Falldarstellung

(Aus einem Interview mit einer Grundschullehrerin)

[1] „ja also ich hab ja in meiner Klasse im Moment ein ganz schwieriges Kind der wirklich ganz flippig ist das ist der der Ritalin kriegt aber trotzdem noch schwierig ist und jetzt ist es eben so dass er oftmals immer noch sehr wenig entspannt in die Schule kommt sondern wenn er schon reinkommt dann schon so singt und rumtrallatet dann weiß ich schon also heute wird’s wieder schwierig wenn er ruhig rein kommt sein Ranzen mitbringt meistens lässt er ihn an den schlechten Tagen schon draußen wenn er den Ranzen dann hinstellt dann weiß ich schon ja heute ist ein ruhiger Tag

[2] aber wenn er so flippig ist dann denk ich jetzt hab ich eine Chance bevor der Unterricht losgeht unsere Kinder kommen zehn Minuten vor acht rein dann hol ich ihn mir in die Leseecke und sag komm Kevin wir beide lesen jetzt zusammen und dann nehm ich ihn auf den Schoß das liebt er schon und dann gucken wir uns zusammen ein Bilderbuch an ich les es ihm vor und er darf dann auch mal n Satz lesen und diese zehn Minuten die wirken sich manchmal so toll aus also ich würde sagen zu 80% und das er an den Tagen denn wirklich weiter arbeiten kann und zwischendurch kommt und sagt du das war ganz schön mit dem Bilderbuch machen wir das nachher in der Pause weiter und wenn ich denn sag ja doch mal gucken was du jetzt mir zeigst wie du dich verhältst geht nicht dass ich nur ganz viel f/dir gebe du musst mir jetzt auch zeigen dass du dich anstrengen kannst und mit diesen winzigen Druck den er aber braucht sonst macht er gar nichts überstehen wir die Tage ganz gut

[3] also wichtig ist für mich dass ich an die Kinder herankomme an die schwierigen dass ich sone emotionale Ebene finde wenn mir das gelingt dann geht der Tag gut und geht dann auch mit Kevin gut und wenn mir das aus der Hand gleitet weil vielleicht ne Mutter da steht die mit mir was besprechen will und ich nicht dazu komme und er hampelt und hampelt schon im Morgenkreis weiter wenn wir dann alle in der Runde sitzen und die Kugel geht oder der Stab geht je nach dem was haben wir, machen jeden Morgen einen Morgenkreis und wenn er da denn nur reinbrüllt oder laut Lieder singt dann mach ich schon so dass ich sag Kevin ich glaube die Regeln (…) die hängen auch da wo wir immer den Morgenkreis machen die wir gemeinsam uns erarbeitet haben und da steht auch drin im Morgenkreis bin ich still und höre zu und warte bis ich an der Reihe bin ich darf auch fragen aber ich muss die anderen ausreden lassen und darf nich dazwischen reden lassen so und dann wird meistens beschlossen so ich sag was meint ihr Kinder können wir das mit Kevin noch weiter dann sagen sie ne das geht wirklich nicht Kevin dann bitten wir ihn in den Gruppenraum zu gehen dann geht er in den Gruppenraum wenn er n ganz schlechten Tag hat dann donnert er von innen Bauklötze dagegen wenn er wütend ist und wenn es noch einigermaßen geht dann baut er dort still während wir hier Morgenkreis haben und dann kommt er wieder rein wenn es denn mit dem Unterricht losgeht und dann entscheidet sich das noch mal ob es geht oder nicht

[4] und wenn es denn gar nicht geht dann passiert es auch mal dass er den ersten Block also von acht bis um halb zehn im Gruppenraum sitzt dann mach ich’s aller dings so dass ich versuche ihm Arbeiten dann zu geben und ihn noch mal wieder zu motivieren und zu sagen Kevin guck mal die schreiben jetzt gerade das willst Dus nicht auch probieren denn du weißt die Seite musst du schaffen das gehört dazu wir lernen die Schreibschrift wenn du das nicht schaffst dann muß ich mit Mama wieder telephonieren dann musst du das zu Hause nacharbeiten das wär doch blöde manchmal besinnt er sich dann und schreibt weiter und ich schick auch oft n älteres Kind rein das schon fertig ist und sag so du bist jetzt der Co-Pilot oder du bist jetzt die Hilfslehrerin und manchmal geht es dann mit nem Kind ganz gut da reagiert er dann positiv manchmal auch nicht das ist ganz unterschiedlich ja und wenn es eben auch mit dem Kind nicht geht und wenn er weiterhin nur brüllt und Bauklötze durch die Gegend schmeißt was er manchmal auch schafft zwei Stunden lang dann setz ich ihn in der großen Pause zur Sekretärin da hat er so einen kleinen Schreibtisch und dann schreibt er es da nach da schreibt er dann komischerweise“

Interpretation

I. Der „Kontext“ der Geschichte

Das Wort „Kontext“ fordert angesichts seiner ungenauen Bestimmung und seiner umstrittenen Bedeutung in Verfahren hermeneutisch-rekonstruierender Sozialforschung, etwa bei Bohnsack und Oevermann, geradezu dazu heraus, über methodologische bzw. methodische Fragen der Erzeugung von „Protokollen“, wie Oevermann (Oevermann 1995) sagen würde, von Interviews, von Transkriptionen und der Interpretationsverfahren zu sprechen. Ich werde das jetzt aber nicht tun und stattdessen kurz anführen, woher der Text stammt und in welchem – schulpädagogischen – Diskurs er eingebettet sein könnte.

Der Text stammt aus einem „Experteninterview“ mit einer Beratungslehrerin an einer Grundschule in einer deutschen Großstadt, das in Zusammenhang eines Forschungsprojekts mit Studierenden steht.

„Schuldistanziertheit“ und „Schulverdrossenheit“, Regelverstöße einzelner Schülerinnen und Schüler, den Schulbetrieb und den Unterricht störendes Verhalten scheinen an der Tagesordnung, sind jedenfalls verbreitete Phänomene in Schulen aller Schulformen. Und: sie werden geschildert als belastend. Lehrer und Lehrerinnen müssen immer wieder dafür sorgen, dass die Bedingungen der Möglichkeit von Unterricht hergestellt, aufrechterhalten oder wiederhergestellt werden; das vielleicht bekannte Zitat eines Gymnasiallehrers bei Combe/Buchen lautet: „Es ist ständig Kampf, einfach um die minimalen Bedingungen, um überhaupt Unterricht durchführen zu können“ (Combe/Buchen 1996, S. 138).

Um diese Situation zu verändern, werden gegenwärtig in der schulpädagogischen Literatur und – wie erste Hinweise einer Auswertung der in Hamburg erstellten Schulprogramme zeigen – von den Schulen selbst verschiedene Ansatzpunkte vorgeschlagen. Bestandteil vieler Schulprogramme von Gesamtschulen, aber auch in großem Umfange von Gymnasien sind Themen, die in Richtung einer anzustrebenden Verbesserung des Lern- und Arbeitsklimas weisen. Geschehen soll dieses etwa durch Maßnahmen wie die Einführung von Regeln und Ordnungen des Zusammenarbeitens, der Einführung von Ritualen z.B. zur Eröffnung und Schließung von Lernräumen, und Vorgehensweisen zur Konfliktregulierung. Vorgeschlagen werden häufig aber auch die Einführung besonderer Trainings zum Lern- und Arbeitsverhalten, in denen es vor allem um das Erlernen von „Selbsttechniken“, um eine erfolgreiches Selbstmanagement geht, darum sich selbst für das Lernen gut zu organisieren. Nicht zufällig scheint Anlass vielfältiger Störungen in der Schule ein immer wieder diskutiertes Syndrom, das hyperkinetische Syndrom, als Krankheit einer fehlenden bzw. gestörten Selbststeuerung von der entsprechenden Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendärzte charakterisiert (vgl. Döpfner/Fröhlich/Lehmkuhl 2000; Grosse 2003).

II. Die Interpretationsfragen

Es geht in der Interpretation des folgenden Textes nicht um eine Kritik der Lehrenden, sondern um die Analyse der Strukturen von diskursiven Konstruktionsformen, die möglicherweise pädagogische Mythen reformulieren und Auswirkungen auf didaktische Konstruktionen und unterrichtliches Handeln haben bzw. hier relevant werden können.

Ich werde den Text ausführlich interpretieren; allerdings kann auch dabei mein methodisches Vorgehen, in dem die Interpretation der Eröffnung eine zentrale Bedeutung spielt, das sequentiell erfolgt und Texte als rhetorische Verweisstrukturen versteht, nur angedeutet sein. Der Text wird – und das gibt er in gewisser Weise selbst vor – interpretiert im Hinblick

  1. auf die Darstellung/die diskursive Konstruktion eines störenden Schülers, (Hier ist tatsächlich zunächst die textuelle Konstruktion gemeint, nicht ein etwas diffuser Begriff, wie er im Zusammenhang der Diskussion um eine konstruktivistische Didaktik geradezu inflationär gebraucht wird.)
  2. auf das implizit formulierte Lehrerrollenverständnis und
  3. auf ein im Text vorhandenes, sozusagen selbstreflexives Potential im Sinne sich strukturell äußernder Ambivalenzen und im Text aufscheinender Handlungsoptionen.

III. Eine Geschichte über ein schwieriges Kind und einen störenden Schüler

In diesem Text spricht die Erzählerin nicht ein einziges Mal von dem Schüler oder überhaupt von Schülern, also von Personen in einer spezifischen Rolle, der Schülerrolle. Gleich zu Beginn des Textes ist die diffuse Sozialbeziehung von Eltern zu ihrem Kind konnotiert, wenn die Lehrerin erzählt, sie habe ein Kind in ihrer Klasse.

Das Kind hat eine Eigenschaft: es ist schwierig. Es steht hier nicht: ein Kind hat Schwierigkeiten – womit auch immer. Es heißt auch nicht: Ich hab Schwierigkeiten mit dem Kind. Oder die Klasse, die anderen Kinder haben Schwierigkeiten mit dem Kind. Und es heißt nicht: das Kind macht Schwierigkeiten. Ein schwieriges Kind ist vielleicht eines, das sich nicht verhält, wie es sich verhalten soll, anders also als erwartet. Hier wird jedenfalls dem „ganzen“ Kind, dem Kind in seiner Ganzheitlichkeit eine Eigenschaft bescheinigt nicht etwa einem Schüler: „In meiner Klasse ist ein schwieriger Schüler“ wäre auch ein Anfangssatz gewesen.

Andererseits, als eine andere Lesart, könnte in dieser Äußerung stecken: ich hab ein schwieriges Kind, wie ich ein schwieriges Problem, eine schwierige Aufgabenstellung, einen schwierigen Fall zu lösen habe. Es gibt also gleichzeitig den Bezug zu der Sachlichkeit des professionell zu behandelnden Falles. Man könnte hier also zwei vielleicht gegensätzliche Deutungen sehen: einerseits wird eine Art „Entgrenzung“ vorgenommen, nicht der Schüler, sondern das ganze Kind ist angesprochen, andererseits findet eine Art Versachlichung, eine Eingrenzung im Sinne der Definition eines Falles statt.

Der Fall scheint wirklich schwierig zu sein, weil selbst „jetzt“, im Gegensatz zur Zeit ohne das Medikament Ritalin der Schüler „oftmals immer noch“ „sehr wenig entspannt in die Schule kommt“. Warum sollen die Kinder entspannt in die Schule kommen? Welches Bild von Schule wird hier figuriert? Aber, ob das Kind entspannt ist oder nicht – eigentlich könnte das egal sein, wenn dieser Befindlichkeit des Kindes nicht störende Konsequenzen attestiert würden. Hier führt die Betrachtung des Schülers als ganzes Kind auch zu einer entsprechenden Beurteilung des ganzen Kindes. Damit werden Anspannung und Entspannung der Kinder zu schulischen Themen und schulischer Beurteilung im Sinne der Beurteilung durch eine Lehrerin ausgesetzt.

Danach beschreibt die Lehrerin eine Art individuelles Diagnose-Instrumentarium, besser: ein Ensemble von Verhaltensweisen, an dem sie abschätzt, ob eine schwierige Situation entsteht, die sie als Signal dafür erkennt. Dass nun Singen als Zeichen für Unentspanntheit gedeutet wird, hat vermutlich eine Vorgeschichte; es leuchtet nicht unmittelbar ein. Hier muss es also irgendwie eine „Ursprungsszene“ gegeben haben, in der dieses Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster entstand. Dabei erwähnt die Lehrerin – und das kann professionell eingrenzend sein – keinerlei Gründe für schlechte und gute Tage. Das scheint vor der Schule zu liegen und ist dann von ihr auch nicht zu beeinflussen.

Eine schnelle Diagnose ist wichtig, da die Lehrerin – das beschreibt sie im nächsten Absatz – möglichst schnell darauf reagieren können will, sozusagen professionelle Techniken einsetzen will, mit denen sie eine erwartete schwierigen Situation, nicht managen, sondern abwenden kann. Die eingesetzten Techniken laufen nun auf das hinaus, was in der ersten Sequenz als Strukturlogik sich ankündigte: auf eine „Entgrenzung“ der Lehrerrolle in Richtung der Übernahme oder Annahme von Anteilen diffuser Sozialbeziehungen, die vor dem Unterricht stattfinden: sie nimmt den Schüler auf den Schoß, das liebt er. Die Lehrerin stellt Bedingungen auf Seiten des Schülers her, die erst Voraussetzung von Unterricht sind, Bedingungen dafür, dass dieser Schüler arbeiten kann.

In der kurzen folgenden Episode wird – sozusagen wörtlich ein Dialog zwischen der Lehrerin und dem Schüler zitiert. Eine – auf den ersten Blick zumindest – geglückte Situation. Die Lehrerin argumentiert dem Schüler gegenüber damit, dass sie beide in einem Verhältnis des Gebens und Nehmens stehen. Ich mach etwas für dich, ich gebe dir etwas und dafür musst du auch etwas für mich tun. Tatsächlich geht es in der Schule perspektivisch natürlich nicht darum, für eine Lehrerin zu lernen, idealerweise würde es darum gehen, aus Interesse zu lernen, in Wirklichkeit wird gelernt – und muss auch gelernt werden – dass die Erreichung bestimmter schulischer Ziele eine instrumentelle Funktion hat. Ein Verhaltensmuster: ich mach` das für die Lehrerin bzw. ich mach das für sie dann, wenn sie auch etwas je für mich macht, erwiese sich auf Dauer als dysfunktional.

Die von der Lehrerin gefundene „Technik“ erlaubt es jedenfalls, Tage zu „überstehen“. Allerdings kann diese Technik nicht immer angewandt werden, weil es keine Gelegenheit und Zeit gibt, das persönliche Tauschverhältnis zu beginnen. In der Schilderung der Situation, in der es nicht gelingt, den Schüler einzubinden und zu integrieren, wird dieser nicht mit wörtlicher Rede zitiert; die Lehrerin zitiert sich selbst mit Fragen; was der Junge sagt, wird offen gelassen. Es kann tatsächlich so sein, dass der Schüler in solchen Situationen nichts sagt, oder es wird von der Lehrerin für des Erzählens nicht wert gehalten. Mit einem Hinweis auf die beschlossenen Regeln für das Verhalten im Morgenkreis fordert sie die anderen Kinder auf zu beschließen, dass der inkriminierte Schüler wegen störenden Verhaltens in den Gruppenraum gehen solle. Die anderen Schüler, die allerdings auch Kinder heißen, werden im Plural, sozusagen im Chor, zitiert. Es könnte sein, dass die Lehrerin früher versucht hat, mit Kevin ins Gespräch zu kommen, über sein Verhalten zu reden und da gescheitert ist. Inzwischen – so hört es sich fast an – ist der Ablauf ritualisiert. Über die Einführung und die Erfindung des Rituals erfahren wir nichts. Welche Chance gibt es, Rituale zu durchbrechen? Sind die Rituale für die Schüler und Schülerinnen als hergestellte, konstruierte zu erkennen und zu erfahren – so wie jede Tradition erfunden und hergestellt wurde?

Angeführt werden schließlich verschiedene Versuche, den Schüler zum Arbeiten zu bewegen. Andere Schüler werden als „Co-Piloten“ oder „Hilfslehrer“ eingesetzt, ein Telefonat mit der Mutter wird angedroht. Die Aussicht, bei der Mutter nacharbeiten zu müssen, scheint – so wird es dargestellt – für den Jungen bedrohlich. Und manchmal da besinnt sich das Kind – und „ …läuft nach Haus geschwind.“ Für die Mutter oder die Lehrerin etwas tun, damit diese nicht traurig sind, nicht weinen oder schimpfen müssen. Auch hier erkennen wir die Logik der „Entgrenzung“ der Lehrerrolle. Wenn der Schüler nichts für die Lehrerin tun will, so vielleicht für die Mutter. Nicht die Mutter droht mit dem Lehrer, sondern umgekehrt, weil die konstruierte Beziehungslogik hier mindestens partiell eine Art familiale zu sein scheint.

Am Ende – wenn gar nichts mehr geht – wird der Schüler in der großen Pause zur Sekretärin gesetzt, da schreibt er dann, was er schreiben soll – „komischerweise“ heißt es zum Abschluss der Passage.

Zusammenfassend lässt sich feststellen:

  1. Die Lehrerin berichtet über ein gewisses Repertoire an Techniken, wie mit einem „schwierigen Kind“ umzugehen ist – und das ist, etwa im Rahmen des Ansatzes von Bauer/Kopka/Brindt als professionell zu deuten.
  2. Erkennbar wird hier in der Erzählung, in diesem Text, dass Verstehens-Muster auf Seiten der Lehrerin, und zwar möglicherweise als „Szenen“, in denen ein mehr oder weniger komplexes Verständnis einer Situation repräsentiert ist, ausgebildet sind und handlungswirksam werden, wobei allerdings in dieser Erzählung genau die „Ursprungsszenen“ nicht erzählt werden.
  3. Diejenige Technik, die eine entstehende Problemlage insgesamt entschärfen kann, rekurriert entscheidend – wenn man jetzt einmal sich bezieht auf die pattern variables von Parsons – auf Anteile familialer Handlungsorientierungen wie Partikularismus, Affektivität und Diffusität (Parsons 1968; vgl. auch Wernet 2003). Und in genau dieser Struktur erweist sie sich aber auch als prekär und wird auch so empfunden, weil es dafür – so wie das hier konstruiert ist – immer des Raumes außerhalb des Unterrichts bedarf und eine bestimmte Logik des Unterrichtens unterbrochen werden muss.

Zu den diskursiven Konstruktionen des Textes:

  1. Die diskursive Konstruktion eines störenden Schülers ist hier die des „schwierigen Kindes“, das nicht als Schüler ins Blickfeld der Erzählerin gerät bzw. nicht eigentlich als Schüler diskursiv konstruiert wird. Es singt, trallatet, hampelt, brüllt, schmeißt mit Bauklötzen und schreibt und arbeitet hin und wieder, teilweise aber außerhalb des Unterrichts. Es stellt Forderungen an die Lehrerin, das weiter zu tun, was sie ihm anbietet: eine Art von außerunterrichtlicher Kommunikation. In unterrichtlicher Kommunikation wird das Kind nicht dargestellt. Die Darstellung schwankt zwischen dem „ganzen Kind“ und dem „Fall“ und genau der Bezug auf die familialen Handlungsorientierungen produziert dann das ganze Kind als Fall, als schwierigen Fall. Die Figuration des Schülers als ganzes Kind hat hier – im Sinne des Mythos – eine Art paradoxer Wirkung: der Schüler wird als ganzes Kind stigmatisiert und ihm wird – im Text – der Auftritt als Schüler weitgehend verwehrt.
  2. Die Lehrerin scheint den Rekurs auf familiale Handlungsorientierungen als zentralen Bestandteil ihrer Berufsrolle zu sehen und als herausgefordert durch den geschilderten Schüler.
  3. Der Text weist – der Philologe würde sagen: – „Stellen“ auf, an denen sich sein reflexives Potential zeigt. Erzählungen über Schule und den (eigenen) Unterricht reproduzieren Interpretationsmuster und produzieren Bilder von Schule, der Lehrerin und den Schülern und Schülerinnen. Textlich betrachtet handelt es sich dabei um „Leerstellen“, die Ursprungsszenen der Verstehensmuster, die fehlenden Zitate der Schüler, um Widersprüche, um den Bruch von Bildern bzw. den Aufweis metonymischer Verschiebungen – z.B. in diesem Text „Co-Pilot“ und „Hilfslehrer“: Wer ist der Pilot? Der Schüler oder die Lehrerin? Der Text wirft selber Fragen auf: Was bedeutet es, wenn der Schüler nicht wörtlich zitiert wird, sondern nur die handelnde Lehrerin. Am Ende formuliert der Text eine Frage fast direkt: Warum schreibt der Schüler bei der Sekretärin?

IV. Fazit: Die Paradoxie eines pädagogischen Topos: der störende Schüler wird ein schwieriges Kind

In seiner Abschiedsvorlesung „Tabus über dem Schülerberuf“ hat Konrad Wünsche 1993 untersucht, wie Topoi „populärer Reformsprache“ auf den Schüler bezogen Klischees haben wirksam werden lassen: „Wichtige Beispiele für schließlich Schulrealität erzeugende Tabus wären insbesondere Vorstellungen (…) welche den Primat des Kindes über den Schüler durchzusetzen verlangen. Sie insistieren, ein Schüler sei in Wahrheit Kind (…) und solches Kind wird dann auch von vornherein als leidendes Kind verstanden. (…) Das Bild vom Schüler trägt bleibend die Züge eines Kindes, das als Mensch nicht, bis heute“ in der Schule „nicht ernstgenommen wird (…)“ (Wünsche 1993, S. 371). Wünsche verfolgt die Herausbildung einer Auffassung: die Schule sei unfähig, mit dem Schüler menschlich umzugehen, sie trenne Leben und Lernen des Kindes und immer wieder wird versucht, aus dem unterstellten Antagonismus von Kind und Schüler, aus der Formel, „der Schüler sei das um sich selbst gebrachte Kind“ (Wünsche 1993, S. 373), institutionelle und didaktische Konsequenzen zu ziehen.

So kehrt der Topos vom Schüler als dem um sich selbst gebrachten Kind als Gegenbild in reformpädagogisch geprägter Didaktik und den hier bevorzugten Unterrichtsformen wieder, deren Anliegen Prange – in einer Auseinandersetzung mit Ramsegger – polemisch charakterisiert: „Gut wäre eine Schule, wenn sie keine ist“ (Prange 1995, S. 328). So etwa wird – um nur ein Beispiel zu nennen – für den Projektunterricht argumentiert, er korrigiere die „Herausnahme des Lebens aus dem Lernen“, die „historisch bedingte Trennung von Schule und Leben, d.h. die künstliche Isolierung, Systematisierung und Abtrennung des Lernens vom Lebens- und Handlungszusammenhang“ (Bastian/Gudjons 1990, S. 39) und fördere ein subjektorientiertes, identitätsbildendes oder biographisch bedeutsames Lernen.

Wünsche stellt diesem Bild – am Ende ein wenig ironisierend – dasjenige des „professionalisierten Schülers“ entgegen, also einer Rolle mit bestimmten Funktionen, kein Ganzes, sondern „ein Bündel“, ein „Sammler von Qualifikationen“, der Sitten übernimmt und Obsessionen befriedigt (vgl. Wünsche 1993, S. 377).

Die hier interpretierte Fall-Geschichte einer Grundschullehrerin zeigt die Wirksamkeit und – vielleicht – paradoxe Wirkung dieses Topos in der diskursiven Konstruktion eines Schülers. Hier wird nicht das Bild des um sich selbst als Kind gebrachten Schülers diskursiv gestaltet, sondern der Verzicht auf die Darstellung eines Schülers führt zur – mindestens textuellen – Konstruktion eines stigmatisierten Kindes, das erzählerisch um die Chance der Schülerrolle gebracht wird: aus dem störenden Schüler ist ein schwieriges Kind auch im Unterricht geworden.

Selbstverständlich handelt es sich hier um diskursive Konstruktionen als Geschichten; es ist natürlich zu vermuten, dass im Unterricht der erzählenden Lehrerin auch eine institutionell geprägte und rollenvermittelte Interaktion stattgefunden hat. Aber: es ist bemerkenswert, dass diese nicht geschildert wird. Die hier interpretierte Geschichte über den eigenen Unterricht reformuliert den Mythos vom ganzen Kind, das der Schüler sei.

Literatur:

Bastian, Johannes/Gudjons, Herbert (Hrsg.) (1990): Das Projektbuch II. Über die Projektwoche hinaus. Projektlernen im Fachunterricht. Hamburg
Bauer, Karl-Oswald/Kopka, Andreas/Brindt, Stefan (1996): Pädagogische Professionalität und Lehrerarbeit. Eine qualitativ empirische Studie über professionelles Handeln und Bewusstsein. Weinheim und München
Combe, Arno/Buchen, Sylvia (1996): Belastung von Lehrerinnen und Lehrern. Fallstudien zur Bedeutung alltäglicher Handlungsabläufe an unterschiedlichen Schulformen. Weinheim und München
Döpfner, M./Fröhlich, J./Lehmkuhl, G. (Hrsg.) (2000): Hyperkinetische Störungen. Göttingen
Grosse, K.-P. (2003): ADHS-Multimodale Therapie: Altersabhängige Therapieformen. In: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen der Kinder- und Jugendärzte e.V. Nr.1 (Beilage zur Zeitschrift „Kinder- und Jugendarzt“ 34, Nr. 12).
Oevermann, Ulrich (1995): Manifest der objektiv hermeneutischen Sozialforschung. (Manuskript)
Parsons, Talcott (1968): Die Schulklasse als soziales System. Einige ihrer Funktionen in der amerikanischen Gesellschaft. In: Ders: Sozialstruktur und Persönlichkeit. Frankfurt/Main, S. 161-193.
Prange, Klaus (1995): Die wirkliche Schule und das künstliche Lernen. In: Zeitschrift für Pädagogik 41, S. 327-333
Wernet Andreas (2003): Pädagogische Permissivität. Opladen
Wünsche, Konrad (1993): Tabus über den Schülerberuf. In: Zeitschrift für Pädagogik, 39, H. 3, S. 369-381

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