Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Das nachfolgende Textbeispiel entstammt einer Gruppendiskussion, an der fünf Lehrerinnen beteiligt waren. Sie arbeiten gemeinsam an einer Grundschule. Bf kommt zwar von einem Förderzentrum und ist Sonderpädagogin, sie gehört dem Kollegium der Grundschule formal nicht an, die Schule ist jedoch ihr täglicher Arbeitsort. Die Grundschule liegt am Stadtrand einer großen westdeutschen Stadt und arbeitet zum Zeitpunkt der Gruppendiskussion seit zweieinhalb Jahren integrativ. Die Schülerinnen und Schüler dieser Schule kommen nach Aussagen der Lehrerinnen überwiegend aus bildungsfernen und sozio-ökonomisch benachteiligten Milieus.

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Unmittelbar vor der nachfolgenden Passage diskutieren die Lehrkräfte die Unklarheiten bei der Vergabe von Noten und kommen in diesem Kontext auf die so genannten Integrationskinder, die sie „I-Kinder“ nennen, zu sprechen. Es handelt sich hierbei um Kinder, die sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Lernen und/oder Sprache haben und die integrativ in der Grundschule beschult werden. Die erste Äußerung Cfs nimmt auf „die I-Kinder“ Bezug. Die Passage zeichnet sich durch eine hohe interaktive Dichte aus und wurde für die Darstellung mit dem Ziel des besseren Nachvollzugs in zwei Teile geteilt.

Inhaltlich geht es in diesem Teil der Passage um unterschiedliche Kinder und ihre Möglichkeiten in der Schule zu lernen. Es werden drei Gruppen von Kindern genannt, die so genannten I-Kinder, die Regelkinder und die Gruppe, die zwischen den ersten und den zweiten gesehen wird. Sie werden hier als Regelkinder beschrieben, die weder „hochbegabt“ sind, noch einen so niedrigen Intelligenzquotienten haben, dass sie Anspruch auf sonderpädagogische Förderung und die damit verbundene andere Behandlung erhalten, wie z.B., nicht an Lernstandsvergleichen teilzunehmen und/oder Noten zu erhalten. Der Intelligenzquotient als scheinbar objektive Differenzkategorie wird hier in seiner Bedeutung für die Lehrpersonen deutlich.

Die Lehrerinnen beschreiben die Kinder in dieser Passage und nehmen gleichzeitig Bezug zur unterrichtlich-schulischen bzw. allgemein unterstützenden Zuständigkeit für diese Kinder. Das Thema der Zensuren führt die Lehrerinnen zu einer Beschreibung einer Gruppe von Kindern, die weder über einen Sonderstatus verfügen noch so lernen, wie die „hochbegabten Regelkinder“. Die Kinder haben nach Ansicht der Lehrerinnen viele Probleme und Schwierigkeiten, jedoch keinen Anspruch auf sonderpädagogische Unterstützung. Die Umschreibung dieser Kinder als „ärmste Würmer“ verweist zum einen auf empathisches Mitgefühl mit ihnen und zum anderen auf eine Herabsetzung von Seiten der Lehrerinnen. Zudem wird eine Differenz zwischen den Beobachtungen der Schwierigkeiten der Kinder auf der einen Seite und den Ergebnissen der formalen Überprüfung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs auf der anderen deutlich. In diesem Dilemma scheint das „Schicksal“ der Kinder sich schulisch zu entfalten.

Im zweiten Teil der Passage, die insgesamt mit „Kinder aus dem Niemandsland“ betitelt wurde, setzen die Lehrerinnen ihre Beschreibung der Kinder fort. Sie beschreiben das soziale Milieu der Eltern, die ihre Kinder weder finanziell, in Form von Nachhilfe, noch durch eine anregungsreiche Gestaltung mit Lern- und Spielmaterialien unterstützen können. Die eigenen sozialen Erfahrungen der Eltern führen die Lehrerinnen hierfür erklärend an. Diese eröffnen den Eltern keine Perspektiven einer Unterstützung der Lernentwicklung ihrer Kinder, damit diese den schulischen Anforderungen entsprechen könnten. Die Lehrerinnen beschreiben ihre eigenen Versuche, den Kindern außerunterrichtliche Hilfen zukommen zu lassen. Ihre Versuche scheitern jedoch daran, dass diese nur dann gewährt werden, wenn die Probleme der Kinder nachweislich sehr groß sind und zwar über die erste Klasse hinaus, da in dieser kein Anspruch auf außerunterrichtliche Fördermaßnahmen besteht.

Geteilte Orientierungen

Die Lehrerinnen der Gruppe Kontinent diskutieren in der ausgewählten Passage ihre eigenen Schwierigkeiten Kindern, die weder zu denen zählen, die sonderpädagogischen Förderbedarf haben und für die damit andere Regeln gelten, noch zu jenen, die sie als „hochbegabte Regelkinder“ umschreiben. Die potenzielle Möglichkeit für die Unterstützung dieser Kinder sehen die Lehrerinnen in Förderangeboten außerhalb ihres Unterrichts und fühlen sich damit für die Lernprozesse nicht (durchgängig) zuständig. Diese müssen beantragt werden. Eine Beantragung solcher außerschulischen Fördermöglichkeiten unterstützt die Gruppe Kontinent ebenso wie die Überprüfung der Kinder, ob sie einen sonderpädagogischen Förderbedarf erhalten können. Die Eltern der umschriebenen Kinder erkennen und beschreiben sie als eine weitere Gruppe, die Verantwortung für die nachholende Unterstützung unterrichtlicher Lernprozesse tragen könnte. Im Fall der beschriebenen Kinder fallen diese jedoch aus.

Der positive Horizont, der den Rahmen der Diskussion begrenzt, stellt die Schwierigkeiten der Lehrerinnen im Unterricht bzw. für erfolgreiche Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler dar. Sie verweisen darauf, dass diese Kinder keine besondere Förderung erhalten können. Eine organisatorische Bezugskategorie, welche zusätzliche Ressourcen bereitstellt, scheint zentral in der Frage, inwiefern diesen Schülerinnen und Schülern die benötigte Unterstützung zuteilwerden kann. Das heißt, implizit verweisen die Lehrerinnen der Gruppe Kontinent auf eine Ressourcenproblematik, die die Enaktierung ihrer „eigentlich“ bestehenden Förderorientierung einschränkt. Die individuelle Förderung besteht offenbar als Konzept nur im Rahmen der organisatorischen Kategorie des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Die Lehrerinnen fühlen sich für die Förderung dieser „Kinder aus dem Niemandsland“ im Regelunterricht nicht zuständig.

Misserfolge werden in der Äußerung der Lehrerinnen und Lehrer über die Schülerinnen und Schüler, die „ nicht gut mitkommen“ zugespitzt geäußert. Hierin wird die Orientierung von normalem Lernen, dem Mitkommen im Unterricht, deutlich. Hiervon können Kinder – die Integrations-Kinder – befreit sein, für sie wird der Anspruch nicht erhoben bzw. wird bei ihnen davon ausgegangen, dass es nicht gelingt. Zwischen den andere Kindern besteht eine binäre Unterscheidung: jene Kinder, die im Unterricht mitkommen und jene, denen dies nicht gelingt. Die letztgenannte Gruppe unterscheidet sich zudem von den Integrationskindern, da für ihre Lern- und Bildungsprozesse andere Maßstäbe und pädagogische Zuständigkeiten bestehen. Eine wiederkehrende Begründung der Lehrerinnen hierfür sehen sie aufseiten der nicht-gewährten außerschulischen Nachhilfe. Die „Kinder aus dem Niemandsland“ spitzt diese Orientierung auf wörtlich-begrifflicher bzw. metaphorischer Ebene zu.

Die Orientierung innerhalb der Passage deutet ein Verständnis von persönlichem Pech oder Schicksal an, das die „Kinder aus dem Niemandsland“ zu erleiden oder erdulden haben. Die Lehrerinnen empfinden zwar Empathie für die Kinder, jedoch keine Zuständigkeit Verantwortung für ihre Bildungsprozesse. Die Situation der Kinder kann aus der Perspektive der Lehrerinnen nur durch außerschulische Unterstützung und einen rechtlichen Anspruch auf diese kompensiert werden. Auf beides haben die Lehrerinnen keinen Einfluss. Die Lehrkräfte orientieren ihre Überlegungen von Lernprozessen im Sinne eines unterrichtlichen Mitkommens an und in schulrechtlichen Kategorien. Diese Vorstellung spiegelt die Struktur des Sortierens und der Zuordnung im deutschen Schulsystem wider, wenn auch nicht in schultypenbezogener Hinsicht, so doch bezogen auf spezifische Förderangebote. Die darin enthaltene Norm findet sich im Unterricht in Lernstandserhebungen wieder. Dort, wo Eltern ihre Kinder nicht unterstützen können bzw. die familiäre Unterstützung nicht zu der schulischen Erwartung passt, sollte die Gesellschaft dies durch zusätzliche Unterstützung übernehmen. Darin ist die Orientierung enthalten, dass die Kinder zur Schule – und den in ihr durchgeführten Lernstandserhebungen – passen sollen. Die Differenz, die für die Lehrkräfte leitend in der Betrachtung ihrer Schülerinnen und Schüler ist, liegt in der Relation zu dieser gesetzten Norm und der je individuellen Möglichkeit der Kinder, sie zu erreichen.

Der negative Gegenhorizont bleibt unausgesprochen und orientiert sich dennoch an einer Verantwortung für die „Kinder aus dem Niemandsland“ durch die Lehrerinnen der Schule selbst. Hier scheint implizit die Anrufung einer Ressourcenproblematik deutlich zu werden. Der negative Gegenhorizont liegt eigentlich in der Bewältigung der Schwierigkeiten und Beurteilungsproblematik, die mit der verbundenen Situation einer erwarteten Überlastung – wenn dies auch nur implizit so geschlossen werden kann – einhergeht. Offenbar wird die „besondere Förderung“ der Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf auch durch entlastende Lernzielbefreiung bewältigt. In ihrer eigenen Unterrichtsgestaltung auf die Kinder einzugehen, stellt eine Kontrastfolie zur Delegation der Verantwortung an außerschulische Instanzen dar. Ihre unterrichtliche Realisierung ist wesentlich am positiven Horizont ausgerichtet. Ein Weg, der beinhaltet, dass eine Kinder „ins Niemandsland“ verloren gehen.

Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift für Inklusion Online
http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/65/65

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