch die beobachtete Stunde hat ein Anfangsritual, das in einer freien Spiel- und Bewegungszeit besteht. Sie können sich eine gewisse Zeit austoben und Emotionen ausleben. Dennoch ließe sich das Ritual der freien Bewegungszeit durch eine symbolische Inszenierung verbessern, indem ein ästhetischer Rahmen geschaffen wird, um das Ritual zu verschönern. Durch bestimmte Zeichen können Anfang und Ende des Rituals markiert werden (ebd., S. 28). So hätte in der beobachteten Stunde z. B. am Ende der freien Bewegungszeit begleitende Musik ausgestellt oder aber durch ein Handzeichen das Ende angekündigt werden können.
Der Übergang zum eigentlichen Unterrichtsbeginn wird von Frau S. nicht gestaltet, Die Schülerinnen und Schüler versammeln sich in einem lockeren Haufen um sie herum, während sie das Thema der Stunde nennt und das Eingangsspiel erklärt. Die Schülerinnen und Schüler werden weder von ihr begrüßt noch haben sie eine Chance, von der freien Bewegungszeit auf den nächsten Stundenteil umzuschalten. Der im Sportunter rieht übliche Sitzkreis zu Beginn hätte hier ein besseres Ankommen der Schülerinnen und Schüler, die gegenseitige Wahrnehmung und eine bessere Gesprächsatmosphäre ermöglicht. So, wie Frau S. agiert, bekommt man als Beobachterin eher einen abrupten und fast hektischen Eindruck.
Rituale während des Unterrichts
Rituale während des Unterrichts dienen dazu, dem Unterricht eine Ordnung zu verleihen und vor allem Übergänge geschmeidig zu gestalten. Besonders sinnvoll sind dabei symbolische Inszenierungen, die durch Gegenstände, Zeichen oder Gestik und Mimik hergestellt werden. Sie geben den Schülerinnen und Schülern Orientierung für ihr Handeln und sorgen für einen sicheren Rahmen (vgl. Bohlen, 2005, S, 28), Innerhalb der beschriebenen Stunde ließen sich an mehreren Stellen entlastende Rituale einführen, Während Frau S. fast ausschließlich mit lautem Rufen („Stoppt“) darauf aufmerksam macht, dass die Kinder aktuelle Tätigkeiten unterbrechen sollen, wüte auch der Einsatz von Musik möglich gewesen. So könnte die freie Bewegungszelt zu Beginn mit Musik untermalt werden und bei deren Ende immer eine Versammlung im Sitzkreis erfolgen. Ebenso hätte der Stationswechsel mit Musik geregelt werden können („Musik an“ bedeutet Arbeit an der Station, „Musik aus“ heißt Stationswechsel).
Frau S. ermahnt die Schülerinnen und Schüler häufig, ihr besser zuzuhören, z. B. als sie die Stationen zur Flockwende erklärt. Abgesehen davon, dass die Kinder sich schon an den Stationen befinden und schon dadurch schlechte Voraussetzungen zum konzentrierten Zuhören bestehen, bewirken die verbalen Ermahnungen von Frau S. wenig. Sie führen eher dazu, dass eine gereizte Atmosphäre entsteht. Besser wäre hier ein nonverbales Ritual, wie etwa der „Leisefuchs“ das in vielen Grundschulen verbreitet ist. Die Lehrerin hätte die Geste machen können, in die die Kinder dann zunehmend einstimmen, bis alle ruhig sind. Indem die Kinder aktiv an der Herstellung von Ruhe mitwirken, erhält das Ritual deutlich mehr Gewicht, als wenn nur die Lehrerin versucht, für Ruhe zu sorgen.
In der Stunde von Frau S. kommt es schon allein deswegen immer wieder zu Unterbrechungen und Störungen, weil etliche Schülerinnen und Schüler zwischendurch die Halle verlassen, um z. B. etwas zu trinken. Wenn denn tatsächlich in einer Doppelstunde etwas getrunken werden muss, so wäre eine gemeinsame Trinkpause ratsam, damit nicht immer Einzelne das laufende Unterrichtsgeschehen stören.
Während Frau S. uns Praktikantinnen mit dem Auf- und Abbau der Geräte beauftragt hat, sollte m. E. das Auf- und Abbauen als gemeinsames Ritual aller Lernenden etabliert werden. Es würde die Verantwortung der Schülerinnen und Schüler für das Gelingen der Stunde stärken sowie die Lehrkraft entlasten.
Rituale zum Ende der Unterrichtsstunde
Am Ende der beschriebenen Stunde nach dem missglückten Abschlussspiel schickt Frau S. die Kinder zum Umziehen. Es gibt keine Besprechung, keinen Rückblick auf die Stunde, auch keine Verabschiedung, Der Eindruck einer unstrukturierten, unbefriedigenden Stunde drückt sich auch am Ende aus. Sicherlich leidet der Sportunterricht unter notorischer Zeitknappheit; es wird im Alltag immer wieder Stunden geben, die keinen klar geordneten Abschluss haben. Aber bei Frau S, habe ich die Vermutung, dass ihre Stunden fast regelmäßig so „ausfransen“. Da sie zu keinem Zeitpunkt der Stunde einen Sitzkreis macht, bei dem die Schülerinnen und Schüler sich an einem Gespräch beteiligen können,
liegt der Verdacht nahe, dass Frau S. keinen Wert darauf legt, dass die Lernenden sich zu ihrem Unterricht äußern. Insofern hat es mich nicht verwundert, dass auch am Ende kein Sitzkreis mehr stattfindet. Es wären außer diesem inhaltlichen Ritual aber dennoch eher formale Rituale möglich gewesen, um die Stunde abzuschließen. Das könnte z. ß. ein gemeinsames Lied, ein Spruch oder eine bestimmte Form der Verabschiedung sein, die durchaus kurz sein können.
Anhand der vorgestellten Unterrichtsstunde zeigen sich einige Anknüpfungspunkte für den Einsatz von Ritualen, die den Unterricht besser strukturieren könnten, als es Frau S. gelungen ist. Nach Kaufmann-Huber (1995, S. 10) können Rituale „bei einem überlegten Einsatz die Entwicklung von Kindern im Grundschulalter positiv beeinflussen“.
Dabei kommt es vor allem auf die Auswahl und Anzahl der Rituale an. Beim Einsatz zu vieler Rituale besteht die Gefahr, wie Bohlen (2005, S. 22) es ausdrückt, die Schülerinnen und Schüler zu „Untertanen“ zu machen, indem sie ihren individuellen Handlungsspielraum einbüßen und ständig diszipliniert werden. Doch möchte ich an dieser Stelle die in der Literatur diskutierten Gefahren nicht weiter ausführen, da die beobachtete Stunde ja überhaupt keine funktionierenden Rituale aufweist.
Abschließend möchte ich erwähnen, dass ich durch die unruhigen und hektischen Stunden von Frau S. auf das Thema Rituale aufmerksam geworden bin. Zum Ende des Praktikums, nachdem Frau S. einige meiner Stunden beobachtet hatte, hat sie selbst einige der Rituale, die ich eingeführt hatte, übernommen. Meiner Meinung nach ist die Arbeit mit Ritualen vor allem im Grundschulalltag und gerade im Sportunterricht unabdingbar.
Fußnote:
[1] Dieser und auch alle folgenden Namen der Kinder wurden aus Datenschutzgründen geändert.
Literaturangaben:
Bohlen, I. (2005). Rituale im Grundschulunterricht. Oldenburg: Didaktisches Zentrum der Universität Oldenburg.
Jackel, B. (1999). Rituale als Helfer im Grundschulalltag. Dortmund: Borgmann.
Kaufmann-Huber, G. (1995). Kinder brauchen Rituale. Freiburg i. Br.: Herder.
Mit freundlicher Genehmigung des Meyer & Meyer Verlages. http://www.dersportverlag.de/sportwissenschaft/fallarbeit-in-der-sportlehrerausbildung-9783898999120.htmlNutzungsbedingungen:
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