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Die Hauptschule und der Übergang an die Hauptschule im Orientierungsrahmen der Schüler – eine erste Kontrastierung

Mit den Fällen von Michelle und Adam sind – zumindest für relevante Bereiche – maximal kontrastierende Eckfälle im Blick. Der Fall Peter kann – da die Fallstudie noch nicht gänzlich abgeschlossen ist – lediglich als Ausblick mit einbezogen werden. Diese Kontraste sollen für die folgenden Dimensionen, die für den individuellen Bildungsrahmen besonders relevant sind, herausgearbeitet werden:

– den Verlauf der Schulkarriere;
– die antizipatorische Bedeutung und die Ankunft an der Hauptschule;
– die familiäre Bildungsorientierung und -unterstützung aus der Sicht der Kinder;
– das Bewältigungs- bzw. Enaktierungspotential und die Deutung von schulischem Erfolg und Misserfolg;
– den Stellenwert der Schule im individuellen Orientierungsrahmen;
– sowie abschließend für die prognostischen Hypothesen des weiteren Verlaufs der Schulkarriere auf der Grundlage einer ersten vorläufigen Typenbildung.

1. Der Verlauf der Schulkarriere:

Für Adam ist die Grundschulkarriere bereits durch erhebliche Einbrüche gekennzeichnet. Bereits zu Beginn der Grundschule bestehende Probleme spitzen sich durch eine langwierige und fortdauernde Erkrankung (Epilepsie) zu und führen, in Folge damit einhergehender umfassender Schulversäumnisse, zur Wiederholung in der zweiten Klasse. Auch im Anschluss daran sind die Schulleistungen Adams – trotz großer Anstrengungen – nicht zufriedenstellend und er ist im unteren Leistungsbereich der Klasse angesiedelt. Auch nach dem Übergang zur Hauptschule verläuft seine Schulkarriere mit weiteren schlechten Noten und der Drohung eines weiteren schulischen „Abstiegs“ in die Sonderschule in einer weiter absteigenden und von neuem Scheitern bedrohten Linie. Demgegenüber kann die Schulkarriere Michelles, obwohl auch sie mit der Klassenwiederholung in der zweiten Kasse einen Bruch in ihrer Grundschulkarriere aufweist, eher als eine aufsteigende Stabilisierungskarriere verstanden werden. Denn im Anschluss daran kommt es zu einer Verbesserung ihrer Noten (von 5 und 6 auf 3 und 4), auch wenn ihr Ziel, zumindest einmal eine Zwei in einem Hauptfach zu schreiben, auf der Grundschule von ihr nicht erreicht werden kann. Diese Verbesserung erzielt sie aber nach dem Wechsel auf die Hauptschule, so dass der Beginn der Hauptschulzeit für sie mit weiteren Leistungssteigerungen einher geht. Obwohl der Ausgangspunkt – die Klassenwiederholung – für beide Schüler somit ähnlich ist, und sie beide in die Hauptschule einmünden, entwickeln sich daran anschließend ihre Schulkarrieren – einmal im Sinne einer absteigenden Versagenskarriere und einer aufsteigenden Stabilisierungskarriere – deutlich auseinander.

2. Die antizipatorische Deutung des Übergangs und der Hauptschule sowie der Ankunft in der Hauptschule:

Für die Erwartungen an und die Antizipation der Hauptschule im individuellen Bildungsrahmen von Adam und Michelle lassen sich noch stärkere Kontraste feststellen, als für den Verlauf ihrer Schulkarriere. Für Adam repräsentiert die Hauptschule den negativen Gegenhorizont im bildungsbezogenen individuellen Orientierungsrahmen schlechthin. Gegenüber der zumindest angestrebten Realschule, erscheint die Gesamtschule – als Schule, die verschiedene Abschlussmöglichkeiten eröffnet – als zweite Wahl und die Hauptschule als letzte Wahl überhaupt bzw. als Bildungsort, der als letzte Möglichkeit bleibt und der aufgezwungen ist. Demgegenüber repräsentiert für Michelle die Hauptschule jene Schulform, die „näher dran“ ist und die eher dem positiven Gegenhorizont in ihrem individuellen Bildungsrahmen entspricht, auch wenn sie die Möglichkeit eines Wechsels in die als höherwertige Bildungseinrichtung wahrgenommene Realschule und die Orientierung an einem guten Schulabschluss im Blick behält, den sie – verbürgt über die Schullaufbahn ihres Bruders – aber auch als eine Option begreift, die sie über die Hauptschule realisieren kann. Beide spannen die Optionsbreite der für sie möglichen Schulen also einerseits ähnlich auf – zwischen Realschule, Gesamtschule und Hauptschule – das Gymnasium scheint für beide als Option außer Reichweite zu liegen. Andererseits erhalten die Hauptschule und die Realschule bei beiden sehr unterschiedliche Bedeutungen und Wertungen: Bei Michelle scheint die Hauptschule als die „nächstliegende Schule“ das Selbstverständliche ihres Orientierungsrahmens zu bilden, jene Schule, auf die sie sich komplikationslos als das Vertraute beziehen kann („ich freu mich auf de haupt“). Dies zeigt sich vor allem auch darin, dass sie die Hauptschule – obwohl Michelle diese Schule nicht von innen kennt – über die dort als vertraute Peers der außerschulischen Freizeit (insbesondere eine Freundin) anwesenden Schüler, als bereits vertraute Schule entwirft, worin sich zugleich auch die hohe Bedeutsamkeit der Peers für das Erleben von Schule zeigt. Und sie wünscht sich, noch auf der Grundschule, dass sie möglichst schnell und direkt an die Hauptschule wechseln könnte. Ein sehr positiver Bezug auf die Hauptschule, auch wenn darin mitschwingt, die ungewisse Wartezeit des Übergangs minimieren zu können. Demgegenüber erscheint – obwohl sie als die optionsreichere und höheren Status eröffnende Schule bewertet wird – die Realschule eher als das Unvertraute, Fremde. Für Adam repräsentiert demgegenüber die Realschule das anvisierte und selbstverständlich Erwartbare, während die Hauptschule als völlig negativ bewerteter und gefährlich klassifizierter Bildungsraum von ihm antizipiert wird. Dies dokumentiert sich auch darin, dass er die Hauptschule auch als einen für ihn bedrohlichen Peerraum entwirft, in dem er verstärkt Opfer von Angriffen werden könnte und in dem Gefahr und Gewalt zu erwarten sind. Während für Adam der Übergang zur Hauptschule somit als Ankunft im negativen Horizont seines individuellen Bildungsrahmens zu kennzeichnen ist, kann für Michelle eher davon gesprochen werden, dass sie in der Hauptschule im vertrauten, positiven Horizont ihres Bildungsrahmens ankommt, auch wenn eine schulische Statustransformation zur Realschule als durchaus positiv konturierter Möglichkeitsraum offen gehalten wird. Die Deutung des vollzogenen Übergangs steigert nun die Variante des Ankommens im positiv Vertrauten: Michelle deutet den ersten Tag bereits in einer kollektiven Wir-Vergemeinschaftung der Schule als eines altvertrauten Peer- und diffusen Beziehungsraums, der auch noch positive Leistungssteigerungen bereit hält (die erste Zwei in einem Hauptfach, die sie je schrieb). Demgegenüber scheinen sich für Adam zwar die zugespitzten Befürchtungen nicht gänzlich zu realisieren. Aber er nimmt auch in der neuen Schule eher eine Rand- und Außenseiterstellung ein und wird vor allem damit konfrontiert, dass seine Leistungen auch an diesem Ort zu den schlechten zählen und das Spektrum der schulischen Optionen nun im Sinne einer Steigerung des negativen Bildungshorizontes um eine weitere Schulform, die Sonder- bzw. Förderschule – die ihm als weiterer schulischer Abstieg drohen könnte – erweitert werden muss.

3. Die familiäre Bildungsorientierung und die familiäre Bildungsunterstützung im Bildungsrahmen der Schüler:

Vorauszuschicken ist, dass wir natürlich – entsprechend der Datengrundlage der Kinderinterviews – die familiäre Bildungsorientierung nur aus der Perspektive des kindlichen Bildungsorientierungsrahmens rekonstruieren können. Aus dieser Perspektive liegen für die familiären Bildungsorientierungen maximale Kontraste zwischen Adam und Michelle vor. Aus der Perspektive Adams erscheint die Familie – besonders der Vater – als sehr stark bildungsorientiert und schulabschlussbezogen. Als bildungserfolgreicher türkischer Migrant (Studium und Ingenieurstätigkeit) ist er auch äußerst stark am Bildungserfolg und an einem guten Bildungsabschluss seiner Kinder orientiert, der zumindest ein mittlerer Abschluss sein soll, an den sich noch alle weiteren Bildungsoptionen anschließen können. Diese starke schulische Bildungsorientierung drückt sich auch im hohen Stellenwert aus, den der Vater aus Adams Perspektive dem Übergang von der Grundschule beimisst und seinen Versuchen, die Einmündung Adams in die Hauptschule zu verhindern, auch wenn dies letztlich misslingt. Hinzu kommt der sehr hohe Stellenwert, den die Schule, die schulischen Leistungen und Noten Adams als Thema in der familiären Kommunikation erhalten sowie die hohe Aufmerksamkeit, die den Hausaufgaben, dem zusätzlichen Üben und dem Engagement Adams für die Schule in der Familie geschenkt wird. In Adams Perspektive erscheint die Familie, insbesondere der Vater, damit nicht nur als hoch bildungs- und schulambitioniert, sondern diese Bildungsambitionen sind für ihn mit einem starkem Leistungsdruck, mit hohen Anforderungen an zusätzliches Üben und zeitliche Investitionen in häusliche Schularbeit bis in den Abend hinein verbunden. Hinzu treten hohe Leistungsansprüche, denen Adam nicht zu entsprechen vermag und angesichts immer wieder erzielter schlechter Noten daran anschließende starke Enttäuschungen des Vaters, verbunden mit Vorwürfen und gesteigerten Forderungen an häusliches Üben für die Schule, das vom Vater auch kontrolliert und beaufsichtigt wird. In der Familie scheint sich – so Adams Darstellung – fast alles um seine schulische Situation und seine Schulleistungen zu drehen. Das familiäre Bildungsmilieu tendiert somit in Richtung einer „Überanpassung der Familie an die Schule“ bzw. einer Konstellation, in der die „Familie als verlängerter Arm der Schule“ erscheint (vgl. Tyrell 1987, Nittel 1992), also eine Konstellation, in der die diffusen und emotionalen Eltern-Kind-Beziehungen sehr stark über die spezifischen und universalistischen Leistungen und Noten strukturiert werden. Demgegenüber tritt in den Erzählungen Michelles die Familie als ein an Bildung und Schulabschlüssen orientierter Lebenszusammenhang nur wenig in Erscheinung. Dies dokumentiert sich darin, dass schulische Bildungs- und Leistungsbelange kaum ein Thema in der Familie (Mutter, vier Geschwister und die beiden Kinder der ältesten, drogensüchtigen Schwester) sind und Michelles Mutter – vom Vater, so Michelle, „haben wir uns schon lange getrennt“ – für die Übergangsentscheidung als irrelevant dargestellt wird. Michelle hat den Übergang zur Hauptschule gewissermaßen für sich entschieden. Allenfalls – etwa angesichts ihrer Klassenwiederholung oder besonders schlechter Noten (z.B. einer Sechs) – berichtet Michelle darüber, dass sie dann von der Mutter dazu aufgefordert würde sich stärker anzustrengen, wobei sie dabei letztlich auf sich selbst verwiesen ist. Hinweise auf familiäre Unterstützung und Förderung der schulischen Bildungsprozesse Michelles finden sich kaum. Eher schon schuldistanzierte Haltungen, wie Michelle etwa am Beispiel ihres Onkels verdeutlicht, der ihr – angesichts ihrer positiven Haltung gegenüber der Schule zu Beginn ihrer Schulzeit – prognostiziert, dass sich das wohl bald ändern werde. Michelle scheint aus ihrer Perspektive damit in einer Familie aufzuwachsen, in der die Schule, die inhaltlichen Lernprozesse, die schulischen Leistungen und Schulabschlüsse eine geringere Relevanz besitzen. Zwar finden sich keine Hinweise darauf – dass wäre sicherlich ein Extrempol familiärer Schuldistanz und -fremdheit – dass ihre Mutter oder andere Familienmitglieder ihre Schulkarriere torpedieren würden, was sich auch darin dokumentiert, dass ihrem Bruder der Weg zur Realschule durch die Familie nicht verstellt wird. Aber Hinweise auf stärkere positive familiäre Schulbezüge, umfassendere familiäre Unterstützung und Förderung beim häuslichen Lernen für die Schule, familiäre Anreize und Motivierungen zu höheren Bildungsabschlüssen fehlen weitgehend. Damit kann die familiäre Bildungsorientierung, wie sie Michelle in ihren Erzählungen entwirft, als eine Art modernisierte familiäre Schuldistanz und Bildungsferne bestimmt werden: Schulische Anstrengungsbereitschaft und die Bedeutung von Schulabschlüssen werden punktuell und deklamatorisch-appellativ geäußert, sind aber eingebettet in eine grundlegende ausgeprägte praktisch-interaktive Distanz gegenüber schulischen Belangen und Unterstützungsleistungen in der Familie.

4. Das Enaktierungspotential und die Bewältigung und Deutung von Erfolg und Versagen:

Hier geht es erstens darum, über welche Formen der Auseinandersetzung mit und der Einflussnahme auf das Prozessieren der Schulkarriere und ihrer schulischen Situation die Schülerinnen und Schüler verfügen bzw. ob sie diese als aktiv gestaltbare oder eher als wenig beeinflussbare und ihrer Gestaltung entzogene sehen. Zweitens ist zu fragen, wie sie Erfolg und Versagen deuten, bewerten, verarbeiten und welche Erklärungen und Begründungen sie dafür entwerfen. Auch hier zeigen sich zwischen Adam und Michelle deutliche Unterschiede. Adam nimmt, nach einem durchaus zufriedenstellenden, aber auch nicht optimalen Auftakt in der Grundschule, seine Schulkarriere als Verschlechterung wahr. Diese Verschlechterung erklärt und deutet er durchgängig durch „seine Krankheit“, die ihn wie ein Schicksalsschlag ereilt hat und deren unberechenbaren Begleiterscheinungen er sich ausgeliefert sieht. So fungiert seine Erkrankung als entscheidende Erklärung und Begründung für sein schulisches Scheitern und das Zurückbleiben hinter den eigenen und den familiären Leistungsanforderungen. Er hat wegen der langen Krankenhausaufenthalte viel versäumt, musste deswegen ein Jahr wiederholen, kann sich wegen seiner Krankheit nicht lange konzentrieren, lässt sich zu leicht ablenken und bekommt beim Lesen Augenbeschwerden (z.B.: „is mein mh hausaufgaben schlechter geworden wegen mein krankheit“). Seine Krankheit und sein schulisches Versagen werden so ursächlich miteinander verknüpft. Und auch dann, wenn er sehr viel geübt hat, ist der Erfolg in Klassenarbeiten unsicher, weil er gerade in diesen Leistungssituationen krank wird: „ich nehm jetzt oft vierer vierer weil , ähm isch weil isch ((ausatmen)) krank werde in der äaä arbeit immer“. Damit aber sind bei Adam aktive Enaktierungspotentiale wie Üben, vermehrte Zusatzarbeit für die Schule, stärkere Anstrengung keine Garanten für eine Verbesserung. Vielmehr ist deren Erfolg prinzipiell fraglich und von den unbeeinflussbaren Krankheitsphänomenen abhängig. Letztlich kann er seine Schulkarriere damit nicht aktiv gestalten, sondern erleidet unverschuldet und passiv immer wieder das Zurückbleiben hinter Leistungsansprüchen. Er entwirft sich als Opfer der unberechenbaren Krankheit, die als Ursache seiner schulischen Leistungsverschlechterung und seines Versagens erscheint und die gleichzeitig alle Versuche, sich verbessern zu wollen und erfolgreich zu werden, zunichte macht – ein Teufelskreislauf, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Als grundlegenden Bewältigungsmechanismus für diese äußerst belastenden Versagenserfahrungen zeigen sich formelhaft anmutende Formulierungen, die am Ende teils dramatischer Missachtungs- und Degradierungsszenen wie magische Beschwörungsformeln gesetzt werden und die emotionale Dramatik in Form einer verkennenden Selbstillusionierung verkehren: „sonst , is alles okay…“ oder „sonst alles war ä sehr schön“. Michelle versteht sich demgegenüber als eine Schülerin, die im Verlauf ihrer Grundschulzeit besser geworden ist („und ich finde ich hab äh , ich bin gut geworden“). Diese Verbesserung schreibt sie durchaus sich selbst zu, also einem aktiven Umgang mit schulischen Anforderungen. Von daher begreift sie sich selbst auch als eine aktive Gestalterin ihrer Schulkarriere, die sie nicht einfach erleidet oder der sie ausgesetzt ist, sondern auf die sie Einfluss nehmen kann. Derartige aktive Enaktierungspotentiale liegen für sie in Form von vermehrter Anstrengung, regelmäßigem Erledigen der Hausaufgaben und Aufmerksamkeit im Unterricht vor. Auf Zeugnisnoten und Klassenarbeiten, mit denen sie nicht zufrieden ist, bezieht sie sich in der Form, dass sie sich hier noch vermehrt anstrengen muss: „beim rechtschreiben bin ich hab ich ne fünf auf n zeugnis //mhm// da muss ich mich anstrengen“. Damit hebt sie auch an jenen Stellen, an denen sie schulischen Misserfolg thematisiert, hervor, dass sie es durch eigene Anstrengung in der Hand hat, auch dort erfolgreicher zu werden. Das ist auch ihre Gesamtperspektive für die Hauptschule: „auf jeden fall streng ich mich ganz doll an //mh// ((da)) ich auch en gutes n guten ,abschluss kriege’ (gehobene Stimme)“. Damit schreibt sie sich auch für die zukünftige Schulkarriere zu, dass sie selbst – bei entsprechender Anstrengungsbereitschaft – ihre schulische Situation weiter verbessern und einen guten Schulabschluss erreichen kann. Diese positiven Enaktierungspotentiale werden aber auch durch gegenläufige Äußerungen relativiert: So verschiebt sie die Hausaufgaben gerne in den Abend und hofft – je weiter die Schullaufbahn voranschreitet – auch weniger für die Schule arbeiten und irgendwann gar keine Hausaufgaben mehr anfertigen zu müssen.

5. Der Stellenwert von Schule und schulischer Bildung im individuellen Orientierungsrahmen der Schülerinnen und Schüler:

Auch wenn wir – wie skizziert – nicht den gesamten individuellen Orientierungsrahmen der Schülerinnen und Schüler rekonstruieren, sondern uns vor allem auf den schul- und bildungsbezogenen Teil des Orientierungsrahmens beschränken, lassen sich Aussagen darüber treffen, welche Relevanz die Kinder der Schule, dem schulischen Lernen und den Schulleistungen in ihrem Lebenszusammenhang geben. Für Adam sind – im Zusammenhang der hohen familiären Bildungsambitionen und Leistungsansprüche – das schulische Lernen und insbesondere seine Schulleistungen von zentraler Bedeutung. Die Schule mit ihren Anforderungen und Leistungsansprüchen stellt somit einen zentralen Kernbestandteil seines individuellen Orientierungsrahmens dar. Eine ähnlich hohe Relevanz gibt Adam in seinen Erzählungen und Ausführungen lediglich noch seiner Krankheit und den damit verbundenen Erleidenserfahrungen und daraus resultierenden Konsequenzen, etwa seiner damit in Zusammenhang gebrachten Außenseiterposition und Missachtungen im Peerkontext. Umso gravierender muss es für Adam sein – bei dieser Zentralstellung von Schul- und Leistungsbezug für seinen Orientierungsrahmen –, dass er seine schulischen Leistungen und damit auch sich im negativen Gegenhorizont seines Orientierungsrahmens verorten muss. Er scheitert gewissermaßen im zentralthematischen Bereich seines Selbst. Demgegenüber ist die Relevanz des schulischen Lernens und der schulischen Leistungen für Michelle längst nicht so zentral. Schulische Bildung und Leistung sind für Michelle zwar nicht unbedeutend, wie ihre Äußerungen zur Bedeutung guter Noten, guter Schulabschlüsse und der Vorsatz, sich in der Hauptschule noch stärker anstrengen zu wollen, zeigen. Aber die Schule erscheint bereits im ersten Interview, deutlicher noch im zweiten, vor allem als ein Lebensbereich der diffusen Beziehungen und der Peerwelt. Hierzu liegen detaillierte und differenzierte Erzählungen vor, während die schulischen Inhalte, die Schulleistung und die schulischen Anforderungen nicht nur weniger Platz einnehmen, sondern auch einen deutlich geringeren Detaillierungsgrad aufweisen und manchmal geradezu beiläufig eingeführt werden. Gegenüber der Schule scheint für Michelle vor allem der Kontakt zu Gleichaltrigen und Freunden, die Welt der Peers zentralthematisch zu sein und in der Bedeutung für ihr Selbst und ihre Lebenszusammenhänge der formellen, unterrichts- und lernbezogenen Seite der Schule den Rang abzulaufen. Die Schule wird immer dann zentral bedeutsam, wenn sie als ein Ort diffuser Vergemeinschaftung – etwa in der Darstellung des ersten Schultages an der Hauptschule – bzw. als Ort affektiver Beziehungen und erlebnishafter Peerinteraktionen, wie etwa in vielen Schilderungen zur Grundschulzeit, dargestellt werden kann. Die Schule wird somit in ihrem Orientierungsrahmen dann zentralthematisch, wenn sie als das Andere der Schule in der Schule in Erscheinung tritt. So erhält die formale status- und leistungsbezogene Seite der Schule, aber auch die inhaltliche Seite des schulischen Lernens gegenüber der Welt der Peers und der Peeraktivitäten eher einen nachgeordneten Stellenwert. Es scheint diese Welt der Peers und deren Aktivitäten und die diffuse Nahraum bezogene Vergemeinschaftung zu sein, die das Zentrum ihres individuellen Orientierungsrahmens repräsentiert, in dem die Schule immer dann besonders positiv konnotiert werden kann, wenn sie als deren Bestandteil erfahren wird.

6. Krisen- und Chancenpotentiale – eine prognostische Hypothese für den weiteren Verlauf der Schulkarriere auf der Grundlage eines ersten Versuchs der Typenbildung:

Hier soll ein erster, vorläufiger Versuch – auch unter einem knappen Einbezug des Falles Peter – unternommen werden, auf dem Hintergrund von Chancen- und Krisenpotentialen und einer vorläufigen Typenbildung eine prognostische Hypothese für den weiteren Verlauf der Schulkarriere zu entwerfen. Im Fall von Adam verbinden sich zentrale Problemfelder und gravierende Belastungen so miteinander, dass sich hier Krisenpotentiale bündeln und Chancen nur mit einer Veränderung seiner Situation gegeben sind. Bildung und schulische Leistung sind in Adams Orientierungsrahmen und im familiären Lebenszusammenhang zentral und damit für sein Selbst zentralthematisch. In diesem Kernbereich seines Orientierungsrahmens genügt er den Leistungs- und Bildungsansprüchen nicht und weist eine absteigende Versagenskarriere auf. Damit muss er sich im negativen Gegenhorizont seines eigenen Bildungsorientierungsrahmens verorten, mit der daraus resultierenden Konsequenz der Entwertung und Beschämung. Diese betrifft nicht nur Adam selbst, sondern umfasst alle Lebensbereiche: In den Augen der signifikanten Anderen (Eltern), der Lehrer und der Peers genießt Adam keine Anerkennung, widerfahren ihm Missachtungen, Entwertungen und stigmatisierende Ausgrenzungen. Indem Adam diese Situation mit der Zentralformel und Fokussierungsmetapher „meine Krankheit“ erklärt, damit eigene aktive Handlungspotentiale negiert und sich passiv als erleidendes Opfer ohne Enaktierungspotentiale entwirft, gibt es scheinbar keine aktive, selbstbestimmte Möglichkeit, dieser Versagens- und Opferdynamik zu entkommen. Von daher geht ein immenser Druck auf den Orientierungsrahmen von Adam aus: Entweder muss Adam sich immer deutlicher im negativen Gegenhorizont seines Bildungsorientierungsrahmens verorten, mit den Konsequenzen einer immer grundlegenderen Entwertung und Beschämung seines Selbst. Oder der Bildungsorientierungsrahmen muss selbst transformiert und in seiner Relevanz für den individuellen Orientierungsrahmen relativiert werden, was eine deutliche Zurücknahme der Leistungsansprüche und Bildungsambitionen impliziert. Der Fall Adam könnte somit als Typus der absteigenden Versagenskarriere eines „missratenen Sohnes“ bezeichnet werden (vgl. Schmeiser 2003, 2004). Also ein Schüler, der die hohen Bildungs- und Schulleistungsansprüche der Eltern enttäuscht, unter den elterlichen Ansprüchen bleibt und eine Schulkarriere mit Versagenstendenzen aufweist. Diese geht mit tiefreichenden Belastungen, Krisen und Entwertungen des eigenen Selbst einher. Im Übrigen ein Typus, der an Ergebnisse von Fend anschlussfähig ist, der bei jenen Jugendlichen, die unter den hohen elterlichen Bildungsambitionen und Schulabschlüssen bleiben, die höchste psychosoziale Problembelastung seines Samples fand, was dort aber – aufgrund der kleinen Fallzahl – statistisch nicht weiter ausgewertet werden konnte (vgl. Fend 1997, 2000). Dabei deutet sich hier mit dem hohen Stellenwert der Krankheit, die als unbeeinflussbare, schicksalshafte Größe erscheint, eine Fallspezifik dieses Typus an. Sollte sich an den grundlegenden Konstellationen, wie sie für diesen Fall herausgearbeitet wurden, nichts Gravierendes verändern, ist von einer weiter äußerst krisenhaft verlaufenden Schulkarriere mit hohen weiteren Scheiterns- und Versagensrisiken auszugehen. Chancen- und Transformationspotentiale könnten sich daraus ergeben, dass der sich andeutende Zirkel von überfordernden Leistungsansprüchen und damit einhergehenden Entwertungen, daraus resultierendem hohem psychischen Druck sowie einer Verstärkung der Krankheitsphänomene (Epilepsie) aufgebrochen werden könnte und damit Entlastungen und aktive Enaktierungspotentiale entstehen könnten.

Für Michelle ist die Ausgangslage eine andere: Hier liegen, auf der Grundlage der Verbesserung ihrer Leistungen und einer aufsteigenden Stabilisierungsschulkarriere, die sie durch eigene Anstrengungsbereitschaft und aktive – wenn auch nicht ganz eindeutige Enaktierungspotentiale – als aktiv zu gestaltende entwerfen kann, vor allem Chancenpotentiale vor, die sich auch beim Übergang in die Hauptschule mit einer anfänglichen weiteren Leistungssteigerung fortsetzen. Dabei unterliegt sie – im maximalen Kontrast zu Adam – im familiären Kontext gerade keinem überfordernden Leistungsdruck, sondern findet dort eine moderate schuldistanzierte Haltung vor, die ihr aber keine Hindernisse für ihre Schulkarriere in den Weg legt. In ihrem individuellen Orientierungsrahmen besitzen damit Schule und Bildung durchaus keine geringe Bedeutung, werden aber durch die zentralthematische Relevanz der Nahraum orientierten, vertrauten Peerorientierung und Vergemeinschaftung dominiert und relativiert. Michelle könnte vorläufig somit als Typus einer „uneindeutig-ambivalenten Transformation der Schuldistanz in eine aufsteigende, statusprogressive Schulkarriere“ bezeichnet werden. Uneindeutig deswegen, weil neben den damit einhergehenden Chancen einer weiter aufsteigenden und den Realschulabschluss in den Blick nehmenden Schulkarriere auch statusbegrenzende und tendenziell selbstselektive Mechanismen wirksam bleiben („haupt find ich irgendwie besser“) und weil sie mit der Hauptschule auf das Vertraute und „Näherliegende“ orientiert, das eher in der Tradition der Schul- und Bildungsferne steht. Zudem ist mit der dominanten Peer- und Vergemeinschaftungsorientierung und der starken positiven Besetzung der Schule als Raum der Peeraktivitäten eine starke Konkurrenz zur Schul- und Leistungsorientierung in ihrem Orientierungsrahmen gegeben. Für Michelle dürfte damit insbesondere der Verlauf der Schulkarriere zwischen der sechsten und der achten Klasse von entscheidender Bedeutung für ihre weitere Schulkarriere sein. Entweder ergibt sich in diesem Zeitraum eine Balancierung und ein Ausgleich zwischen ihrer dominanten Peer- und Vergemeinschaftungsorientierung und den formellen, auf Schulleistung und Schulabschlüsse bezogenen Haltungen und Bereichen ihres Orientierungsrahmens oder aber die Peerorientierung kann, vor allem wenn sie die Gestalt schuldistanzierter und stärker werdender Peeraktivitäten annimmt, zu einer Bedrohung der insgesamt bislang als aufsteigende Stabilisierungskarriere gefassten Schullaufbahn führen.

Der Fall Peter kann – das sei hier im Sinne einer vorsichtigen und vorläufigen Typenbildung lediglich angedeutet – weit deutlicher als Michelle als Typus eines schulfremden Schülers gekennzeichnet werden. Die Schule erscheint – in seinen stockenden, von langen Pausen gekennzeichneten Darstellungen, in denen er auf viele Aufforderungen, etwas darzustellen oder zu erzählen, schweigt – als ein eher fremder Raum, in dem Erfolge ausbleiben und, in dem er, obwohl Peter keine Klasse wiederholen muss, stets von Klassenwiederholungen bedroht bleibt. Insgesamt zeigt sich bei ihm die grundlegende Haltung, dass ihm die Versprachlichung von Welt-, insbesondere aber Selbstverhältnissen, fremd ist, große Schwierigkeiten bereitet und er sich nur in einer minimalistischen Form, wenn überhaupt, sprachlich äußert. Dies zeigt sich dann besonders deutlich, wenn es sich um Thematisierungen handelt, die auf Schwierigkeiten und Probleme zielen, die er letztlich durch Schweigen „löst“. Darin aber kommt auch zum Ausdruck, dass er zur vornehmlich sprachlichen, symbolischen und schriftlichen Welt der Schule, in einem starken Kontrast- und Spannungsverhältnis steht. Im zweiten Interview werden die Bezüge auf die Schule positiver und stärker („ich finds finds hier eigentlich ganz gut“). Diese positive Bezugnahme gelingt vor allem dort, wo die Schule als Raum der Maschinen, des Tuns und des Technischen in Erscheinung tritt: In Form von Experimenten und Technischem (Stromkreislauf), von konkret Anschaulichem (Katzenskelette) oder vom kommenden Umgang mit Maschinen (Nähmaschinen). Vom ersten Tag in der neuen Hauptschule sind ihm vor allem die Gänge durch die technischen und „Maschinen“-Räume der Schule in Erinnerung: „ja wir sind durch die ganzen chemieräume und , durch die nähmaschinenräume ‚äähööö’ (ausatmend) warn wir in den physikräumen in den klassenräumen…“. Peters Orientierungsrahmen scheint somit vor allem über ein praktisches, technisches, maschinelles Tun, eine manuelle, handgreifliche Praxis bestimmt zu sein. Von daher bildet er einen Typus der von stetem Scheitern bedrohten Schulkarriere auf der Grundlage einer prinzipiellen Fremdheit der Welt der Schule zu seiner grundlegenden Orientierung am praktischen, handfesten und maschinellen Tun. Damit erinnert er an Schüler, die vor dem Hintergrund einer familiären und milieuspezifischen Lebenswelt in der das praktische Tun und Machen der körperlichen Arbeit bestimmend ist, der schulischen Welt fremd bleiben (vgl. z.B. Willis 1979) oder an den schulentfremdeten Typus bei Fend (1980, 1997). Von diesem unterscheidet sich Peter allerdings dadurch, dass bei ihm keine Hinweise darauf vorliegen, dass er in eine schuldistanzierte Peerkultur eingebettet ist, in der er wiederum Stabilisierung und Anerkennung erhält. Diese kompensatorische Stabilisierung entfällt bei ihm bislang noch. Vor dem Hintergrund dieser Fremdheit zwischen der symbolischen schulischen und der praktischen eigenen Welt bleibt seine Schulkarriere auch weiterhin von Scheitern und Versagen bedroht. In dem Maße jedoch, wie es der Schule gelingen könnte, an diese praktischen und maschinellen Orientierungen Peters anzuknüpfen, und dies mit der Aufforderung zur Versprachlichung zu verbinden, wären auch Chancen für eine Stabilisierung seiner Schulkarriere und einen positiveren Bezug auf die Schule gegeben, verbunden mit Erfahrungen der Anerkennung im Raum der Schule, die ihm bislang fehlen (vgl. den Fall Tim in Combe/Helsper 1994, Wiezorek 2005).

Literatur:

Fend, H. (1997): Der Umgang mit Schule in der Adoleszenz. Aufbau und Verlust von Lernmotivation, Selbstachtung und Empathie. Bern/Göttingen/Toronto/Seattle

Fend, H. (2000): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Opladen

Nittel, D. (1992): Gymnasiale Schullaufbahn und Identitätsentwicklung. Weinheim

Schmeiser, M. (2003): “Missratene” Söhne und Töchter. Verlaufsformen des sozialen Abstiegs in Akademikerfamilien. Konstanz

Schmeiser, M. (2004): Sozialer Abstieg in akademischen Familien. Lebensverlaufsformen, Geschwisterpositionen und familiäre Generationsbeziehungen. In: Szydlik, M. (Hrsg.): Generation und Ungleichheit. Wiesebaden, S. 214-243

Tyrell, H. (1987): Die „Anpassung“ der Familie an die Schule. In: Oelkers, J./Tennorth, H.E. (Hrsg.): Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie. Weinheim/Basel

Willis, P. (1979): Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule. Frankfurt a.M.

Wiezorek, C. (2005): Schule, Biographie und Anerkennung. Eine fallbezogene Diskussion der Schule als Sozialisationsinstanz. Wiesbaden

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