Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Im Folgenden steht der Fall „Nevin“ als Ausgangs- bzw. Kernfall im Zentrum der Interpretationen. Es handelt sich hier um einen Fall, der gleich zu Beginn des theoretischen Samplings am stärksten dem Extrempol einer sowohl risikoreichen Schul- als auch Sportkarriere mit erheblichen Transformationsdruck auf den individuell-biografischen Orientierungsrahmen zugeordnet wurde, so dass zum einen von einem spannungsreichen Passungsverhältnis zwischen Talent und Institution ausgegangen werden konnte. Zum anderen konnte auch durch die biografischen Erfahrungen des schulischen Scheiterns sowie des Erleidens von Krankheiten und Verletzungen und dem aus dieser Kumulation mehrerer Problemfelder resultierenden Verlust von Handlungsorientierungen auf einen potenziell – biografieanalytisch betrachtet – verlaufskurvenförmigen[1] und fremdgesteuerten Charakter des subjektiven Bildungsganges geschlossen werden: Nevin scheint die Kontrolle über die als übermächtig erlebten Ereignisse zu verlieren, die seine Biografie ausmachen, was zur Folge hat, dass er nur noch in der Lage ist, konditionell zu reagieren. Er wird so zum Getriebenen äußerer Umstände und leidet passiv (vgl. Schütze, 1984, S. 92).

Diese spezifische Ausgangslage des Falles führte dazu, dass dieser – trotz kaum vorhandener narrativer Passagen bzw. detaillierter Beschreibungen und minimaler Themenentfaltungen seitens des Interviewten[2] – in das Kernsample aufgenommen wurde. Der Fall ist daher insbesondere unter der Fragestellung, vor welchem Orientierungsrahmen unter einer vergleichsweise ungünstigen biografischen Ausgangslage risikoreiche Passungsverhältnisse – die grundsätzlich aber auch Chancen bereithalten können – gedeutet und bearbeitet werden. Dies ist gerade in Hinblick auf den vorliegenden Fall interessant, in dem ein vorhandenes Enaktierungspotenzial, das auf grundlegenden, bewährten Haltungen, Zielvorstellungen und Zugehörigkeiten beruht, nicht mehr als Bewältigungsmuster angesichts neuer und komplexer Problem- bzw. Krisensituationen greift.

Die von Nevin zu bearbeitenden Passungsthemen lassen sich auf mehreren Ebenen verorten, die sich zudem wechselseitig beeinflussen: Auf der Ebene des schulischen Bildungsgangs lässt sich festhalten, dass dieser insbesondere in den vergangenen beiden Jahren von krisenhaften schulischen Erfahrungen geprägt wurde, welche mit einem erheblichen Eskalationspotenzial der Positionierung im negativen Bildungshorizont einhergingen. Nevin genügt den Bildungsansprüchen seines Orientierungsrahmens nicht, die das Erreichen der gymnasialen Oberstufe als angemessenen Bildungsraum beanspruchen. Diese Station seines Bildungsgangs ist für ihn zunächst nicht erreichbar. Letztendlich hat dies darin gemündet, dass Nevin zum Zeitpunkt des Interviews die Absicht hat, die zehnte Klasse zu wiederholen, um sich bezüglich seiner schulischen Leistungen stabilisieren zu können. Damit verbleibt er in seinem gewohnten Kontext und den gewohnten Anerkennungsverhältnissen. Er verändert, indem er die Klassenwiederholung als „Lösung erster Ordnung“[3]  für sich in Anspruch nimmt, allenfalls leicht seine schulische Ausgangslage. Letztendlich soll damit auch ein drohender schulischer Abstieg verhindert werden. Ein Abschluss auf Hauptschulniveau würde den familiären Orientierungen maximal entgegenstehen. Der Transformationsdruck auf seinen schulbezogenen Orientierungsrahmen ist entsprechend hoch anzusiedeln. Von sich selbst behauptet Nevin, dass er „ganz schlecht der Schlechteste“ (Z. 806) in der Klasse sei. Den schulischen Unterricht verweigert er derzeit trotz von der Schule bereits angedrohter Sanktionen nahezu völlig, was seine passive Einstellung unterstreicht. Ihm droht zum Zeitpunkt des Interviews der „Rauswurf“ aus der Schule und damit auch der Ausschluss aus der leistungssportlichen Förderung. Auch den Interviewtermin, der in der Schule stattfindet, hätte er beinahe verweigert. Insgesamt deuten sich starke Tendenzen einer gravierenden Versagenskarriere mit chronischen Misserfolgserfahrungen an (vgl. Kramer et al., 2009).

Auf der Ebene des sportbezogenen Bildungsgangs haben sich für Nevin in den beiden vorangegangen Jahren zahlreiche Problemkonstellationen manifestiert: Zuletzt konnte er kaum noch sportliche Erfolge verbuchen. Dies führt er vor allem auf gesundheitliche Schwierigkeiten zurück: Nachdem bei ihm Mai 2009, kurz vor dem Übergang in die zehnte Klasse, Diabetes diagnostiziert wurde, durch den er durch lange Krankenhausaufenthalte sowohl sportlich als auch schulisch Rückschläge erlitten hat, verletzte er sich im Winter desselben Jahres am Kreuzband, sodass er operiert werden musste. Zum Zeitpunkt des Interviews (Juni 2010) pausiert Nevin bereits seit einem halben Jahr mit dem Training. Diese Trainingspause wird voraussichtlich auch noch ein weiteres halbes Jahr andauern. Neben diesen Spannungen, die bereits einen hohen Transformationsdruck auf seinen schul- und sportbezogenen Orientierungsrahmen ausüben, belasten Nevin vor allem familiäre Anspruchshaltungen und die zuletzt spannungsreiche familiäre Gesamtsituation. Schulische und auch sportliche Anstrengungen und Leistungsbereitschaft haben in Nevins Familie einen hohen Stellenwert. Als kurz vor Nevins Geburt eingewanderte Migranten hegen seine Eltern den Wunsch, dass auch Nevin und sein jüngerer Bruder, der ebenfalls die Schule C besucht und dort ebenfalls an der Talentförderung teilnimmt, über statusorientierte Bildungsabschlüsse den von ihnen begonnenen Integrationsprozess fortführen[4]. Zudem ist davon auszugehen, dass auch sportliche Erwartungshaltungen, die der Vater als hauptamtlicher Trainer der beiden Brüder an den Tag legt, eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der subjektiven Bildungsgänge beanspruchen.

Erhebliche Spannungen im familiären Gesamtgefüge haben sich durch die zum Zeitpunkt des Interviews ein halbes Jahr zurückliegende Trennung der Eltern ergeben, was zur Folge hat, dass Nevin sich zunehmend mit der Frage konfrontiert sieht, sich für ein Elternteil, bei dem er weiterhin leben möchte, entscheiden zu müssen. Die innerfamiliale Kommunikation läuft seit der Trennung größtenteils über seine im Heimatland der Eltern lebenden Verwandten via Skype. Auch dies birgt erhebliches Konfliktpotenzial in sich, da beiden „Parteien“ versuchen, Nevin auf die vermeintlich „richtige“ Seite zu ziehen.

Krankheit, Verletzung und die Trennung der Eltern bilden damit die zentralen (entlastenden) Begründungsfiguren, die Nevin für seine aktuellen Leistungsprobleme im schulischen Bildungsgang heranzieht (vgl. Kramer et al., 2009, S. 78). Aus der Perspektive dieser komplexen Problemsituation scheint die Passungsarbeit hinsichtlich des Ausbalancierens schulischer und sportlicher Anforderungen und Erwartungen bzw. zwischen Schüler- und Sportlerrolle, auf der gemäß aktueller sportwissenschaftlicher Studien das Hauptaugenmerk der Nachwuchsathleten liegt, für Nevin eher nebensächlich (vgl. dazu z. B. Richartz & Brettschneider, 1996). Vielmehr setzt er sich derzeit intensiv mit der Ausbalancierung eigener Haltungen und Dispositionen sowie institutionellen Idealen und Anforderungen auseinander. Einen möglichen Abschluss dieses Balanceakts sieht er in einer möglichen Beendigung seiner Sportkarriere.

Nachstehend werden vier zentrale Passagen aus dem Interview gemäß der reflektierenden Interpretation der dokumentarischen Methode interpretiert, in denen die individuellen Orientierungen und Krisenbearbeitungen hinsichtlich des sportbezogenen Bildungsgangs sowie individuelle Problemkonstellationen und Spuren von Passungsarbeit über Suchbewegungen besonders deutlich hervortraten, um anhand dieser den individuellen Orientierungsrahmen herausarbeiten zu können. Aber auch formale Aspekte wurden bei der Auswahl berücksichtigt, da diese auf fokussierte Stellen hinweisen können. Gerade diese Auswahl mehrerer Passagen erhöht die Differenzierungsmöglichkeiten herausgearbeiteter Orientierungsrahmen. Mit dem Ziel der besseren Lesbarkeit wird die Interpretation ergebnisorientiert dargestellt.

Die erste thematisch relevante, zu interpretierende Passage bezieht sich auf Nevins Entschluss, nach der vierten Klasse auf die Gesamtschule C zu wechseln und dort seine Sportart als Leistungssport im Rahmen der schulischen Talentförderung weiter zu betreiben und damit das Training zu intensivieren. Diese Passage gibt damit erste Hinweise auf Nevins positiven Gegenhorizont bezüglich seines eigenen Sporttreibens und lässt damit auch erste vorsichtige Rückschlüsse auf seinen primären Habitus und damit auch auf seine lebensweltlich vermittelten Präferenzen und Handlungsrationalitäten zu.

Zunächst wird aus Gründen der Lesbarkeit die gesamte Passage vorgestellt, um daran anschließend die Interpretation sukzessive vornehmen zu können (vgl. Kramer, 2011, S. 191). Im Rahmen einer Sequenzanalyse sollen schrittweise sowohl der individuell-biografische Orientierungsrahmen des Interviewten als auch der formale Diskursverlauf und die Diskursorganisation des Interviewablaufes herausgearbeitet werden (vgl. Bohnsack, 2007. S. 186). Vorrangig geht es dabei um die Explikation des Rahmens, innerhalb dessen ein Thema im Interview abgearbeitet wird. Dies wird in abduktiver Weise über die Suche nach möglichen Anschlussäußerungen vollzogen, die sich derselben Regel oder Orientierung zuordnen lassen (vgl. ebd.).

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

I:        Was waren das so für Gedanken die du hattest mit dem vielen Training? war da schlecht gewesen?

N:       Ja weniger Freizeit halt weil ich da noch so klein war so rauszugehn und mich mit meinen Freunden zu treffen weil das hab ich in der Grundschule nach der Schule immer gemacht – waren wir immer draußen haben viel Spaß gehabt waren auf‘ m Spielplatz und so – und da hab ich mir gedacht wenn ich jetzt mehr trainiere hab ich weniger Zeit dazu

I:         Und war’s so? Also

 N:       Ja aber – – ich hab mich halt dann doch entschieden dass ich doch lieber mehr Sport mache – weil Sport das ist ja auch meine Freizeit – da kann ich ja auch entscheiden ob ich das mache oder nicht – ja dann hab mich halt dafür entschieden dass ich doch mehr Sport mache – –

 I:        Was waren das so für Gründe dafür? Weil es dir so viel Spaß macht? Oder weil du viel besser werden willst?

 N:       Nee – ja weil ich besser Spaß – – Spaß ist halt nur wenn man bei nem Turnier gewinnt – das ist halt so wie in der Schule – wenn man sagt ich will einen richtig guten Beruf – aber – zuerst mal muss man einen richtig guten Abschluss und das Training ist halt so dass man einen richtig guten Abschluss macht oder dass man eine gute Arbeit kriegt ist dass man halt bei nem Turnier gewinnt – sonst äh also ist das – einen guten Abschluss machen macht nicht so viel Spaß – ist ein ja ist anstrengend das Training auch – – aber danach beim Turnier zahlt sich das halt aus – – wie hart man trainiert und hat man auch die guten Erfolge

 I:        Und wenn man gibt’s das auch mal dass du beim Turnier dann keinen Erfolg hast?

N:       Ja

I:        Und wie ist das dann für dich?

N:       Ja dann ist das nicht so gut ne?

 I:        Was denkst du dann? Hat sich nicht gelohnt hast dich nicht genug angestrengt oder?

 N:       Nee nee nee es gibt ja noch mehrere Turniere dann erhöh ich vielleicht auch mein Tempo oder bleib bei dem Tempo mit dem Trainieren – – ja also es gibt ja nicht nur ein Turnier auch wenn es Weltmeisterschaft ist – es gibt noch viel mehrere Turniere – und – – ja also man muss dann halt weiter machen nicht aufgeben und wenn man auch am Ende nichts wird – – wenn man am Ende auch gar keine nie Erfolge hatte dann war man halt n guter Sportler – – hat auch – kein nicht geraucht und keine Drogen oder so genommen das ist dann auch ein guter Weg dass man den Weg als Sportler genommen hat auch wenn man nicht erfolgreich war – –

 I:        Denkst du da manchmal dran? Hast du da ein bisschen Angst vor nicht erfolgreich genug zu sein oder ist das was worüber du gar nicht nachdenkst?

 N:       Also ich bin froh – dass ich überhaupt Sport mache – – und dass ich halt nicht so mich den Drogen oder den Zigaretten und dem Alkohol – dass ich das Zeug auch nicht nehme und so – dass nicht den falschen Weg einschlage ja – zurzeit hab ich ja auch nicht so viele Erfolge in meiner Verletzung – – ja mal kucken (Z. 214- 254).

I:        Was waren das so für Gedanken die du hattest mit dem vielen Training? Was war da schlecht gewesen?

Im bereits eröffneten Interview, das zunächst den biografischen Verlauf der bisherigen Schulzeit an der Schule C und den kommunikativen Erfahrungs- räum über das System der Ganztagsschule thematisierte, stellt die Interviewerin die Frage nach Nevins „Gedanken“, die er „mit dem vielen Training“ hatte. Offenbar fokussiert sie darüber eine bereits zurückliegende Situation, deren Verweisungszusammenhang über das „so“ in ihrer Fragestellung lediglich implizit thematisiert wird. Es ist daher davon auszugehen, dass das Thema Training bereits zum Gegenstand des Gesprächs geworden ist und diese I rage nunmehr weiter ausdifferenziert werden soll. Damit rückt der Anlass, der diese Gedanken angestoßen hat, in den Hintergrund. Es liegt nun an Nevin, seine Gedanken zum „vielen Training“ inhaltlich zu explizieren.

Wird die Frage vor dem Hintergrund eines am Leistungssport ausgerichteten Bildungsgangs betrachtet, so werden Fragen nach einem gesteigerten Training insbesondere dann biografisch bedeutsam, wenn sie auch andere Lebens- und Erfahrungsbereiche betreffen. Unter Einnahme einer Belastungsperspektive stünden insbesondere zeitliche Ressourcen im Fokus, die mit schulischen Anforderungen, aber auch mit familiären und freizeitbezogenen Tätigkeiten abgeglichen werden müssen. Darüber hinaus sind auch die eigenen Ziele, die mit einem erhöhten Trainingspensum verbunden werden, von Bedeutung. Denn diese beeinflussen maßgeblich die Wahl eines schulischen Werdegangs, der gerade diese leistungssportlichen Anforderungen, wie das Absolvieren eines regelmäßigen Trainings, berücksichtigt. Mit Blick auf den Vergangenheitsbezug der Frage rücken damit auch Entscheidungssituationen in den Fokus, die die Wahl eines spezifischen schulischen Erfahrungs-raumes berühren.

Der Spezifizierungsgrad dieser Frage ist als minimal einzustufen: Die Offenheit lässt eine Vielzahl an möglichen Anschlüssen zu, die sich beispielsweise auf gesteigerte Belastungsintensitäten, auf die Ziele des Trainings, aber auch auf Entwicklungs- bzw. Anpassungsprozesse beziehen können.

Die Anschlussfrage ist wiederum sehr konkret formuliert und thematisiert eine offenbar von Nevin getragene gewisse Skepsis, die er angesichts einer Situation, in der das vermehrte Training zur Disposition steht, an den Tag gelegt hat. Gleichzeitig werden darüber Bezüge zu einer wertenden Stellungnahme eingefordert, welche sich jedoch explizit auf seinen negativen Gegenhorizont beziehen: „Was wär da schlecht gewesen?“ Allerdings liefert der hypothetische Charakter der Frage wiederum den Hinweis, dass Nevin sich zwar mit der Aufnahme eines höheren Trainingspensums auseinandergesetzt hat, sich letztendlich aber auch dafür entschieden hat, so dass es folglich nur darum gehen kann, diese bereits zurückliegenden Orientierungen, die seinem Entscheidungsprozess zugrunde lagen, argumentativ zu erläutern.

N:       Ja weniger Freizeit halt weil ich da noch so klein war so rauszugehn und mich mit meinen Freunden zu treffen weil das hab ich in der Grundschule nach der Schule immer gemacht – waren wir immer draußen haben viel Spaß gehabt waren auf‘ m Spielplatz und so – und da hab ich mir gedacht wenn ich jetzt mehr trainiere hab ich weniger Zeit dazu

Mit Blick auf den Diskursverlauf, lässt sich festhalten, dass Nevin der Gesprächsaufforderung nachkommt, folglich auch die von der Interviewerin angebotene Themeneinsetzung bestätigt und über eine argumentative Weiterführung entfaltet.

Auf der inhaltlichen Ebene wird deutlich, dass sich die eingangs thematisierten Gedanken um das viele Training auf seine Zeit „in der Grundschule“ beziehen und auch, dass in dieser Zeit für ihn die Entscheidung zur Disposition stand, mehr Zeit in sein Training zu investieren. Dem vermehrten Training stehen aus der Sicht seines kindlichen Orientierungsrahmens zeitlich reduzierte Möglichkeiten der Ausübung eigener Freizeitaktivitäten gegen über. Nevin bezieht sich in seinem damaligen positiven Gegenhorizont exemplarisch auf Treffen mit seiner Peer-Group auf dem Spielplatz, was er „nach der Schule immer gemacht“ habe. Seine Freunde und er „waren immer draußen haben viel Spaß gehabt.“ Es handelt sich dabei um kontinuierliche Tätigkeiten, die seine Gewohnheiten geprägt haben. Diese kindlichen Routinen erfahren angesichts der anstehenden sportlichen Entscheidung eine Gefährdung. Nevins kindliche Orientierungsfigur ließe sich darüber über die Horizonte von „Freizeitorientierung“ und „Trainingsintensivierung“ aufspannen. Damit befindet er sich in einem krisenhaften Dilemma, denn er kann sich nur auf Kosten des einen für das jeweils andere entscheiden, was bedeutet, dass er zum damaligen Zeitpunkt beide Orientierungen überdenken musste. Da durch die Auswahl des Interviewpartners bereits offensichtlich geworden ist, dass er sich für ein Mehr an Training und damit für eine eindeutig sportbezogene Orientierung entschieden hat, ist es nun von Relevanz, wie diese Entscheidung in seinem derzeitigen Orientierungsrahmen zum Ausdruck kommt.

I:    Und war’s so? Also

Die Interviewerin wechselt nun auf die Ebene der konkreten Erfahrungen und schließt direkt über die Aufforderung zur Aufklärung der spannungsvollen Krisensituation an die von Nevin zuvor thematisierten Bedenken an.

Für den Diskursverlauf lässt sich festhalten, dass die Interviewerin mit dieser Sequenz versucht, die Themenentfaltung weiter aufrechtzuerhalten, um über den Fokus auf die konkrete Erfahrungsperspektive gegebenenfalls eine Erzählung zu initiieren. Denn trotz der geschlossenen Fragestellung, die sich rein formal über ein „ja“ oder „nein“ beantworten ließe, deutet sie zusätzlich mit dem nachgeschobenen Ansatz „also“ die Einleitung einer Erzählung an, im Sinne von: „Also das war so“. Da sie sich die Antwort aus diskurslogischen Gründen jedoch nicht selbst geben kann, lässt sich dies als konkrete Erzählaufforderung an Nevin auffassen. Zudem erhöht eine Interviewstrategie, deren Erzählaufforderungen vergleichsweise wenig Abstraktion auf Seiten des Interviewten erfordern, die Chance auf eine selbstläufige Darstellung. Dieses Vorgehen erhält gerade in Interviews eine besondere Bedeutung, in denen abstrakt-komplexe Stellungnahmen eine große Herausforderung für den Interviewten darstellen.

In Hinblick auf mögliche Anschlussoptionen wäre zu erwarten, dass Nevin sich zu seinen Orientierungen positioniert. Da zudem davon auszugehen ist, dass er sich für den trainingsintensiven Karriereweg und damit gegen seine Peer- und Freizeitorientierung entschieden hat, müsste sich diese Veränderungsdimension auch in seiner Antwort spiegeln: Er hatte demnach weniger Zeit für seine Freunde.

N:       Ja aber – – ich hab mich halt dann doch entschieden dass ich doch lieber mehr Sport mache – weil Sport das ist ja auch meine Freizeit – da kann ich ja auch entscheiden ob ich das mache oder nicht – ja dann hab mich halt dafür entschieden dass ich doch mehr Sport mache – –

Erwartungsgemäß bestätigt Nevin die Anfrage der Interviewerin, relativiert sie über das nachgeschobene „aber“ jedoch wieder. Dies ist erklärungsbedürftig, und so schließt Nevin im Rahmen einer – wenn auch knappen – Erzählung, die sich unschwer an der dokumentierten zeitlichen Abfolge erkennen lässt („und dann“), mit einer Themenentfaltung an, die die spannungsvolle Entscheidungssituation auflöst. Nevin hat sich zwar für den Sport entschieden und somit letztendlich auch weniger Zeit für Freizeitaktivitäten gehabt, löst diese Krise jedoch für sich, indem er sein sportliches Leistungstraining auf eine Ebene mit seinen Freizeitaktivitäten in der Peer-Group stellt bzw. beides gleichsetzt: „weil Sport das ist ja auch meine Freizeit“. Die Logik, die dahinter steht, ist offensichtlich. In seiner Freizeit kann Nevin „ja auch entscheiden ob ich das mache oder nicht“. Über diese Lösungsstrategie vereinfacht er das Problem, denn er muss sich nicht mit seinen eigenen Orientierungen auseinandersetzen, diese überdenken oder gar modifizieren, sondern kann durch diese getroffene Deklarierung sportlichen Trainings als Freizeit diese Einstellung beibehalten. Gemäß dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht, wird das Neue und damit Unbekannte unter die eigenen Rahmungen subsumiert.

Insgesamt dokumentiert sich darüber eine pragmatische Haltung. Letztendlich bleibt jedoch ungeklärt, inwieweit sich diese Haltung für Nevin bewährt hat, denn die Erfahrungskontexte, Inhalte und Ziele der Bereiche „Freizeit“ und „Training“ sind als höchst unterschiedlich anzusehen. Während es im Freizeitbereich um die bereits von Nevin angesprochenen eher zwangslosen, informellen Peer-Kontexte geht, steht ein intensives leistungs-sportliches Training oftmals im Zeichen von Disziplin, organisiertem Training, Leistungserbringung und Erfolgsstreben. Freizeitorientierte Habitusdispositionen dürften sich im Kontext Leistungssport nicht ohne weiteres reproduzieren lassen.

Gerade weil es in an der Biografie orientierten Interviews insbesondere auch um Prozesse der Entwicklung, Strukturierung. Differenzierung und gegebenenfalls Modifizierung persönlicher Orientierungen und Haltungen geht, ist die Analyse der Entwicklungsgeschichte eines individuellen Orientierungsrahmens von herausragender Bedeutung, um darüber nicht nur Funktionen bestimmter habitueller Haltungen, sondern auch deren Genese rekonstruieren zu können (von Rosenberg, 2012, S. 194). Folglich ist es von Interesse, wie sich seine Entscheidung für mehr Training auf seine heutigen Orientierungen ausgewirkt hat.

I:        Was waren das so für Gründe dafür? Weil es dir so viel Spaß macht? Oder weil du viel besser werden willst?

Erneut spricht die Interviewerin Nevins Erfahrungsperspektive an, indem sie die Frage nach den konkret vorliegenden Gründen für Nevins Entschluss aufwirft, sein Training zu intensivieren -und sich somit stärker auf seinen Sport zu fokussieren. Gleichzeitig thematisiert sie im Kontext des bereits angedeuteten Übergangs von der Grundschule in die Sekundarstufe I darüber auch mögliche Gründe für den Wechsel an die sportprofilierte Gesamtschule C. Mit dieser impliziten Frage nach der Entscheidungssituation für einen Übergang auf eine andere Schule wird der Einstieg in die Thematik „Passungsverhältnisse/Passungsarbeit“ vorbereitet. Sowohl Bezüge zur Schul- als auch zur Sportkarriere, zu Selektionsereignissen und damit implizit auch zu Erfolgs- oder Misserfolgserlebnissen, zu Auf- und Abstiegserfahrungen sind damit zu erwartende Themenfortführungen, die sich auf individuelle Konstruktionsweisen des subjektiven Bildungsgangs beziehen. Damit wird zugleich das Spannungsfeld von Bildungsgangerwartungen und Bildungsganganforderungen, von Entwicklungswünschen und institutionellen Vorgaben thematisch. Denn der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule lässt sich als eine „zentrale Selektionsschleuse“ im deutschen Bildungssystem auffassen, welche als bedeutsame „Gelenkstelle“ im Bildungsgang einen hohen (bildungs-)biografischen Stellenwert besitzt (vgl. Kramer et al., 2009, S.35). Damit wird ebenfalls eine wichtige – in der Regel von den Erziehungsberechtigten auf Basis der schulischen Empfehlung getroffene – Übergangsentscheidung thematisiert, die eine wichtige Schlüsselfunktion für den Verlauf der weiteren Schullaufbahn sowie für zukünftige Ausbildungs- und Berufschancen und -möglichkeiten innehat. Übergänge werden gerade aus bildungsgangtheoretischer Sicht vom Individuum „als Zäsuren wahrgenommen, die einerseits Verunsicherung auslösen oder bedrohlich wirken, aber andererseits auch als Chancen wahrgenommen werden können, konstruktiv mit den neuen Herausforderungen umzugehen“ (Pallesen & Schierz, 2008, S. 147).

Die sehr konkret gefasste und durchaus als suggestiv einzustufende Art der Fragestellung erschwert allerdings einen Einstieg in dieses breite Themenfeld seitens des Interviewten. Einerseits ist es die Aufgabe der Interviewerin, durch konkrete Nachfragen die Richtung forschungsrelevanter Themen im Gespräch zu bestimmen. Andererseits schränkt die an die Frage anschließende Vorgabe von Antwortmöglichkeiten den vom Interviewten aufzuspannenden Orientierungsrahmen stark ein. Es werden ihm damit explizit Möglichkeiten verwehrt, aktiv an der Themenentfaltung im Interview teilzunehmen. So bleiben ihm lediglich zwei Aspekte – „Spaß“ und „besser werden“ – denen er sich anschließen oder von denen er sich abgrenzen kann.

N:       Nee – ja weil ich besser Spaß – – Spaß ist halt nur wenn man bei nem Turnier gewinnt – das ist halt so wie in der Schule – wenn man sagt ich will einen richtig guten Beruf – aber – zuerst mal muss man einen richtig guten Abschluss und das Training ist halt so dass man einen richtig guten Abschluss macht oder dass man eine gute Arbeit kriegt ist dass man halt bei nem Turnier gewinnt – sonst äh also ist das – einen guten Abschluss machen macht nicht so viel Spaß – ist ein ja ist anstrengend das Training auch – – aber danach beim Turnier zahlt sich das halt aus – – wie hart man trainiert und hat man auch die guten Erfolge

Nevin äußert sich zunächst unschlüssig. Er verneint die Frage, um sie im Anschluss daran wiederum zu bestätigen und schließt sich dann zunächst beiden von der Interviewerin angebotenen Aspekten („besser Spaß“) an. Erst dann beginnt er mit der Fortentwicklung der Thematik. In seiner Antwort erkennt er die vorgegebene Thematik an und zeigt seine Bereitschaft darüber zu sprechen, indem er diese in Hinblick auf die Vorgaben als Vergleich von Spaß, Leistung, Erfolg und Anstrengung in den Arbeitsweisen von Schule und Leistungssport bilanziert.

Im Vergleich zu vielen anderen Passagen des Interviews, in denen kein Erzähl-, sondern allenfalls ein Informationsmodus auf der Ebene kommunikativen Wissens erreicht werden konnte, ist an dieser Stelle eine vergleichsweise hohe Eigenaktivität und Selbstläufigkeit in der Entfaltung der Thematik seitens des Interviewten zu verzeichnen. Dies führte letztendlich auch dazu, dass diese Passage im Rahmen der formulierenden Interpretation für weiterführende Analysen schon allein aufgrund dieses formalen Aspektes ausgewählt wurde. Der überwiegende Teil des Interviews wurde ansonsten von äußerst knappen Antworten auf Fragen und konkrete Erzählaufforderungen dominiert.

Gleichzeitig dokumentiert diese spontane Eigenaktivität auch auf der inhaltlichen Ebene eine hohe subjektive Relevanz dieser Thematik für Nevin: Gute schulische Leistungen, „ein richtig guter Abschluss“, „eine gute Arbeit“ bilden hinsichtlich schulischer Bestrebungen einen positiven Gegenhorizont und können, wenn zunächst auch diffus, mit den entsprechenden Statusplatzierungen eines „guten Berufes“ verbunden werden. Um diesen erreichen zu können, muss Nevin in diese Leistungen über vermehrtes Üben für schulischen Aufgaben und Leistungskontrollen investieren: Dieses einzusetzende Enaktierungspotenzial für schulischen Erfolg beurteilt er als „anstrengend“.

Ebenso bilden die „guten Erfolge“ im Sport, die Turniergewinne, die entsprechenden Pendants hinsichtlich seines sportbezogenen Orientierungsrahmens. Auch hier muss Nevin harte Trainingseinheiten absolvieren, die die gute Platzierung beim Turnier garantieren sollen, um an diesen positiven Gegenhorizont anschließen zu können.

Auf den ersten Blick lassen sich demnach die Motivkonstruktionen seines individuellen leistungsbezogenen Orientierungsrahmens –  sowohl schulisch als auch sportlich – als hochgradig zweckrational und an einer pragmatischen und zugleich strebenden Haltung orientiert charakterisieren. Diese Mittel zum-Zweck-Orientierung lässt sich zudem aus Nevins Sicht gleichermaßen für Sport und Schule verwenden. In der Sprache der dokumentarischen Methode findet an dieser Stelle eine Transposition seines zweck-rationalen Rahmens vom Sport auf die Schule statt (vgl. Przyborski, 2004, S. 76).[5]

Dennoch werden Unterschiede zwischen der schulischen und der sportlichen Orientierung hinsichtlich der Leistungsmotivation angedeutet: Während beim Turniererfolg durchaus eine unmittelbare Bedürfnisbefriedung erzielt werden kann, denn dort ist Training ein vergleichsweise kurzfristig kalkulierbares Mittel zum Zweck des Erfolges, zahlt sich schulischer Erfolg keineswegs in gleicher Weise direkt aus. Der hohe und kontinuierliche Einsatz von vielen Lern“mitteln“ bzw. von eigenen Ressourcen wird erst über den Umweg eines entsprechenden Abschlusses ertragreich, dessen Erreichen langfristig geplant werden muss, was laut Nevin eben „nicht so viel Spaß“ macht. Denn die Belohnung erfolgt im Bildungssystem eben nicht umgehend. Dies deutet auf eine primär gegenwartsbezogene „hier-und-jetzt“-Orientierung hin, die sich als Gegenposition zu einer vornehmlich Angehörigen der so genannten Mittelschicht zuzuschreibenden „asketischen“ Bereitschaft zum Bedürfnisaufschub betrachten lässt (vgl. Hurrelmann, 1973, S. 13). Investitionen in schulische Leistungen zahlen sich nicht direkt aus. Damit deutet sich ein Transpositions- bzw. Orientierungsdilemma an. Nevin kann seine leistungssportbezogenen, zweckrationalen Orientierungen nicht unmittelbar auf seinen bildungsbezogenen Orientierungsrahmen übertragen.

Nevin will nicht aufschieben. Dadurch fehlen ihm jedoch die langfristigen Planungsperspektiven, um in der Zukunft einen „guten Abschluss“ und einen „guten Beruf“ ausüben zu können. Die Bereitschaft zum Bedürfnisaufschub erhält für Nevin somit den Charakter einer Entwicklungsaufgabe, mit der er sich als handlungsregulierende Komponente von Selbst- und Leistungsdisziplin auseinandersetzen muss. Von Relevanz ist damit auch die Frage, wie Nevin gemäß seiner instrumentell ausgerichteten Orientierungen mit den bereits angedeuteten schlechten schulischen Leistungen umgeht.

Zusammenfassend lässt sich bereits ansatzweise der sport- und schulbezogene individuelle Orientierungsrahmen aufspannen, der damit gleichzeitig einen Einblick in seinen primären Habitus gibt: Nevin zeigt sich in seinen Aussagen an die schulischen Ideale angepasst und gibt sich bildungskonform. Gute Leistungen bilden gemäß seiner Darstellung für ihn den positiven Gegenhorizont. Aus dem bisherigen Verlauf des Interviews lässt sich bislang schließen, dass sein individueller Orientierungsrahmen stark an den institutionellen Konformitätserwartungen ausgerichtet ist. Allerdings ließe sich diese Passung auch als eine „oberflächliche“ Passung charakterisieren, die die fehlende Deutungs- und Bewältigungsarbeit einer vorherrschenden Nicht-Passung aufgrund von bildungsbiografischen Fremdheitszumutungen überspielen soll (vgl. Helsper et al., 2009, S. 144). Dann könnte seine konforme Einstellung auch als Versuch gewertet werden, sich den schulischen Leistungsanforderungen zu entziehen.

Auf die konkreten Gründe für den Wechsel auf die Gesamtschule C geht Nevin in seiner Antwort allerdings nicht näher ein. Offen bleibt, ob mehr Spaß an der neuen Schule und die Möglichkeit der Leistungssteigerung im Sport für die Entscheidung, auf diese Schule zu wechseln, überhaupt eine Rolle spielten. Daraus ließe sich schließen, dass der Wechsel auf diese Schule möglicherweise gar nicht diskutiert wurde und daher auch keine Selbst- bzw. Mitbestimmung von Nevin im Entscheidungs- und Auswahlprozess erforderte, sondern in fremdbestimmter Weise festgesetzt wurde. Damit war der Übergang für Nevin gesetzt und selbstverständlich und wurde von ihm gegebenenfalls nicht weiter hinsichtlich möglicher Alternativen reflektiert.

I:        Und wenn man gibt’s das auch mal dass du beim Turnier dann keinen Erfolg hast?

Mit dieser Frage schließt die Interviewerin zwar an den von Nevin entfalteten Orientierungsrahmen an, entfernt sich aber gleichzeitig von der ursprünglich antizipierten schulischen Übergangs- und Selektionsthematik, die vertiefende Aufschlüsse über etwaige Passungsverhältnisse geben könnte. Auch hier lässt die vorgenommene geschlossene Fragestellung wenig Raum für detaillierte Ausführungen, sondern bietet zunächst nur zwei Antwortmöglichkeiten an: Ja oder nein, denn wird davon ausgegangen, dass das Systems des Leistungssports stringent nach dem Sieg/Niederlage-Code ausgerichtet ist, dann gilt das Motto: „Second place ist the first loser.“

Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Frage verneint wird, ist jedoch als sehr gering einzustufen. Denn unter Berücksichtigung des Kontextwissens des vorliegenden Forschungsprojektes ist davon auszugehen, dass Nevin im Verlauf seiner Karriere als Leistungssportler durchaus sportliche Niederlagen erlebt hat. Somit wird unterschwellig der ganze Komplex an sportlichen Krisensituationen und auch der Umgang mit diesen thematisiert. Insbesondere individuelle Dispositionen je spezifischer Anspruchsniveaus und Erwartungshaltungen im Kontext der subjektiven Leistungsmotivation werden in impliziter Weise thematisch, was sich letztendlich auch im konkreten Enaktierungspotenzial des sportbezogenen Orientierungsrahmen zeigen müsste.

Zentral für die Rekonstruktion seiner Orientierungen sind damit die Fragen, wie Nevin mit diesen leistungsthematischen (Krisen-)Situationen umgeht, welche Haltung er an den Tag legt und welchen Strategien und Handlungsorientierungen er dabei folgt.

N:   Ja

Nevin reagiert in erwartungsgemäßer Weise auf die Anfrage und bestätigt diese auf inhaltlicher sowie auf formaler Ebene in entsprechend minimaler Form. Er signalisiert damit aber auch implizit eine gewisse Bereitschaft, über sportliche Misserfolge oder auch Erfolge bei sportlichen Wettkämpfen zu reden, zumindest in dieser höchst passiven Variante der Gesprächsführung. Weiterführende thematische Aspekte werden von ihm daher zunächst nicht angeboten, was auch insgesamt von der überwiegenden Struktur des Interviews dokumentiert wird. Nevin gibt wenig über sich preis. Das Gespräch wird lediglich mit einem minimalen Impuls aufrechterhalten. Diese Zurückhaltung und Passivität könnte demnach ein wesentlicher Bestandteil von Nevins individuell-biografischen Orientierungsrahmen sein. Somit lässt sich zunächst lediglich auf gedankenexperimenteller Basis festhalten, dass das Anreißen dieser Thematik auch eine stärkere emotionale Reaktion hervorrufen könnte, beispielsweise wenn eine – subjektiv bedeutsame – sportliche Niederlage erst kürzlich erlebt wurde.

Es ist nun die Aufgabe der Interviewerin, eine geeignete Anschlussfrage zu stellen, die einen höheren Detaillierungs- und Konkretisierungsgrad zulässt und eine mögliche interaktive Themenentwicklung seitens des Interviewten anregt.

I:    Und wie ist das dann für dich?

Die Interviewerin greift die Antwort auf und schließt mit ihrer Frage, die implizit auf ein mögliches Enaktierungspotenzial im Umgang mit der als krisenhaft einzustufenden Situation sportlichen Misserfolgs abzielt, an die von Nevin getätigte Minimalbestätigung an. Diese Vorgehensweise lässt sich als Versuch werten, eine weiterführende Konturierung des sportbezogenen Orientierungsrahmens durch Nevin anzuregen. Die Erzählaufforderung ist gegenüber der vorangegangenen Frage sehr offen gehalten, indem nach seinem persönlichen Empfinden bei sportlichen Niederlagen gefragt wird. Es wird keine weitere Spezifizierung vorgenommen, so dass grundsätzlich die Möglichkeit eines selbstläufigen Anschlusses besteht. Dennoch kann angesichts dieser Frage angenommen werden – und auch nur dann handelt es sich um eine sinnvolle Frage – , dass es zum einen grundsätzlich mehrere Strategien und Möglichkeiten des Umgangs mit sportlichen Niederlagen oder Fehlversuchen gibt. Und zum anderen ist davon auszugehen, dass Nevin in reflexiver Weise über diese Mechanismen und Bewältigungsprozesse verfügt.

N:   Ja dann ist das nicht so gut ne?

Nevin beantwortet auch diese Frage mit minimalem Engagement. Dies kann durchaus mehrere Gründe haben: Die in seiner Antwort mitschwingende Frage („ne?“) kann ein Hinweis auf eine unsichere individuelle Beziehung zu diesem Thema sein.

Möglicherweise ist die Frage für ihn emotional zu aufwühlend bzw. zu stark mit negativen Erfahrungen besetzt, um daran in ausführlicher Weise inhaltlich anschließen zu können. Dann würde er diese nicht dokumentieren wollen und verfolgt eine Vermeidungsstrategie. Gleichzeitig wäre dies aber auch ein weiterer Hinweis auf einen sportbezogenen Orientierungsrahmen, in dem Erfolge und Leistungen eine große Rolle spielen. Schwache Leistungen, Niederlagen oder Versagen wären demnach als Aspekte eines negativen Gegenhorizonts mit starkem Unbehagen besetzt, die im vorliegenden Fall auf ein schwaches Enaktierungspotenzial in der Bearbeitung dieser Erfahrungen des Scheiterns hinweisen können. Thematisch zeigt sich, dass Nevin von Niederlagen durchaus emotional getroffen ist.

Die an die Antwort angeschlossene Rückfrage könnte allerdings auch von ihm genau als solche gewertet werden: Nevin möchte vor dem Hintergrund dieser Lesart seine Aussage von der Interviewerin bestätigen lassen und würde demnach erwarten, dass sie thematisch daran anschließt. Mögliche Anschlüsse von Seiten der Interviewerin wären demnach eine Verstärkung im Sinne einer Antwort wie „ja, das sehe ich genauso“ oder auch – im aus Sicht der Interviewlogik eher unwahrscheinlichen Fall – eine Zurückweisung seiner Aussage, im Sinne von: „das sehe ich anders“.

Zudem wäre es denkbar, dass seine eher trockene, lakonische Antwort ohne ausschmückende Anschlüsse eine Reaktion auf eine für ihn selbstverständliche Tatsache ist: Wenn man verliert, „ist das nicht so gut ne?“. Wozu viele Worte? Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Die prinzipiell anzunehmende Möglichkeit, dass er die Antwort auf diese Frage nicht weiß, lässt sich vor dem Hintergrund seines Alters und seiner bereits zehn Jahre lang andauernden Karriere als Leistungssportler ausschließen. Auch die empirischen Vergleichshorizonte weiterer Fälle aus dem vorliegenden Sample und vor allem die Reaktion auf die nachfolgende Frage der Interviewerin dürften dies belegen.

I:        Was denkst du dann? Hat sich nicht gelohnt hast dich nicht genug angestrengt oder?

Mit einem weiteren Impuls versucht die Interviewerin erneut, eine Themenentwicklung zu initiieren und ein Gespräch in Gang zu setzen, indem sie die Frage vereinfachend hinsichtlich einer möglichen Enaktierung sportlichen Misserfolgs konkretisiert und Bezug auf seine emotionale Betroffenheit nimmt. Gleichzeitig nimmt sie im Zuge der Fragestellung erneut eine Einschränkung der Antwortmöglichkeiten vor. Unter einem entwicklungspsychologischen bzw. pädagogisch-psychologischen Aspekt der Leistungsmotivation[6] liefert sie mögliche Attribuierungsmöglichkeiten zur Beurteilung- sportlichen Misserfolgs (vgl. z. B. Stiensmeier-Pelster & Heckhausen, 2011, S. 390ff.). Zum einen lässt sich dieser externen Faktoren zuschreiben, indem ein Sportler mit einer eher erfolgsorientierten Einstellung im Nachhinein beispielsweise feststellt, dass der Wettkampf nicht so wichtig oder nicht so anspruchsvoll war und es sich daher auch „nicht gelohnt hat“, daran teilzunehmen: Es gibt ja auch noch weitere Möglichkeiten, sich entsprechend zu beweisen. Die Ursache für den Misserfolg wird dann externalisiert, durch die äußeren Umstände begründet, die nicht beeinflusst werden können, und weniger den eigenen Begabungen und Fähigkeiten zugeschrieben. Zudem ist es aus dieser erfolgsmotivierten Einstellung ebenfalls möglich, dass sich eben nicht „genug angestrengt“ wurde. Der Misserfolg ließe sich aus dieser Perspektive heraus eher einem fehlenden Einsatz oder unzureichenden Bemühungen zuschreiben. Erfolg würde demzufolge entsprechend selbstwertdienlich immer in der eigenen Person lokalisiert werden.

Der implizit mitgedachte negative Gegenhorizont zu dieser angedeuteten erfolgsmotivierten Perspektive bestünde an dieser Stelle in einer tendenziell misserfolgsorientierten Einstellung, die darauf ausgerichtet ist, interne, personenbezogene Faktoren, wie beispielsweise eine mangelnde sportspezifische Begabung, als Ursache für das eigene Versagen heranzuziehen. Erfolge würden unter dieser Prämisse dementsprechend eher günstigen externen Bedingungen oder dem Zufall zugeschrieben werden.[7]

Die Vorgabe von Orientierungen in der Themeninitiierung ist jedoch – gerade vor dem Hintergrund einer Auswertung über die dokumentarischen Methode – als problematisch anzusehen, da sie die Selbstläufigkeit des Gesprächs stark einschränken können.

N:   Nee nee nee es gibt ja noch mehrere Turniere dann erhöh ich vielleicht auch mein Tempo oder bleib bei dem Tempo mit dem Trainieren – – ja also es gibt ja nicht nur ein Turnier auch wenn es Weltmeisterschaft ist – es gibt noch viel mehrere Turniere – und – – ja also man muss dann halt weiter machen nicht aufgeben und wenn man auch am Ende nichts wird – – wenn man am Ende auch gar keine nie Erfolge hatte dann war man halt n guter Sportler – – hat auch – kein nicht geraucht und keine Drogen oder so genommen das ist dann auch ein guter Weg dass man den Weg als Sportler genommen hat auch wenn man nicht erfolgreich war – –

Wird auf der Basis dieser zweiten ausführlicheren Antwort zunächst der formale Diskursverlauf der Interviewsituation betrachtet, so ist zu konstatieren, dass weiterführende Themenentfaltungen paradoxerweise dann gelingen, wenn in der Frage ein deutlich suggestiver bzw. konfrontativer Unterton mitschwingt, mit dem sich der Interviewte auseinandersetzen muss. Auch in dieser Passage äußert sich Nevin ungewohnt engagiert zur Thematik und führt diese in Hinblick auf sein Bild bzw. auf sein Ideal eines „guten Sportlers“ fort.

Der Konfrontation mit den beiden Optionen zum Umgang mit sportlichen Fehlschlägen begegnet er mit zunächst großer Vehemenz: „Nee nee nee“. Er macht jedoch nicht deutlich, welche der beiden Möglichkeiten er derart verneint. Es lässt sich jedoch annehmen, dass aus der Erfahrung von Misserfolg für Nevin die Erwartung resultiert, zukünftig bessere Leistungen erbringen zu können: „Es gibt ja nicht nur ein Turnier auch wenn es Weltmeisterschaft ist es gibt noch viel mehrere Turniere“. Daraus ließe sich entnehmen, dass ausbleibender Turniererfolg für Nevin keine Frage fehlender Begabung ist, sondern von ihm auf äußere Bedingungen zurückgeführt wird. Damit würde er einen eher erfolgsmotivierten, auf (sportlich) gute Leistungen bezogenen positiven Gegenhorizont bestätigen. Relevant ist nun die Frage, wo er sich selbst in seinem eigenen Orientierungsrahmen verortet: Entspricht er diesem Ideal eines leistungsbezogenen und erfolgsmotivierten Sportlers? Und auf welche Weise strebt er diesen positiven Gegenhorizont an?

In Bezug auf Misserfolgserfahrungen führt er nunmehr die Orientierungsfigur des „guten Sportlers“ ein. Dieser sagt sich, so Nevin, dass er „weiter machen nicht aufgeben“ muss, vor allem, „wenn man auch am Ende nichts wird“, sogar dann, „wenn man am Ende auch gar keine nie Erfolge hatte“. Damit relativiert Nevin seinen positiven Gegenhorizont eines erfolgsorientierten Sportlers in Richtung eines „guten“, d. h. tugendhaften Athleten, der „nicht geraucht und keine Drogen oder so genommen“ hat. Für diesen Sportler-Typus gibt es den „richtigen“ Weg auch abseits von Erfolg.

Mit dieser Aussage deutet sich nicht nur an, dass Nevin bereits über zahlreiche Misserfolgserfahrungen in seiner Sportbiografie verfügt, sondern auch, dass diese ihn auch hinsichtlich seines individuell-biografischen Orientierungsrahmens als erfolglosen, aber tugendhaften Sportler geprägt haben. Darin deutet sich ein interessanter Wechsel seines Orientierungsrahmens an: Während er zuvor seine bildungs- und leistungssportbezogenen Orientierungen höchst zweckrational ausführte, wechselt er an dieser Stelle zu einem wert-rationalen Orientierungsrahmen. Der gute Sportler ist nun nicht länger der erfolgreiche, sondern vor allem der „tugendhafte“ Athlet, der sich an gesellschaftlich-gesundheitlichen Werten orientiert.

I:        Denkst du da manchmal dran? Hast du da ein bisschen Angst vor nicht erfolgreich genug zu sein oder ist das was worüber du gar nicht nachdenkst?

Die Interviewerin knüpft an die Erzählung an und versucht mit ihrer Nach frage eine weitere Ausdifferenzierung des Themas anzuregen, damit Nevin sich konkreter in seinem Orientierungsrahmen positionieren kann. Thematisch fokussiert sie weiterhin Nevins emotionale Befindlichkeit, um seine Bearbeitungsformen über ein mögliches Enaktierungspotenzial in krisenhaften sportlichen Leistungssituationen rekonstruieren zu können. Hinsichtlich der Gesprächs- und Interviewsituation bevorzugt die Interviewerin im ersten Teil der Frage wiederum eine niedrigschwellige Antwortaufforderung, die keine großen Anforderungen an den Interviewten stellt und sich relativ problemlos mit ja oder nein beantworten lassen sollte. Im zweiten Teil der Frage bleibt sie beim Format der Suggestivfrage, indem sie unterschwellig das Thema „Angst vor Misserfolg“ in das Interviewgespräch über zwei Antwortoptionen einbringt, sodass die Möglichkeit geboten wird, dass Nevin seine bereits eingebrachte Orientierungsfigur des „guten Sportlers“, der sich in erster Linie über eine wert-rationale Haltung definiert, weiter entfalten kann. Mit Blick auf diese Orientierung an einem „guten Sportler“ wäre zu erwarten, dass die „Angst vor nicht erfolgreich genug zu sein“, etwas ist, womit sich ein auf Werte fokussierter Athlet wenig beschäftigt.

N:       Also ich bin froh – dass ich überhaupt Sport mache – – und dass ich halt nicht so mich den Drogen oder den Zigaretten und dem Alkohol – dass ich das Zeug auch nicht nehme und so – dass nicht den falschen Weg einschlage ja – zurzeit hab ich ja auch nicht so viele Erfolge in meiner Verletzung – – ja mal kucken

 Nevin differenziert seinen wert-rationalen Rahmen eines tugendhaften Sportlers, der den „richtigen“ Weg geht, über die Beschreibung sowohl positiver als auch negativer Gegenhorizonte weiter aus. Positiv gewendet, ist derjenige ein „guter Sportler“, der „überhaupt Sport macht“ und eine gesunde Lebensführung an den Tag legt. Damit hebt er sich in erster Linie positiv von allen Nicht-Sportlern ab, gehört damit aber auch nicht mehr zur Gruppe der leistungsstarken und erfolgsorientierten Sportler, die er zu Beginn der Passage thematisiert hat. Zugleich wendet er sich von denjenigen ab, die den „falschen Weg“ einschlagen und sich dem Konsum von „Drogen oder den Zigaretten und dem Alkohol“ widmen. Dies sind dann ebenfalls keine guten, d. h. tugendhaften Sportler.

Zudem verdeutlicht er, wie bereits vermutet, seinen derzeitigen Status als jemand, der „ja auch nicht so viele Erfolge“ hat und gibt den Hinweis auf eine Verletzung, die dafür die Ursache zu sein scheint. Dieses Scheitern lässt sich nach den bisherigen Rekonstruktionen von zwei Seiten betrachten: Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sportliche Erfolge für Nevin, wie er eingangs zumindest andeutet, von zentraler Bedeutung zu sein scheinen, ist ein Scheitern besonders gravierend, da er sich in seiner erfolglosen Situation selbst im negativen Gegenhorizont des Misserfolgs eines zunächst leistungs- bezogen entfalteten Orientierungsrahmens verorten müsste. Dieser Krise entgeht er nunmehr aus einer im Laufe des Interviews offenbarten Perspektive über den Wechsel seiner Rahmungen bzw. über die Konstruktion eines „Stützrahmens“, über den er sich weiterhin als guter, aber nicht auf Leistungen, sondern insbesondere als ein auf sportliche Werte fokussierter und gesundheitsorientierter Sportler präsentieren kann. Damit spricht er Orientierungen an, die zwar dem positiven Gegenhorizont eines Freizeit- und Fitnesssportlers durchaus entsprechen, aber im Kontext Leistungssport, wie sich an empirischen Vergleichshorizonten auch zeigen lässt, höchst irritierend ist.

Unter der Prämisse dieses tugendhaften Sportlers bietet Nevin einen positiven Entwurf für das Scheitern im Sport, so dass er diesem nicht, wie er eingangs berichtet hat, mit mehr Training aktiv begegnen muss, sondern sich in eher passiver Form auf seine positiv belegten Werte und Einstellungen zur Gesundheit und Fairness im Sport beziehen kann.

Diesen Weg gibt es in der Schule allerdings nicht. Eine Transposition der Orientierungen eines erfolglosen, aber wertorientierten Sportlers auf die eines scheiternden, aber an Werten orientierten Schülers ist nicht ohne weiteres möglich, denn der erfolglose Schüler ist in der Regel immer auch der tugendlose Schüler, der sich nicht genügend für das Erfüllen schulischer Anforderungen engagiert. Nevin befindet sich damit in einem Orientierungsdilemma zwischen einem zweckrationalen und einem wert-rationalen Rahmen: Er kann vielleicht der anständige und tugendhafte Schüler sein, aber keinesfalls der leistungsstarke.

Mit der abschließenden Konklusion „ja mal kucken“, die die Darlegung seiner Orientierungen beendet, relativiert Nevin seine eingangs beschriebene erhöhte Trainingsbereitschaft nach Misserfolgserfahrungen im Sport und unterstreicht damit seine eher passive, eher abwartende Haltung, die damit eine zentrale Konstante in seinem individuellen Orientierungsrahmen sowohl im Umgang mit leistungsthematischen Krisensituationen als auch im Interaktionsverhalten im Interview bildet. Er ergibt sich seinem Schicksal und entwickelt folglich kein Enaktierungspotenzial, um leistungsbezogene Orientierungen zu verwirklichen.

Zusammenfassend zeigt sich zwar ein im Vergleich zu weiteren Interviewpassagen relativ hoher Informationsgewinn bezüglich seines individuellen Orientierungsrahmens. Dennoch macht Nevin kaum Angaben zu seinen Perspektiven und zu konkreten (Leistungs-)Situationen, in denen er bestimmte Erfahrungen gemacht hat. Die Beteiligung von Nevin am Interview ist als minimal einzustufen. Deutlich wird zudem, dass Nevin keine weiteren Angaben zum Übergang auf die Gesamtschule C und zum Verlauf seines bisherigen Bildungsgangs macht. Er unterstreicht damit seine eher passive, durchaus als resignierend zu bezeichnende grundlegende Orientierung.

Nachdem in dieser ersten Passage bereits ansatzweise der sportbezogene Orientierungsrahmen herausgearbeitet wurde, soll dieser anhand einer weiteren Passage vertieft werden, die ebenfalls die Sportkarriere/-biografie und insbesondere den Stellenwert sportlicher Erfolge thematisiert. Dieser Vergleich unterschiedlicher Sequenzen zur gleichen Thematik im Rahmen eines Falles folgt damit den Prinzipien der fallimmanenten Kontrastierung, mit dem Ziel, Homologien in den Äußerungen aufzuspüren, um auf diese Weise Orientierungen stärker konturieren zu können.

Die Passage wird in analoger Weise zur ersten Passage zunächst im Ganzen vorgestellt, um daran anschließend die reflektierende Interpretation in sequenzieller und ergebnisorientierter Weise vorzunehmen.

I:        Ah okay – gut und – wenn du so mal – bis jetzt zu deiner Verletzung so wie war das so mit deiner sportlichen Karriere also welches wir haben ja grad schon ein bisschen über Niveau gesprochen du bist im Kader – was für Meisterschaften sagt man das so? Was für Meisterschaften hast du schon gewonnen?

 N:       Ja also – letztes Jahr Mai hab ich auch Diabetes – – ahm – – also Diabetes wurde erst im Mai erkannt aber ich hatte das schon länger – – ja also ich hatte das – – vom Gefühl her hatte ich das schon vor zwei Jahren im September – –

 I:        Warum meinst du das? Weil

 N:       Weil ich schon da – wie soll ich sagen – schon dort war ich schon – – halt ganz anders auch ganz komisch – ich hab mich auch anders gefühlt als sonst – –

 I:        So müde oder?

 N:       Ja müde genau müde – –

 I:        So kraftlos oder wie muss man sich

 N:       Müde und – – halt immer sauer immer genervt – – auch immer gestritten ich weiß auch nicht warum – Gründe gab es tausende aber die waren dumm die Gründe warum ich mich gestritten habe wegen jede Kleinigkeit hab ich mich auch aufgeregt – – das war schon so seit Dezember – ahm Januar oder Februar da hatte ich halt meine Deutschen Meisterschaften hab ich Hamburger – – und Norddeutsche da hab ich Medaille geholt – – ja Deutsche hab ich halt nicht so gut gekämpft – – (Z. 282-300)

 I:        Ah okay – gut und – wenn du so mal – bis jetzt zu deiner Verletzung so wie war das so mit deiner sportlichen Karriere also welches wir haben ja grad schon ein bisschen Uber Niveau gesprochen du bist im Kader – was für Meisterschaften sagt man das so? Was für Meisterschaften hast du schon gewonnen?

Die vorliegende Anfangssequenz macht deutlich, dass die Interviewerin sich auf ein zuvor eingeführtes Thema bezieht, dieses zunächst abhakt und mit der nachfolgenden Frage versucht, eine Themeneinleitung bzw. -ausdifferenzierung zu initiieren: Die Sequenz „ah okay – gut“ unterstreicht diesen Verweisungszusammenhang und bereitet die Überleitung zu einem neuen Thema vor.

Wird zunächst der Diskursverlauf betrachtet, so lässt sich feststellen, dass wiederum eine niedrigschwellige Aufforderung über eine reine Wissensfrage an Nevin gerichtet wird. Das Interview folgt somit dem bereits eingespielten

Interaktionsschema, das von basalen Frageaufforderungen und einer minimalistischen Antworthaltung dominiert wird. Dies verdeutlicht die gemeinsam verbürgte Intervieweinstellung, die weniger dem Erzähl-Modus, sondern vielmehr einem reinen Informations-Modus folgt. Eine komplexe Auseinandersetzung mit dem sportbezogenen Orientierungsrahmen wird auf diese Weise also zunächst nicht eingefordert, womit wiederum die Kontinuität einer gemeinsam verbürgten Gesprächshaltung im Diskursverlauf unterstrichen wird.

Über die Frage nach der korrekten Benennung der sportspezifischen Wettkämpfe („Meisterschaften sagt man das so“) wird dokumentiert, dass der Interviewerin kein entsprechendes Wissen zum dem spezifischen sportbezogenen Kontext Nevins vorliegt. Dies kann jedoch gleichzeitig die mögliche Brisanz, die die Thematik Erfolg und Misserfolg im Leistungssport für Nevin haben könnte, entschärfen, indem sie ihm über ihr Nicht-Wissen gewissermaßen eine Brücke baut, das Thema über diese vorgeschaltete Wissensfrage zunächst auf einer basalen Ebene zu entfalten.

Insgesamt wird die Frage über das Themenfeld der Sportkarriere von der Interviewerin relativ offen eingeleitet, indem sie sich danach erkundigt, wie Nevins sportliche Karriere bislang verlief. Damit wird zunächst der gesamte Bereich der Sportbiografie als Themenfeld geöffnet, sodass Nevin sich in vielfältiger Weise daran anschließen kann. Er kann beispielsweise über die Beschreibung biografisch bedeutsamer Erfahrungen bei einschneidenden sportlichen Erlebnissen oder auch über herausragende Entscheidungssituationen im sportlichen Bildungsgang berichten. Zudem erhält er die Möglichkeit, sich differenziert in seinem sportbezogenen Bildungsgang zu positionieren.

Diese offene Themeneinführung entspricht zwar den gängigen Vorgaben erzählgenerierender Interviews, widerspricht aber dem sich im Laufe des Interviews manifestierenden „Interviewabkommen“ zwischen Interviewtem und Interviewerin. Folglich wird die Frage in Hinblick auf Erfolge bei sportlichen Meisterschaften, die vor Nevins Verletzung stattfanden, von der Interviewerin weiter konkretisiert, um einen möglichst niedrigen Einstieg zu ermöglichen. So kann diese von Nevin über eine knappe Aufzählung einzelner Meisterschaften bzw. Typen von Meisterschaften relativ leicht beantwortet werden und erfordert damit keine ausführliche Darstellung eines komplexen Erfahrungszusammenhanges. Unter der Berücksichtigung der zuvor interpretierten Passage ist es dennoch möglich, dass die übergreifende Thematik des bisherigen Karriereverlaufes für Nevin durch derzeit ausbleibende sportliche Erfolge eine hohe Brisanz für die weitere Gestaltung seines subjektiven Bildungsgangs und dementsprechend auch für seinen individuellen Orientierungsrahmen aufweist.

N:       Ja also – letztes Jahr Mai hab ich auch Diabetes – – ahm – – also Diabetes wurde erst im Mai erkannt aber ich hatte das schon länger – – ja also ich hatte das – – vom Gefühl her hatte ich das schon vor zwei Jahren im September – –

Aus Sicht des Diskursverlaufes irritiert diese Antwort zunächst, da die Gesprächssituation in unerwarteter Weise fortgesetzt wird. Nevin antworte‘ zwar unmittelbar auf die Frage und greift mit der Einleitung „ja also“ die Themeninitiierung der Interviewerin in sicherer Weise auf, führt in seiner Antwort jedoch an Stelle der zu erwartenden Aufzählung verschiedener für ihn bedeutsamer sportlicher Ereignisse, an denen er teilgenommen hat bzw- einer Auflistung von Erfolgen, die er dort möglicherweise erreicht hat, einen neuen Vergleichshorizont in Form der Perspektive „Krankheit und sportliche Erfolg“ ein: Er beschreibt, dass er seit einiger Zeit an der Autoimmunkrankheit Diabetes[8] leidet, welche offenbar als relevante Vorgeschichte zur Erläuterung seiner bisherigen sportlichen Karriere eine bedeutende Rolle spielt. Hinzu kommt, dass die Diagnose dieser Krankheit zum Zeitpunkt des Interviews ein Jahr zurückliegt, Nevin aber selbst vermutet, dass er „vom Gefühl her“ schon weitaus länger und damit zunächst ärztlicherseits unerkannt an Diabetes leidet. Im Kontext Leistungssport ist eine solche Diagnose von besonderer Bedeutsamkeit, da sie erhöhte Anforderungen an die Lebensweg mit direkten Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit der betroffenen Athleten durch die permanent vorzunehmende Überwachung und Einstellung des Blutzuckers stellt. Nicht zuletzt besteht latent auch immer die Gefahr gesundheitlicher Komplikationen und körperlicher bzw. leistungsbezogene Einschränkungen. Eine emotionale Betroffenheit wird durch den stockende Antwortverlauf Nevins zusätzlich markiert und unterstreicht damit den hohen Stellenwert der vorliegenden Thematik für seinen subjektiven Bildungsgang einem riskanten Vorausgriff ließe sich Nevins Hervorhebung seiner Krankheit als „entlastende Begründungsfigur“[9] (Kramer et al., 2009, S. 78) für ausbleibende sportliche Erfolge in seinen individuellen sportbezogenen Orientierungsrahmen einführen. Damit würden gute sportliche Leistungen und Erfolge weiterhin den positiven Gegenhorizont für seinen subjektiven Bildungsgang bilden, in den er sich jedoch aus seiner Perspektive krankheitsbedingt nicht einordnen kann. Die Krankheit wäre dann als „Schicksalsschlag“ ein brisanter Teil seiner biografischen Verlaufskurve. Damit stellt sich auch die Frage, wie Nevin mit seiner Krankheit umgeht bzw. welche biografische Bedeutsamkeit sie für seinen subjektiven Bildungsgang hat.

I:    Warum meinst du das? Weil

Die Interviewerin führt mit dieser expliziten Frage nach den Gründen für Nevins Annahme bezüglich seiner Krankheitsdauer die auf den ersten Blick eher ungewöhnliche Themenentfaltung weiter fort und lässt das ursprünglich fokussierte Themenfeld „Erfolg in der sportlichen Karriere“ vorerst ruhen. Damit begibt sie sich gewissermaßen auf „sicheres Terrain“ in der Interviewkommunikation, indem sie versucht, an Nevins Ausführung anzuschließen. Somit folgt sie seiner Relevanzsetzung und zeigt Interesse. Gleichzeitig beugt sie damit einem Abbruch der Kommunikation mit dem Ziel der weiteren Informationsgewinnung vor. Damit bleibt die Frage nach den Wettkampfbezeichnungen und Nevins sportlichen Erfolgen zunächst ungeklärt.

Zu beachten ist an dieser Stelle, dass sie von der ursprünglich anvisierten Textsorte der Erzählung oder Beschreibung hin zu der Aufforderung zu einer Argumentation wechselt. Sie gibt Nevin sogar gewissermaßen den einleitenden Einstieg in eine argumentative Antwort vor („Weil“). Argumentationen sind in der Regel von konkreten Erfahrungen weiter entfernt und dienen eher der (öffentlichen) Präsentation oder der eigenen Rechtfertigung vor sich selbst bzw. vor anderen. Sie basieren in der Regel auf theoretisch-reflexivem Wissen und können daher als kommunikatives Wissen expliziert werden (vgl. Bohnsack, 2010, S. 61). Nichtsdestotrotz können auch Argumentationen dazu beitragen, ein Thema weiterzuentwickeln. Denkbar wäre an dieser Stelle auch ein exemplifizierender Umgang mit der Fragestellung, indem Nevin die Gründe für seine Annahme anhand von Beispielen plausibilisiert. Demnach macht es für die Interpretation einen nicht zu vernachlässigenden Unterschied, ob sich ein positiver bzw. negativer Gegenhorizont im Rahmen einer Erzählung bzw. einer Beschreibung oder einer Argumentation manifestiert (vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2009, S. 292).

N:       Weil ich schon da – wie soll ich sagen – schon dort war ich schon – – halt ganz anders auch ganz komisch – ich hab mich auch anders gefühlt als sonst – –

Nevin antwortet zwar stockend, aber ohne Umschweife mit dem angebotenen Einstieg („Weil“) auf die Frage, was darauf hinweisen kann, dass das Thema „Krankheit“ einen besonderen biografischen Stellenwert in seinem Bildungsgang besitzt. Entsprechend der Frageaufforderung bezieht er in seine Antwort keine konkreten Erfahrungen mit ein, sondern verbleibt auf der abstrakten Ebene der Argumentation. Nevin begründet seine Annahme über einen früheren Krankheitsbeginn damit, dass er sich bereits ein Jahr vor der Diagnose „halt ganz anders auch ganz komisch“ gefühlt habe.

Den individuell-biografischen Orientierungsrahmen strukturierende Zusammenhänge können auf diese Weise jedoch nicht sichtbar gemacht werden.

Dafür müsste die Ebene konkreter Erfahrungen in einem bestimmten Erlebniszusammenhang, das handlungspraktische Wissen und die vorhandenen Selbstverständlichkeiten des Informanten – beispielsweise in der Situation der Diabetes-Diagnose und die daraus resultierenden Konsequenzen für die sportliche Karriere – mit dem Fokus der Erzielung einer Erzählung oder Beschreibung angesprochen werden.

I:    So müde oder?

Die Interviewerin wechselt erneut in das für die vorliegende Interviewsituation durchaus bewährte Format der Suggestivfrage, das an dieser Stelle einerseits als Hilfestellung für Nevins Ausführungen und andererseits – wie anhand der vorangegangen Passage bereits dokumentiert wurde – als Aufforderung betrachtet werden kann, die Thematik, wenn auch in minimaler Weise, über eine Zustimmung oder Ablehnung weiterzuentwickeln. Eine selbstläufige Erzählung über die konkreten Hintergründe und Zusammenhänge im Kontext von Leistungssport und Diabetes ist über diese minimale Form des Themenangebotes jedoch nur eingeschränkt zu erzielen. Zudem hat die Frage einen propositionalen Bedeutungsgehalt[10] inne, indem sie einen bestimmten Horizont, und zwar den eines weiteren Krankheitsanzeichens anreißt, um so einen Zugang zu Nevins Erfahrungsraum zu finden. Der thematische Fokus wird dadurch zumindest leicht verändert und die übergreifende Themenlinie verlassen, um dieses Unterthema weiter zu verfolgen.

Der Aspekt der Müdigkeit als mögliches Diagnosekriterium eines Diabetes könnte dann von Nevin in seiner Antwort nicht nur bestätigt, sondern auch vervollständigt, ausgearbeitet oder gegebenenfalls auch relativiert werden. Prinzipiell bestünde auch die Möglichkeit, dass er das angebotene Thema vollständig boykottiert.

N:   Ja müde genau müde – –

Nevin greift den angebotenen Sinnzusammenhang auf und validiert mit seiner Aussage die Äußerung der Interviewerin in minimaler Weise, wobei er genau genommen nur den immanenten Sinngehalt der Frage ratifiziert. Dies kann auch lediglich ein Hinweis darauf sein, dass Nevin die Frage – und sei es auch nur im akustischen Sinne – verstanden hat. Weitere Orientierungen in Form von positiven bzw. negativen Gegenhorizonten werden von ihm nicht aufgeworfen. Der Informationsgehalt dieser Aussage für die Interpretation ist daher als äußerst gering einzustufen.

I:    So kraftlos oder wie muss man sich

Die Interviewerin fragt an dieser Stelle nochmals nach. Sie greift den Aspekt der Müdigkeit auf, indem sie ihn anhand eines Beispiels weiter ausführt („so kraftlos“) und hält auf diese Weise das Gespräch aufrecht. Sie lässt das Thema nicht fallen und verbleibt in der Strategie Nevin Aussagen anzubieten, die dieser dann weiter ausführen kann. Allerdings wirkt dies gerade in einem qualitativen Interview eher erzählhemmend und suggestiv.

Bei genauer Betrachtung des bisherigen Diskursverlaufs wird damit gleichzeitig der Explikationsdruck für Nevin verschärft, das Verhältnis von Diabetes und Leistungssport über seine emotionale Befindlichkeit und Leidenserfahrungen weiter zu entfalten. Allerdings wird die Aufforderung zur weiteren Themenentfaltung durch die als suggestiv einzustufende Vorgabe weiterer Aspekte zur Beschreibung von Leidens- bzw. Diagnosedimensionen stark eingeschränkt. Das Gespräch gewinnt durch diese „Hilfestellungen“ seitens der Interviewerin zunehmend eine Dynamik, die immer stärker auf eine geführte Unterstützung des Erzählverlaufs abzielt, was die Rekonstruktion von Nevins Orientierungsrahmen erheblich beeinträchtigen kann.

N:       Müde und – – halt immer sauer immer genervt – – auch immer gestritten ich weiß auch nicht warum – Gründe gab es tausende aber die waren dumm die Gründe warum ich mich gestritten habe wegen jede Kleinigkeit hab ich mich auch aufgeregt – – das war schon so seit Dezember – ahm Januar oder Februar da hatte ich halt meine Deutschen Meisterschaften hab ich Hamburger – – und Norddeutsche da hab ich Medaille geholt – – ja Deutsche hab ich halt nicht so gut gekämpft – –

Nevin reagiert unmittelbar auf die Aufforderung mit einer vergleichsweise ausführlichen und komplexen Antwort, in der er sich zunächst auf seine eingangs aufgeworfene Feststellung bezieht, dass er seine Krankheit in der Rückschau bereits sehr viel früher als ärztlicherseits diagnostiziert wahrgenommen hat.

Mit Blick auf den Diskursverlauf und auf die wenig erzählgenerierende Fragestellung differenziert er das Thema in ungewohnter Weise detailliert und selbstläufig aus, was der Passage ihren für die Rekonstruktion des vorliegenden Orientierungsrahmens herausragenden Charakter verleiht, die da-mit allerdings noch nicht den Status einer Fokussierungsmetapher erreicht, da Nevins Rahmungen und Orientierungen in der Passage zwar durchaus angedeutet, aber weder szenisch noch ausreichend „dicht“ entfaltet werden. Über einen fiktiven Vergleichshorizont wäre an dieser Stelle vorstellbar gewesen, dass er seine eigenen emotionalen Befindlichkeiten im Umgang mit diesem für ihn höchst brisanten Thema näher und engagierter ausführt.

Er nimmt über die Argumente, dass er „müde und – – halt immer sauer immer genervt“ war, sich auch „immer gestritten“[11] und sich über „jede Kleinigkeit“ aufgeregt habe, gleichzeitig auf die eingangs gestellte Frage der Interviewerin zu seinen bisherigen sportlichen Erfolgen Bezug. Seine mit den Symptomen eines unbehandelten Diabetes einhergehende negative Leistungsentwicklung skizziert Nevin anhand der wichtigen Meisterschaften, an denen er teilgenommen hat, und bringt diese damit in einen Zusammenhang mit den ersten leistungsmindernden Anzeichen eines Diabetes. Während er auf den Hamburger und den Norddeutschen Meisterschaften noch einen Medaillenplatz erringen konnte, blieb der Erfolg auf den Deutschen Meisterschaften aus. Dort habe er „halt nicht so gut gekämpft“. Mit Blick auf seine Einleitung in den Themenbereich, die er über die Schilderung seiner Krankheit entwickelte, erhärtet sich die Deutung des Diabetes als „zentrale Begründungs- und Entlastungsfigur“ für sein sportliches Scheitern und für seinen sportbezogenen Orientierungsrahmen (vgl. Kramer et al., 2009, S. 79). Sportliche Erfolge bilden damit den positiven Gegenhorizont von Nevin, in dem er sich, sowohl verletzungs- als auch krankheitsbedingt, nicht verorten kann. Der Sportler als tugendhafter Athlet wird von ihm in diesem Kontext nicht weiter thematisiert. Vielmehr entwirft er sich als seinem Schicksal ergebenes „Opfer“, das keine Enaktierungsversuche unternimmt, sondern passiv leidet und damit weiteres Eskalationspotenzial in Kauf nimmt.

Eine weitere Positionierung seines Selbst wird von ihm allerdings nicht gegeben. Die ursprünglich dokumentierte sportliche Leistungsorientierung wird nicht weiter angesprochen und verbleibt damit auf einem eher abstrakten Niveau. Nevin verbalisiert zwar seine zurückliegenden Befindlichkeiten, bleibt jedoch auf einer sehr sachlichen und eher distanzierten Ebene, die allenfalls eine gewisse Resignation angesichts der an ihn gestellten Erwartungen andeutet. Diese durchgehende Kommunikationshaltung im Interviewgespräch lässt auf eine grundlegende Haltung schließen, die durch Vorsicht, Zurückhaltung und Gleichgültigkeit geprägt ist.

Sein Innenleben und seine Erfahrungsperspektiven werden von ihm nicht näher angesprochen. Auch die mögliche Freisetzung eines Enaktierungspotenzials wird nicht thematisiert: Wie möchte er agieren, um seine Orientierungen umzusetzen? Offen bleibt, wie er auf die schwierige Situation der Diagnose reagiert hat und wie er mit der Krankheit im Kontext Leistungssport umgeht. Der Diabetes wird als leidvolle Erfahrung in seinem sportlichen Bildungsgang zwar aufgeworfen, aber an Stelle einer zu erwartenden Neu-Relationierung seiner Orientierungen angesichts dieses krisenhaften Ereignisses reagiert Nevin vielmehr passiv. Sein individueller Orientierungsrahmen bleibt konstant.

Bei einer Betrachtung der Passage im Ganzen fällt die Spannung zwischen einem (leidvoll) auferlegten Streben und einer eher schulkonformen (Bildungs-)Haltung auf, die die Notwendigkeit schulischen, aber auch sportlichen Erfolges in den Mittelpunkt stellt (vgl. Kramer et al., 2009, S. 134ff.). Einerseits werden von Nevin im positiven Gegenhorizont Ziele – sowohl schulisch als auch sportlich – angestrebt, die weit entfernt von seinem gegenwärtigen Status sind. Damit zeigt sich ein hoher Stellenwert der Leistung in Nevins individuellen Orientierungsrahmen, der womöglich familial auferlegt ist und den er trotz komplexer gesundheitlicher Probleme und „Schicksalsschläge“ für sich beanspruchen möchte. Tendenziell deuten sich in dem Habitustyp des „leidvoll auferlegten Strebenden“ grundlegende Probleme der Überforderung an, die ein hohes Risikopotenzial für (schulisches) Scheitern in sich bergen (vgl. ebd.). Und andererseits legt Nevin eine angepasste Haltung an den Tag, die sich in einer kritiklosen Verbürgung der an ihn gestellten Anforderungen äußert. Darin manifestiert sich auch das Selbstbild eines „anständigen“ und tugendhaften Sportlers (vgl. ebd.). Auch schulisch fokussiert er – zumindest formal – einen schulischen Abschluss, der weit über dem der Hauptschule liegt.

In dem Typus der (Bildungs-)Konformität lassen sich Schüler und Schülerinnen finden, die zwar eine gewisse Distanz zu schulischen Inhalten und Regeln aufweisen, aber „sich sowohl in Bezug auf die Leistungs- als auch auf die Verhaltensanforderungen im erwarteten Rahmen schulischer Normalität bewegen“ (ebd., S. 135). Für diese Heranwachsenden – und so auch für Nevin –  stellen sowohl ein gymnasialer Abschluss als auch der Bildungsgang der Hauptschule negative Gegenhorizonte dar. (vgl. ebd., S. 142).

Um die schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen weiter ausschärfen zu können, wird im Folgenden eine weitere Passage interpretiert, die die schulleistungsbezogenen positiven und negativen Gegenhorizonte weiter ausdifferenziert. Diese Passage, die vor allem Nevins Leistungsanstrengungen in der Schule thematisiert, wird in bewährter Weise wieder vorangestellt, um daran anschließend die reflektierende Interpretation vorzustellen.

I:        Okay gab’s mal ne Zeit wo du so gedacht hast mit dem Sport ohne Verletzungen noch in der Zeit wo du noch nicht verletzt warst – wo du beim Sport gedacht hast du kannst die Leistungen nicht erfüllen also so wo das so Druck gegeben hat oder wo du in der Schule vielleicht auch gedacht hast du kannst die Leistungen nicht erfüllen – gab’s da so Phasen?

N:       Ähm – ja in der Schule schon halt so – ich hab auch mich eine Zeit hingesetzt und habe auch ganz viel in den Fächern halt Deutsch und Englisch gelernt hab mich auch bemüht – hab aber trotzdem schlechte Noten bekommen

I:        Okay wie war das für dich dann? Hast du – du hast geübt du hast die Arbeit geschrieben hast die wiederbekommen was war das für ein Gefühl?

 N:       Ja also das war –

 I:        Sag’s ruhig!

 N:       Ja? Also das war scheiße – – ähm ja weil ich hab mich bemüht gute Noten zu bekommen hab auch gelernt – – ja und dann wurde dann war’s nix – ja und seit- dem lern ich auch gar nicht Deutsch und Englisch weil ich hab das Gefühl wenn ich das lerne dann kriege ich wieder so ne Note dann hab ich Zeitverschwendung halt eine Zeitverschwendung gehabt weil in dieser Zeit könnte ich auch zum Beispiel ein von mein Lieblingsfächer was lernen was ich gerne mag – ja und das war eigentlich ähm verschwenderische Zeit sozusagen (Z. 841-859)

 I:        Okay gab’s mal ne Zeit wo du so gedacht hast mit dem Sport ohne Verletzungen noch in der Zeit wo du noch nicht verletzt warst – wo du beim Sport gedacht hast du kannst die Leistungen nicht erfüllen also so wo das so Druck gegeben hat oder wo du in der Schule vielleicht auch gedacht hast du kannst die Leistungen nicht erfüllen – gab’s da so Phasen?

In Bezug auf den Diskursverlauf lässt sich konstatieren, dass die Interviewerin auf eine vorangegangene Äußerung Nevins reagiert und diese bestätigt („okay“). Die daran anschließende lange Pause deutet zudem auf eine Konklusion der Interviewerin und damit auf die Einführung eines neuen Themenbereichs hin. Riskant gewendet könnte die Pause auch für die Erwartung der Interviewerin stehen, dass Nevin eine vorangegangene Thematik ohne weitere explizite Redeaufforderung eigenständig weiter entfaltet, was allerdings nicht der Fall ist. Eine selbstläufige Themenfortführung ohne direkte Frage steht dem bisher dokumentierten Gesprächsverhalten von Nevin entgegen und konnte darüber hinaus im gesamten Interview nicht dokumentiert werden.

Thematisch befasst sich die Frage der Interviewerin zunächst mit dem Leistungsdruck im Sport, den Nevin in der Zeit vor seiner Verletzung möglicherweise wahrgenommen hat. Sodann bezieht sie sich auf den schulischen Leistungsdruck und konkretisiert die Frage abschließend in Hinblick auf Phasen der Nichterfüllung von schulischen Leistungsanforderungen. Damit könnten herausragende schulische Beurteilungs- und Selektionsphasen über die Bekanntgabe schlechter Noten in Klassenarbeiten oder über die Austeilung von Zeugnissen angesprochen werden. Gerade vor dem Hintergrund einer geplanten Klassen Wiederholung aufgrund von schlechten Noten ist damit zu rechnen, dass die Frage für Nevin eine Brisanz aufweist, die über die „üblicher“ schulischer Bewertungssituationen hinausgeht und seine eigenen Statuszuweisungen und Anerkennungsgefüge grundlegend berührt.

Mit Blick auf den bisherigen Interviewverlauf ist die Frage wiederum sehr geschlossen nach dem bewährten „ja-oder-nein-Schema“ gestellt, was Nevins Anschluss an dieses für ihn spannungsreiche Thema erleichtert, da er diese lediglich bestätigen oder verneinen kann. Jedoch kann diese Geschlossenheit es ebenso verhindern, dass Nevin in einem ganzen Satz antwortet, an den sich eine Beschreibung oder Erzählung anschließen lassen würde. Angesichts der Komplexität der Frage, in der mehrere Unterfragen verschachtelt wurden, ist es unsicher, ob Nevin tatsächlich alle beantworten wird. In einer etwas anderen Auslegung bietet diese Komplexität Nevin auch mehrere Möglichkeiten, sich für einen Kontext, in dem Leistungsdruck auftritt, zu entscheiden. Die Interviewerin hat dann die Möglichkeit entsprechend anzuschließen, um die weitere Themenentwicklung zu forcieren.

N:       Ähm – ja in der Schule schon halt so – ich hab auch mich eine Zeit hingesetzt und habe auch ganz viel in den Fächern halt Deutsch und Englisch gelernt hab mich auch bemüht – hab aber trotzdem schlechte Noten bekommen

Nevin bestätigt die Anfrage(n), bezieht sich in seiner Antwort jedoch ausschließlich auf den schulischen Leistungsdruck. Diesen illustriert er anhand einer Phase, in der er sich „hingesetzt“ und „ganz viel in den Fächern halt Deutsch und Englisch gelernt“ habe. Darin dokumentiert sich zunächst ein positiver Gegenhorizont, der guten schulischen Leistungen eine hohe Priorität einräumt und mit dem ein Enaktierungspotenzial einhergeht, das sich im intensiven Lernen und Bemühen äußert, um diese guten Noten auch zu erreichen. Jedoch muss sich Nevin trotz dieser Bemühungen und Investitionen in seinem negativen Gegenhorizont einordnen: Er hat „trotzdem schlechte Noten bekommen“. Die Zensuren als unmittelbare Status- und Anerkennungszuweisung stehen damit für Nevins zentralen Bezug zur Schule, und zwar in höchst negativer Hinsicht. Eine inhaltliche Orientierung, die schulisches Wissen als Kulturgut betrachtet, wird nicht thematisiert und spielt in Nevins Orientierungsrahmen damit allenfalls eine untergeordnete Rolle. Er lernt, gemäß seiner zweckrationalen Orientierung, um dadurch gute Noten zu erlangen.

Die Spannung zwischen seinen Erwartungen, sich im schulisch-positiven Gegenhorizont platzieren zu können und den tatsächlich erfolgten Leistungsbeurteilungen sind erheblich und lassen erwarten, dass ihn dies nicht unberührt lässt. Dennoch legt er über seine distanzierte Beschreibung und fehlende Betroffenheit eine indifferente Haltung im Umgang mit den schulischen Leistungsanforderungen an den Tag: Er hat sich zwar angestrengt, aber die trotz dieser Bemühungen erfahrenen Misserfolge berühren ihn nicht sonderlich. Er zeigt sich wenig betroffen. Mit Blick auf seinen Entwurf als schulkonformer Schüler, der sich an guten Leistungen und an höheren Schulabschlüssen orientiert, verwundert seine Beschreibung, die auf einer sehr distanzierten Erzählebene erfolgt und nicht weiter durch eigene Wertungen untermalt wird.

Nevin führt seine Antwort nicht näher aus. Offen bleiben beispielsweise der konkrete Auslöser für sein vermehrtes Üben oder auch, welche (schlechten) Noten er letztendlich bekommen hat. Die Gründe für diese unbestimmte Antwort könnten überdies auf eine Haltung zurückzuführen sein, die darauf ausgerichtet ist, möglichst wenig über sich und eigene Befindlichkeiten preiszugeben und dementsprechend möglichst wenig Anschlussmöglichkeiten zu bieten, die dieses für ihn spannungsbesetzte Thema fortsetzen könnten. Damit verbleibt sein Umgang mit dieser Diskrepanz zwischen Erwartungen und Beurteilungen zunächst ungeklärt. An dieser Stelle wären Bezüge zu einer gegebenenfalls eingeschränkten Leistungsfähigkeit oder auch zu einer als unfair bewerteten Behandlung durch die Lehrkräfte denkbar.

I:        Okay wie war das für dich dann? Hast du – du hast geübt du hast die Arbeit geschrieben hast die wiederbekommen was war das für ein Gefühl?

Die Interviewerin setzt an dem von Nevin entfalteten Thema weiter an, indem sie konkret an der schulisch meist emotional stark besetzten und von Spannungen geprägten Situation der Rückgabe einer Klassenarbeit ansetzt. Sie versucht zu erfahren, wie Nevin mit dem schulischen Scheitern in dieser Situation umgeht, d. h. welchen Stellenwert er den schulischen Leistungsbeurteilungen beimisst, um auf diese Weise gleichermaßen eine deutliche Verortung zur Schule und insbesondere zu schulischen Anforderungen und Selektionsprozessen von ihm zu erhalten. Damit würde wiederum eine gewisse Brisanz in Nevins schulischer Orientierungsfigur angesprochen, denn vorausgesetzt, er misst schulischen Misserfolgen eine hohe Bedeutung bei, würde er mit dieser Frage gezwungen werden, seinen Leidensdruck weiter zu explizieren. Gerade weil er an den schulischen Anforderungen scheitert, stellt sich die Frage, ob er diese dennoch weiter verbürgt und welchen Platz demnach schulische Anerkennungs- und Selektionsrituale in seinem subjektiven Bildungsgang einnehmen: Was bedeuten schlechte Noten für seinen schulbezogenen individuellen Orientierungsrahmen? Und welches Enaktierungspotenzial setzt er möglicherweise frei, um sie nach den bereits erfahrenen Rückschlägen dennoch zu verbessern?

In einer weiteren Lesart könnte er ebenso mit einer Darstellung reagieren, die belegt, dass seine Zensuren – insbesondere, wenn diese schlecht ausfallen – ihn nicht besonders emotional berühren.

Alternativ dazu wäre außerdem von Interesse, ob sich seine schlechten Zensuren lediglich auf die beiden Hauptfächer Deutsch und Englisch beziehen oder ob auch noch weitere Fächer betroffen sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine Leistungen auch in weiteren Fächern nicht ausreichend sind, ist jedoch als recht hoch anzusiedeln, da Nevin bereits angedeutet hat, dass er plant, das zehnte Schuljahr zu wiederholen. Das bedeutet, dass er seine schlechten Leistungen in den Fächern Deutsch und Englisch nicht durch andere Fächer „ausgleichen“ konnte bzw. dass sein Notendurchschnitt für den Übergang in die gymnasiale Oberstufe nicht ausreichend war.

N:   Ja also das war –

Nevin eröffnet seinen Anschluss mit einer Bestätigung und einem einleitenden „also das war“, was zunächst eine Erzählung erwarten lässt, und gerät dann ins Stocken. In einem Interviewgespräch irritiert diese – wenn auch vergleichsweise kurze – Pause Interviewer und Interviewten gleichermaßen und signalisiert einen Bruch in der Kommunikation und in der Erzähllogik, die für die Durchführung von Interviews von grundlegender Bedeutung ist. Das Schweigen weist auf etwas Krisenhaftes hin. Es könnte als Indiz dafür gewertet werden, dass Nevin der Schule als Beurteilungs- und Selektionsinstanz nicht völlig gleichgültig gegenübersteht. Er demonstriert Unbehagen darüber, konkrete Situationen schulischer Leidenserfahrungen anzusprechen. Damit ließe sich seine Pause als Konklusion werten.

Eine Pause nach einleitenden Worten ließe sich auch auf eine „innere“ Auseinandersetzung mit einer komplexen Thematik zurückführen, deren Darstellung nicht in spontaner Weise zu leisten ist: Nevin muss sich die Worte erst zurechtlegen, um seine Erzählung beginnen zu können. Dies ist auch symptomatisch für sein Kommunikationsverhalten im Interview. Er agiert sehr vorsichtig und führt seine Antworten nur minimal aus. Man erfährt wenig über seine Perspektiven, Erfahrungszusammenhänge und Erlebnisprozesse.

I:    Sag’s ruhig!

Mit dieser Aufforderung greift die Interviewerin direkt in Nevins Überlegungen ein und ermutigt ihn, sich konkret zu schulischen Leistungsbeurteilungen und damit auch zu seiner schulbezogenen Haltung zu bekennen. Sie forciert damit Nevins eigene (Un)Zufriedenheit mit seinen schulischen Leistungen. Von herausragender Relevanz ist damit auch die Frage, ob er das institutionelle Selbstverständnis der Schule C verbürgt. Gleichzeitig verhindert sie so einen Abbruch in der Kommunikation, da die Pause auch dafür stehen könnte, dass Nevin die Thematik nicht weiter entfalten will, sondern an dieser Stelle gänzlich abbricht. Sie signalisiert damit einen vertraulichen Rahmen, in dem auch über Problematisches geredet werden kann. Alternativ dazu hätte sie auch versuchen können, über die Thematisierung eines weiteren, weniger „bedrohlichen“ Unterthemas die Themenentwicklung aufrecht zu erhalten.

N:       Ja? Also das war scheiße – – ähm ja weil ich hab mich bemüht gute Noten zu bekommen hab auch gelernt – – ja und dann wurde dann war’s nix – ja und seitdem lern ich auch gar nicht Deutsch und Englisch weil ich hab das Gefühl wenn ich das lerne dann kriege ich wieder so ne Note dann hab ich Zeitverschwendung halt eine Zeitverschwendung gehabt weil in dieser Zeit könnte ich auch zum Beispiel ein von mein Lieblingsfächer was lernen was ich gerne mag – ja und das war eigentlich ähm verschwenderische Zeit sozusagen

Nevin kommt der Aufforderung nach und reagiert mit einer im vorliegenden Interview selten anzutreffenden selbstläufigen und vergleichsweise detaillierten Erzählung, über die er seine Unzufriedenheit mit der schulischen Bewertungspraxis deutlich zum Ausdruck bringt, ohne jedoch die Schule für sein Scheitern verantwortlich zu machen. Die Wichtigkeit dieser Thematik für seinen individuellen schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen wird dadurch besonders hervorgehoben. Seine einleitende Rückfrage an die Interviewerin {„Ja?“) dient dabei als Rückversicherung und deutet darauf hin, dass er eine solche Aufforderung in diesem Interviewkontext womöglich nicht erwartet hat.

Er berichtet, wie er sich um gute Noten bemüht hat, „und dann wurde dann war’s nix“. Seine erzielten schulischen Leistungen entsprechen damit nicht seinem eigenen positiven Gegenhorizont und begründen seine Unzufriedenheit. Diese wird jedoch nicht sonderlich hervorgehoben. Ein fiktiver Vergleichshorizont, der an dieser Stelle angelegt werden könnte, macht es durchaus denkbar, dass er sich weitaus emotional kompromittierter geben könnte. Zu erwartende Aspekte, wie die Spannung bei der Rückgabe einer Klassenarbeit oder auch die Sorge, familiären Ansprüchen nicht genügen zu können, werden von ihm nicht weiter thematisiert.

Gleichwohl wäre es ebenso denkbar, dass er seine schlechten Noten zum Anlass nimmt, noch mehr als bisher in seine schulischen Leistungen zu investieren. Dies lehnt er jedoch für sich ab. Als Konsequenz für sein schulischerseits – aus seiner Sicht – nicht angemessen honoriertes Bemühen beschließt er, nicht weiter in schulische Leistungen zu investieren. Wiederum legt er damit eine höchst zweckrationale Orientierung an den Tag. Sein bereits thematisiertes Enaktierungspotenzial bricht damit jedoch vollständig zusammen. Für ihn ist Lernen fortan „Zeitverschwendung“. Er resigniert und bildet kein Enaktierungspotenzial aus, mit dem er gegebenenfalls einen Anschluss an seinen positiven Gegenhorizont finden würde. Damit lässt sich sein Bildungshabitus als fatalistisch charakterisieren, der die starke Tendenz hat, sich angesichts der Versagensdynamik indifferent oder auch oppositionell auszurichten (vgl. Kramer, 2011, S. 232). Diesem Habitus steht – wird er einem empirischen Vergleichshorizont aus der Studie „Selektion und Schulversagen“ (Kramer et al., 2009) gegenübergestellt – maximal kontrastierend der Habitus eines exklusiv bzw. moderat „Strebenden“ gegenüber, der sich durch eine hohe Orientierung an guten schulischen Leistungen und einer damit einhergehenden dauerhaften hohen Anstrengungsbereitschaft auszeichnet, die auch Rückschläge übersteht (vgl. ebd. S. 133ff.).

Die „verschwendete Lernzeit“ eröffnet für ihn einen neuen Horizont, den er überraschend detailliert anhand einer ökonomischen Verrechnung seiner zeitlichen Ressourcen näher ausführt: Die Zeit, die er – im Nachhinein erfolglos – für das Lernen für die Fächer Deutsch und Englisch investiert hat, kann er seiner Ansicht nach besser für das Lernen seiner Lieblingsfächer nutzen. Die Aussage Lernen als „verschwenderische Zeit“ erhält damit den Status einer Fokussierungsmetapher, die seinen durchaus schulzugewandten, aber letztendlich scheiternden individuellen bildungsbezogenen Orientierungsrahmen untermauert.

Er elaboriert über diese Passage eine Orientierung, die für seinen individuellen Orientierungsrahmen und damit auch für seinen subjektiven Bildungsgang zentral ist. Er kann den schulischen Anforderungen nicht entsprechen und damit führt kein Weg am schulischen Scheitern vorbei. Folglich ist Nevin gezwungen, sich mit einem dauerhaften Transformationsdruck auf seinen schulbezogenen Orientierungsrahmen auseinanderzusetzen, dem er mit einer oberflächlichen Distanzierung von schulischen Leistungsbeurteilungen begegnet: Anstrengung bringt nichts. Die Schule entwickelt sich damit allerdings zum negativen Gegenhorizont seines bildungsbezogenen Orientierungsrahmens.

Nicht weiter verfolgt wird an dieser Stelle, inwieweit ihm seine „Lieblingsfächer“ dennoch positive Schul- und Bildungsbezüge ermöglichen könnten.[12]  Auch der Horizont einer Peerintegration als alternativen positiven Schulbezug, der dem Statusraum Schule oftmals diametral gegenübersteht und zudem seine schulische Distanziertheit begründen könnte, bleibt unangetastet. Er bezieht sich in seinen Darstellungen ausschließlich auf die Institution und lässt Peerbezüge und Freizeitorientierungen außen vor.

Für seinen individuellen Orientierungsrahmen lässt sich festhalten, dass er thematisch weiterhin auf einer eher ungenauen Ebene verbleibt. Er konkretisiert zwar die Fächer, auf die sich sein schulisches Scheitern maßgeblich bezieht, eine detaillierte Beschreibung seiner Bemühungen, das genaue Ausmaß des Scheiterns in Form von konkreten Noten und die daran anschließenden Konsequenzen für seinen weiteren Bildungsgang werden an dieser Stelle nicht weiter entwickelt. Er reagiert damit in ambivalenter Weise zwischen einer gleichgültigen Haltung, mit der sich auch das schulische Scheitern ertragen lässt und gravierende Entwertungen vermieden werden können, und einer eher unsicheren Haltung, die das dauerhafte schulische Versagen und die fehlende Einbindung in schulische Anerkennungsprozesse schamvoll verdrängt.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass zumindest die Konturen von Nevins sportbezogenen und auch die seines schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmens deutlich geworden sind. Diese Rekonstruktionen sind notwendig, um überhaupt seine Passungsarbeit in seinen individuell-biografischen Orientierungsrahmen und damit in seine Bildungsgangkonstruktion einordnen zu können. Damit geht es in der Interpretation der folgenden Passage vorrangig um die Frage, ob und vor allem wie er sich selbst in seinen eigenen Rahmungen positioniert, also wie er mit seinen individuell-biografischen Orientierungen und subjektiven Bildungsgangvorstellungen Anschlüsse an das institutionelle Selbstverständnis der Schule C finden kann und wie er sich im Falle der Nicht-Passung mit den institutionellen Gegebenheiten auseinandersetzt.

Im Folgenden steht daher eine Passage im Zentrum der Interpretation, die den sekundären Schülerhabitus aus der Perspektive Nevins und seine Verortung zu diesen schulisch gewünschten Idealhaltungen thematisiert. Vorab wird auch hier wieder die gesamte Passage vorgestellt, um diese anschließend im Rahmen der reflektierenden Interpretation sequenziell zu erschließen.

I:        Und wenn du so kuckst so ein typischer C-Schüler wie sieht der aus? Der ist Ausländer?

N:       Ja – – so wie ich jetzt also am Anfang schon also in der fünften Klasse sechsten Klasse aber jetzt in der zehnten Klasse ist so mehr so ein – ein wie soll ich sagen – halt kein Ausländer sondern ein Deutscher – –

 I:        Wie ist der so in der Schule? Ist der –

 N:       Der gut in der Schule ist der – aufmerksam ist – der sich auch Mühe gibt sehr gut zu sein – ja der ein Ziel hat der das Durchsetzungsvermögen hat – ehrgeizig ja so stell ich ihn mir vor also jetzt in der zehnten Klasse und weiter

I:        Und glaubst du dass du ein typischer C-Schüler bist?

N:       Nee zurzeit nicht

 I:        Gibt’s denn welche die aus deiner Klasse oder aus andern Klassen die dem so entsprechen was du gerade beschrieben hast?

 N:       Ja eigentlich die meisten die jetzt in die Oberstufe gehen – oder weiter gehen halt das sind die meisten – –

 I:        Und wieso entsprichst du dem grad nicht so?

 N:       Weil ich auch nicht gut in der Schule bin – okay ich bemühe mich und versuch dass alles gut wird aber das ist halt nicht so deswegen bin ich auch nicht einer von den Guten – – aber ich hoffe nächstes Jahr wird sich alles ändern wenn ich das Jahr wiederhole und dann hoffe ich dass ich zu den typischen C-Schülern gehöre (Z. 970-989)

 I:        Und wenn du so kuckst so ein typischer C-Schüler wie sieht der aus? Der ist Ausländer?

 

Mit Blick auf den Diskursverlauf ist an dieser Stelle zu vermerken, dass sich die Interviewerin auf eine vorangegangene Aussage Nevins bezieht, in der er auf die aus seiner Sicht hohe Zahl von „Ausländern“ bzw. Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an der Gesamtschule C aufmerksam macht. Dieser Umstand ist ihm gerade zu Beginn seiner Zeit an der Schule, in der fünften Klasse aufgefallen.[13]

Die Themeneinsetzung erfolgt geschlossen-fokussiert: Als Einstieg in die hier ausgewählte Passage wird zunächst der typische Schüler an der Schule C thematisiert und darüber eine Positionierung Nevins zum institutionellen Selbstverständnis der Gesamtschule C über eine Abstraktion des „typischen“ Schülers vorbereitet. Die Frage zielt in expliziter Weise auf Nevins Wahrnehmungen ab: Wie „sieht“ ein typischer C-Schüler aus, wenn er sich in der Schule, beispielsweise auf dem Pausenhof um-“kuckt“? Was ist üblich an dieser Schule und weicht nicht vom „Rahmen“ ab? Unter dieser Lesart zielt die Frage auf ein von Nevin zu beobachtendes empirisches Phänomen ab. Es geht um seine eigene Wahrnehmung der Schülerschaft.

Auch die Frage nach der eingangs festgestellten ambivalenten Positionierung von Nevin zwischen Schulkonformität und Schulgleichgültigkeit wird damit nochmals explizit: Kann er sich als „schultypisch“ konstruieren oder grenzt er sich vom schulischen Selbstverständnis des Typischen ab? Damit können gleichermaßen sowohl als „typisch“ zu charakterisierende Äußerlichkeiten und Verhaltensweisen der Schüler und Schülerinnen an der Schule als auch sekundäre Schülerideale thematisch werden, je nachdem, ob das, was als „typisch“ definiert wird, auch dem entspricht, was sich als sekundäres Schülerideal bezeichnen ließe. Weiterführende thematische Anschlüsse würden sich demnach über die genaue Beschreibung dieser aus Nevins Sicht typischen Merkmale und Eigenschaften eines Schülers bzw. einer Schülerin der Schule C anbieten.

Die Thematik wird unter Bezug auf eine vorangegangene Äußerung im zweiten Teil der Frage wiederum „vereinfacht“, jedoch gleichzeitig aufgrund der Vorgabe der Ordnungskategorie „Ausländer“ gleichzeitig stark eingegrenzt. Damit gibt die Interviewerin die weitere Themenentfaltung bereits vor. Sie verstärkt damit ebenfalls auch den Fokus auf eine Schülerabstraktion, die sich auf Äußerlichkeiten bezieht. Zudem wird die Frage bereits als Feststellung formuliert, was die Thematik noch weiter verschließt. Alternativ und offener hätte sie fragen können: Ist der Ausländer? Sie verbleibt damit im bereits im Interview etablierten geschlossenen Diskursmodus. Zudem erscheint die Ordnungskategorie im schulischen Kontext ungewöhnlich: Nicht schulische oder gegebenenfalls sportliche Erwartungen und Anforderungen werden in den Fokus gerückt, sondern vielmehr die Ethniezugehörigkeiten und Migrationshintergründe der Schülerschaft der Schule C. Nevin kann die Frage, ob der typische C-Schüler ein Ausländer sei, entweder bejahen oder verneinen. Damit könnte eine für die Rekonstruktion seiner Passungsarbeit weiterführende Beschreibung von typischen Eigenschaften und Merkmalen eines typischen C-Schülers entfallen, denen er auf Grundlage seines bildungsbezogenen individuellen Orientierungsrahmens entweder entspricht oder von denen er gegebenenfalls abweicht. Der Informationsgewinn wäre somit als minimal einzustufen. Auch der konkreten Verortung seines eigenen Schüler-Entwurfes im schulischen Horizont könnte er damit ausweichen.

Sollten Nevins Orientierungen zudem sehr stark von dem abweichen, was er als typischen und gegebenenfalls idealen Entwurf eines Schülers der Schule C definieren könnte, dann könnte die Brisanz, die unter dieser Lesart in der Frage mitschwingt, auch potenziell zu einem problematischen Gesprächsverlauf und damit auch zum Abbruch der Thematik führen, indem Nevin, wie schon zuvor, sehr ausweichend und wenig konkret antworten könnte Damit würde seine eigene Positionierung ebenfalls unklar verbleiben.

N:       Ja – – so wie ich jetzt also am Anfang schon also in der fünften Klasse sechsten Klasse aber jetzt in der zehnten Klasse ist so mehr so ein – ein wie soll ich sagen- halt kein Ausländer sondern ein Deutscher – –

Nevin bestätigt den zweiten Teil der Anfrage und damit die vorgesehene Ordnungskategorie der Interviewerin zunächst mit „ja“ und reagiert inhaltlich mit einer – wenn auch knappen – Erzählung, die letztendlich zu dem Schluss kommt, dass der typische Schüler an der Gesamtschule C in seinem Jahrgang ein Deutscher‘ sei. Seine Darstellung folgt einer Entwicklungsgeschichte: Während „am Anfang“ seiner Schulzeit an der Schule C  „Ausländer“ die typische Schülerschaft stellten, verhält es sich „aber jetzt in der zehnten Klasse“ genau andersherum. Näher führt er diesen Umstand nicht weiter aus und so lasst sich auch nicht rekonstruieren, welche Eigenschaften und Merkmale er mit dieser Kategorisierung in Verbindung setzt.

Auffällig ist auch sein vergleichsweise langer Anlauf, um diesen Rahmen zu explizieren obwohl der Inhalt seiner Aussage letztendlich simpel ist der „typische“ C-Schüler ist – zumindest gilt das für den zehnten Jahrgang – ein „Deutscher“. Dies deutet auf eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit dem Aspekt der schulischen Zugehörigkeit hin, die sich auch formal in seine Diskursorganisation niederschlägt. Eine deutliche Positionierung wird abermals von ihm vermieden. Er geht wiederum uneindeutig und vergleichsweise enthaltsam mit der an ihn gerichteten Frage um, was auf eine vorsichtige Haltung schließen lasst, die gerade in Kontexten unterlegener Positionierung auftritt. Er kann aufgrund seiner Herkunft den geltenden Statuskonzepten nicht entsprechen.

Zudem wird die „Transformationsgeschichte“, die er im Gegensatz zur Fragestellung deutlich auf sich selbst bezieht – „so wie ich“ – und nicht die Abstraktion der typischen“ Schüler weiter ausführt, dennoch wertfrei und emotionslos von Nevin vorgetragen. Deutlich wird abermals, dass Nevin sich aufgrund seiner Herkunft, die damit wiederum in instrumenteller Weise zur „entlastenden Begründungsfigur“ (vgl. Kramer et al. 2009 S. 74ff) wird, nicht im Horizont des für ihn schulisch Typischen verorten kann.

Mit Blick auf die Frage wie Themen von Nevin abgehandelt werden welche die an ihn gestellten Leistungsanforderungen betreffen kann für seinen individuellen Orientierungsrahmen riskant angenommen werden, dass er – sowohl im sportlichen als auch im schulischen Bereich – Gründe für sein Scheitern konstruiert, die nicht in seiner Person und seinen Fähigkeiten liegen. Nevin kann seine Rahmungen nicht verlassen. Damit stilisiert er seine Herkunft zwar implizit als etwas Schicksalhaftes, dem er sich wie sehr er sich auch bemüht, nicht entziehen kann. Allerdings vermeidet er es diesen Umstand explizit zu machen und weiter als universellen Rechtfertigungsgrund für schlechte Leistungen auszuführen. Er sieht davon ab sich als schulisches „Opfer“ zu konstruieren und „nutzt“ seine lediglich angedeutete „Entlastungsfigur“ nicht weiter aus. Dies untermauert seine indifferente Haltung zur Schule, mit der er sich vor den schulischen Anerkennungsverlusten schützen kann, die ihm angesichts seiner biografischen Verlaufskurve drohen könnten.

Wird der von Nevin als typisch konstruierte Schüler mit dem idealen Entwurf eines Schülers gleichgesetzt, so wird deutlich, dass Nevin diesem aufgrund seiner Herkunft nicht entsprechen kann und demnach gezwungen ist, sich im negativen Gegenhorizont des Untypischen seines bildungsbezogenen bzw. des schulischen Orientierungsrahmens zu platzieren. Damit wäre er gegenüber den typischen Schülern im Nachteil.

Während Nevin zu Beginn seiner Schulzeit an der Schule C noch einem typischen C-Schüler entsprach („so wie ich jetzt also am Anfang schon“), was darauf hindeuten kann, dass in der Sekundarstufe I viele Kinder mit Migrationshintergrund in die fünfte Klasse an der Schule C eingeschult wurden, so lässt seine Aussage darüber, dass er nun nicht mehr dem typischen Entwurf entspricht, vermuten, dass sich dieser Anteil zum Ende der Sekundarstufe I deutlich sichtbar verringert. Das Feld transformiert sich. Viele dieser Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund wechseln demnach nicht in die gymnasiale Oberstufe. Und auch für Nevin wird dieser Übergang zunächst kritisch und rückt auch erst durch die Wiederholung des Schuljahres in den Bereich des Möglichen. Wird dies wiederum auf seinen individuellen Orientierungsrahmen bezogen, so ist anzunehmen, dass „deutsch“ sein, für ihn unerreichbar, den positiven Gegenhorizont ausmacht.

Mit Blick auf eine soziogenetische Typenbildung, die jedoch an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden kann, lassen sich Bezüge zu einem migrationsspezifischen Erfahrungsraum im Fall „Nevin“ vermuten, dessen Orientierungen und Haltungen auf eine spezifische „natio-ethno-kulturelle“ (Mecheril, 2011, S.43) Zugehörigkeitsordnung hindeuten, die wiederum seinen individuellen Orientierungsrahmen beeinflusst. Diese verweist „auf Strukturen, in denen symbolische Distinktions- und Klassifikationserfahrungen, Erfahrungen der Handlungsmächtigkeit und Wirksamkeit, wie auch biografische Erfahrungen der kontextuellen Verortung nahegelegt sind“ (ebd. S. 44).[14] Demnach müssten sich auch bei weiteren Sportlern und Sportlerinnen, die diesem spezifischen konjunktiven Erfahrungsraum angehören, Gemeinsamkeiten in den Erlebnisaufschichtungen finden lassen (vgl. Bohnsack, 2007, S. 184).

I:    Wie ist der so in der Schule? Ist der –

Die Interviewerin lässt die Thematik des typischen Entwurfs eines C- Schülers nicht fallen und versucht gleichzeitig zu klären, auf welche Aspekte sich seine „Transformationsgeschichte“ bezieht. Sie schließt an Nevins Ausführungen an, indem sie ihn auffordert, zu erzählen, wie der typische Schüler in der C-Schule „ist“. Es ist anzunehmen, dass sie sich auf den „deutschen“ Schüler bezieht. Sie wechselt damit von der Frage nach optisch wahrnehmbaren Äußerlichkeiten hin zu der Frage nach typischen Eigenschaften. Damit zielt sie, den gängigen Auffassungen über das „Sein“ in der Schule zufolge, auf die schulischen Leistungen bzw. auf die diese Leistungen unterstützenden Eigenschaften dieser typischen Schüler ab. Damit bewegt sie sich auf die Ebene schulischer Bewertungen und Bewertungsmaßstäbe. In einer weiteren schulischen Lesart könnte sich diese Anfrage auch auf die Verhaltensweisen dieser Schüler in der Schule beziehen und damit auch den Aspekt der schulischen Disziplinierung in den Blick nehmen. Beide Lesarten beziehen sich damit sehr viel stärker als zuvor auf eine pädagogisch-normative Dimensionierung von Schüler-Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen.

Mit dem angedeuteten Anfang einer Antwortmöglichkeit und einer kurzen daran anschließenden Pause, die in dieser Form einem schulischen „Lückentext“ gleicht, in dem das Format, aber nicht der Inhalt vorgegeben ist („Ist der – „), fordert sie ihn sehr fokussiert und explizit zu einer differenzierten inhaltlichen Weiterführung dieser Aussage auf und verschärft damit den Druck auf Nevin, Stellung zu beziehen, indem sie ihm keine Ausweichmöglichkeit bietet. Jedoch verliert die Frage gegenüber der Einstiegsfrage sehr stark an thematischer Offenheit. War zunächst noch die ganze Bandbreite von Merkmalen und Eigenschaften typischer Schüler und Schülerinnen thematisch, bezieht sich die Frage nun explizit auf das schulische Leistungsniveau dieser Jugendlichen. Damit bekommt die Frage eine gewisse Brisanz für Nevin, da bereits deutlich geworden ist, dass er den schulischen Leistungsanforderungen zum Zeitpunkt des Interviews nicht entsprechen kann. Dies würde sich dann gegebenenfalls weiter zuspitzen, wenn er die „typischen“ Schüler und Schülerinnen der Schule C nun explizit in seinem positiven Gegenhorizont verorten würde, zu dem er sich selbst aufgrund seiner schlechten Schulnoten jedoch nicht zählen kann.

N:       Der gut in der Schule ist der – aufmerksam ist – der sich auch Mühe gibt sehr gut zu sein – ja der ein Ziel hat der das Durchsetzungsvermögen hat – ehrgeizig ja so stell ich ihn mir vor also jetzt in der zehnten Klasse und weiter

Nevin greift den angebotenen Halbsatz auf und führt ihn souverän zu Ende. Er bezieht sich deutlich auf institutionennahe Idealkonstruktionen, wobei letztendlich offen bleibt, ob er die idealen Anforderungen der Schule referiert oder seine eigenen. Dieser Wechsel der Ebenen irritiert an dieser Stelle, da die Interviewerin ursprünglich nach einem empirischen Phänomen gefragt hatte. Aus Nevins Sicht ist der typische Schüler jemand, „der – aufmerksam ist – der sich auch Mühe gibt sehr gut zu sein – ja der ein Ziel hat der das Durchsetzungsvermögen hat – ehrgeizig“. Sein Bezug auf eine Idealkonstruktion wird im Nachsatz deutlich: „ja so stell ich ihn mir vor“.

Der typische – ideale – Schüler zeichnet sich vor allem durch seinen Ehrgeiz aus und entspricht damit dem Modell oder Bild eines Strebenden. Dieser zeigt eine hohe Lern- und Leistungsbereitschaft und legt darüber hinaus ein hochgradig zielorientiertes und damit auch zweck-rationales Verhalten an den Tag. Für den negativen Gegenhorizont lässt sich also ableiten, dass in diesem die leistungs- und durchsetzungsschwachen Jugendlichen aus Nevins Sicht platziert werden müssten, die somit zu den untypischen Schülern und Schülerinnen der Schule C zählen würden.

Der typische Schüler als idealer Schüler vertritt laut Nevin damit die schulischen Normalitätserwartungen, die bereits in der Abschlussrede der Abteilungsleiterin als „großer Ehrgeiz“ rekonstruiert wurden, und agiert damit höchst schulkonform. Dieses schulkonforme Verhalten legt Nevin jedoch nicht aktiv an den Tag, und er müsste sich daher im negativen Gegenhorizont des schulisch „Untypischen“ positionieren. Dies deutet sich auch gerade in seinem Nachsatz an, der explizit auf das Leistungsverhalten in der zehnten Jahrgangsstufe „und weiter“ in der Oberstufe abzielt, in die er in seiner derzeitigen Situation der anstehenden Klassenwiederholung erst mit Verspätung eintreten kann. Wiederum greift er implizit den Aspekt einer Entwicklung auf. Er unterscheidet zwischen der Sekundär- und der Oberstufe.

Wird davon ausgegangen, dass es an der Schule nur ein Schülerideal für alle Jahrgangsstufen gibt, so deutet dies darauf hin, dass sich seine eigene Relation zu diesen Anspruchshaltungen verändert hat. Mit Blick auf eine Passungsgeschichte kann dies darauf hinweisen, dass er im Gegensatz zu seiner Zeit in den Jahrgangsstufen fünf bis zehn derzeit verstärkt Interesse an einer besseren Passung zu den idealen Anforderungen an den Tag legt, sich an diesen orientiert, ohne sie jedoch bislang umsetzen zu können.

I:    Und glaubst du dass du ein typischer C-Schüler bist?

Mit Blick auf den Diskursverlauf lässt sich festhalten, dass die Interviewerin die übergreifende Themenlinie des Entwurfes eines typischen Schülers nicht verlässt. Sie schließt an Nevins Ausführungen an und fordert ihn in fast provokativer Weise auf, sich deutlich in seinem Orientierungsrahmen des typischen Schülers zu positionieren, indem sie ihn danach fragt, zu welcher Gruppe er sich zugehörig fühlt. Sie greift damit das Passungsthema explizit auf, macht aber nicht deutlich, ob sie sich auf der Ebene empirischer Phänomene oder auf der Ebene idealer Konstruktionen bewegt.

Damit wechselt die Interviewerin in den Modus der Überprüfung seiner vorangegangenen Darstellungen: Genügt Nevin den von ihm dargelegten typischen bzw. idealen Anspruchshaltungen?

Der Sprung von eher offenen, teils formalen Fragen zu Fragen, die sich auf Nevins eigene Betroffenheit beziehen, ist groß und birgt damit auch ein gewisses Risiko für den weiteren reibungslosen Verlauf der Interviewinteraktion. Der Explikationsdruck auf Nevin wird durch den Fokus auf seine Person deutlich verschärft. Jedoch lässt die Frage aufgrund ihrer Einfachheit lediglich Reaktionen auf kommunikativer Basis zu. Sie kann bejaht oder verneint werden. Der provozierende Charakter der Frage könnte jedoch – geht der Blick zurück auf die vorangegangene Diskursorganisation –  auch erzählgenerierend wirken, sofern Nevin genügend Material zur Erläuterung seiner Positionierung im oder fern des schulisch Typischen bzw. Idealen zur Verfügung steht.

N:   Nee zurzeit nicht

Nevin positioniert sich mit seiner Antwort eindeutig im negativen Gegenhorizont des von ihm konstruierten institutionellen – vermeintlich idealen – Selbstverständnisses eines Schülers der Schule C. Seine Selbsteinschätzung deutet auf vorhandene leistungsbezogene Defizite und damit auf eine Nicht-Passung zu schulischen Erwartungen und Anforderungen hin. Er fällt deutlich hinter seinen Klassenkameraden zurück und kann auch seine eigenen Ansprüche an sich selbst nicht erfüllen.

Allerdings kann auch an dieser Stelle eine fehlende emotionale Betroffenheit in der Bearbeitung der Thematik dokumentiert werden, die trotz der deutlichen Verortung im schulisch „Un-Typischen“ an den Tag gelegt wird. Damit verdeutlicht sich wiederum die Spannung zwischen einer nicht hinterfragten Verbürgung der Schule und einer indifferenten Haltung gegenüber schulischen Leistungsanforderungen und Konformitätserwartungen. Die Abweichung vom Typischen wird von ihm wie selbstverständlich hingenommen.

Die minimale Weiterführung seiner Negation auf eine zeitliche Ebene – „zurzeit nicht“ – deutet zunächst auf ein mögliches Enaktierungspotenzial hin, das diesen Zustand in Zukunft beheben könnte, damit Nevin sich dann ebenfalls im schulisch Typischen positionieren kann. Da er seine Antwort aber weder mit Strategien noch mit weiterführenden bildungsbezogenen Plänen versieht, wie er diesen Zustand in Zukunft beispielsweise über vermehrtes Üben beheben könnte, um einem typischen C-Schüler entsprechen zu können, beruht seine Aussage lediglich auf dem „Prinzip Hoffnung“, dass eine Besserung quasi von selbst oder von außen in irgendeiner Weise herbeigeführt wird. Die Enaktierung fehlt völlig. Der Habitus des Strebenden, den er zumindest in seiner Vorstellung eines idealen Schülers andeutet, ist bei ihm folglich nicht feststellbar, denn passives Streben ist nicht möglich. Auch ist eine strebende Haltung eng mit einem zweck-rationalen Rahmen verknüpft, den er jedoch lediglich auf einer „ideellen“ Ebene verbürgt.

Das Lernen für schulischen Unterricht und das Bemühen um gute Leistungen hat Nevin bereits als „verschwenderische Zeit“ abgehandelt. Sein bildungs- bezogenes Enaktierungspotenzial lässt sich damit allenfalls als zurückhaltend deklarieren. Der Entschluss, das zehnte Schuljahr zu wiederholen, bedeutet für ihn, dass er derzeit keine weitere Lernzeit verschwenden muss, die ihm angesichts des nahezu beschlossenen Sitzenbleibens auch aus einer zweckrationalen Perspektive keinen Erfolg mehr einbringen kann. Ein vermehrtes Üben hat für ihn folglich keinen Wert mehr. Das Scheitern ist bereits beschlossene Sache. Dennoch ist seine Einstellung auch nicht als fatalistisch zu betrachten, da er dennoch darauf baut, dass sich seine Position im schulischen Gefüge ändern wird. Er wünscht sich, dem idealen Schülerbild zu entsprechen, investiert aber nichts in die Umsetzung dieses Wunsches und bleibt passiv.

I:        Gibt’s denn welche die aus deiner Klasse oder aus andern Klassen die dem so entsprechen was du gerade beschrieben hast?

Im weiteren Interviewverlauf wird von der Interviewerin mit einer Frage angeschlossen, die implizit auch seine Positionierung als „nicht-typischer Schüler“ im Verhältnis zu seinen Klassen- bzw. Schulkameraden und damit auch zu seinem eigenen Orientierungsrahmen fokussiert.

Für den Diskursverlauf lässt sich festhalten, dass die Frage wiederum sehr niedrigschwellige Anforderungen setzt. Sie kann mit ja oder nein beantwortet werden und folgt damit dem bereits bewährten Interaktionsschema, um einen Abbruch in der Kommunikation zu vermeiden und um darüber sukzessive weitere Fragen anschließen zu können. Inhaltlich bezieht sich die Frage auf die Ebene des Idealkonstrukts „Schüler“. Die Ebene empirischer Beobachtung fällt damit raus.

Erstmals rücken Peerbezüge in den Mittelpunkt der Betrachtung. Aufgrund der vorangegangenen Informationen ist davon auszugehen, dass Nevin sich von den typischen, d.h. idealen Schülern und Schülerinnen abgrenzen muss. Zudem zielt die Frage neben der Erläuterung, welche Jugendlichen dem Typischen bzw. dem Un-Typischen entsprechen, implizit auch auf eine weiterführende Entfaltung des Typischen/Idealen in Hinblick auf weitere Charakteristika statt. Potenziell anschlussfähig wären auch Aussagen über Erfahrungen und Vernetzungen in der Peer-Group.

N:       Ja eigentlich die meisten die jetzt in die Oberstufe gehen – oder weiter gehen halt das sind die meisten – –

Nevin bejaht die Frage: „Die meisten“ seiner Mitschüler, die den Wechsel in die gymnasiale Oberstufe antreten, verortet er damit im positiven Gegenhorizont des schulisch Typischen, was damit deutlich zum Idealen wird, dem er nicht entspricht. Die institutionell gewünschten Anforderungen werden von anderen eingelöst.

Er grenzt den Personenkreis der Typischen auf diejenigen Schüler ein, ihr aufgrund ihrer schulischen Leistungen diese Übergangsberechtigung erhalten haben. Offen bleibt, ob er sich auf seine Mitschüler aus der Sportklasse bezieht, auf die der Parallelklassen oder auf alle zusammen. Auch die genaue Größe dieses Personenkreises bleibt somit vage, jedoch lässt sich annehmen, dass die Gruppe der typischen, leistungsstarken Schüler in seinem Umfeld dominant ist und ihn als Unterlegenen in eine Außenseiterposition drängt. Er muss sich folglich als nicht-zugehörig positionieren. Dennoch formuliert er diesen Umstand nicht als Verlustgeschichte, sondern betont in seinem Orientierungsrahmen die Veränderung als Hoffnung auf die Erreichung dieses Ideals. Er hofft entsprechend darauf, sich dem Ideal des Strebenden anpassen zu können, wenn auch auf der Ebene eines scheinbar automatisch ablaufen den Entwicklungsprogramms, welches diejenigen Schüler und Schülerinnen mit der Übergangsberechtigung in die Oberstufe bereits erhalten haben.

I:    Und wieso entsprichst du dem grad nicht so?

An dieser Stelle schließt die Interviewerin im thematischen Verlauf direkt an die vorangegangene Sequenz an und initiiert mit ihrer Frage eine Fortsetzung der Themenentfaltung, indem sie Nevin nach der Diskrepanz zwischen ihm dem „untypischen“ Schüler – und den typischen Schülern der Schule C fragt und damit direkt seine bereits angedeutete fehlende Passung zu schulischen Anforderungen aufgreift. Gleichzeitig wird damit seine eigene, konformistische Haltung erneut in den Blick genommen. Auch hier wird der Fokus wiederum auf Nevins individuelle Erfahrungs- und Erlebnisqualität gelegt, so dass er kaum Möglichkeiten hat, sich von der Thematik zu distanzieren. I);i die Frage jedoch auf eine Argumentation abzielt, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass Nevin mit einer detaillierten Erzählung an die vorgegebene Thematik anschließt. Vielmehr lässt sich eine Aufzählung von Gründen er warten, die belegen, warum er nicht dem „typischen“ Schüler an der Schule C entspricht.

N:       Weil ich auch nicht gut in der Schule bin – okay ich bemühe mich und versuch dass alles gut wird aber das ist halt nicht so deswegen bin ich auch nicht einer von den Guten – – aber ich hoffe nächstes Jahr wird sich alles ändern wenn ich das Jahr wiederhole und dann hoffe ich dass ich zu den typischen C-Schülern gehöre

Nevin orientiert sich an den schulischen Normalitätserwartungen, obwohl er ihnen nicht entspricht. Er ist eben „nicht gut in der Schule“. In diesem Zusammenhang verweist er erneut auf seine Bemühungen und seine Investitionen, um schulisch erfolgreich zu sein. Die Ursache für sein Scheitern bleibt dennoch vage: Er versucht, „dass alles gut wird aber das ist halt nicht so“. Er setzt darauf, dass sich „alles ändern“ wird, wenn er das Jahr wiederholt und hofft, dass er dann „zu den typischen C-Schülern“ gehört. Er beschreibt zwar, dass er sich bemüht, aber gezielte Bemühungen zur Umsetzung seines Vorhabens, damit sich eben alles ändern kann, werden von ihm nicht angesprochen. Es bleibt das „Prinzip Hoffnung“, welches sich auf fremdbestimmte institutionelle Regularien, wie das Wiederholungsjahr, stützt. Damit liegt eine Orientierung vor, die er bereits bei Erfahrungen des sportlichen Scheiterns an den Tag gelegt hat: Es gibt ja nicht nur ein Turnier, es gibt ja auch noch andere. Und wenn man in einem Schuljahr scheitert, versucht man es eben im nächsten Jahr noch einmal.

Er orientiert sich – und damit verbürgt er auch die von ihm in Interview angedeuteten elterlichen Bildungsaspirationen – an weiterführenden Abschlüssen, möglichst am Abitur. Trotz seiner schulischen Schwierigkeiten besteht damit eine übergeordnete positive Orientierung zu Schule und Bildung, die jedoch kaum mit Aktivität gefüllt wird. Eine deutliche Bindung an das Bildungsprojekt „Abitur“ wird auf diese Weise jedoch nicht sichtbar. Ebenso wenig kann daher eine verbürgte Identifizierung mit dem gymnasialen Bildungsgang angenommen werden. Sie bleibt oberflächlich.

Die Habitusformation eines „Strebenden“, dies dokumentiert sich in seiner Schlussbemerkung, kann in seinem Fall letztendlich nicht angenommen werden, denn jegliche Form der Enaktierung fehlt. Vielmehr lässt sich eine Orientierung an einem „Modell“ des Strebens in seinem positiven Gegenhorizont rekonstruieren. Auch seine eingangs dokumentierte zweck-rationale Haltung hat damit lediglich Modellcharakter. Auf der einen Seite verbürgt er /war formal und kritiklos die an ihn gestellten schulischen Anforderungen, über auf der anderen Seite dokumentiert sich schulische Gleichgültigkeit, Passivität, wenn nicht Distanz. Damit schwankt er zwischen zwei Polen bzw. habituellen Dispositionen. Mit von Rosenberg (2011, S. 78) ließe sich diese Haltung, die sich aus unterschiedlichen, sich widerstreitenden Logiken in einem Habitus zusammensetzt, als „hybrid“ klassifizieren.

Dauerhaftes schulisches wie auch sportliches Scheitern erschweren Nevins Bezüge zu einem positiven Gegenhorizont, der über das fehlende Enaktierungspotenzial nicht erreicht werden kann. Es entsteht der Eindruck einer oberflächlichen Anpassung „zum Schein“ an die schulischen Ideale und Erwartungen, da gleichzeitig eine „innere“ Ablehnung deutlich wird. Damit deutet sich eine mögliche Transformation seiner Orientierungen von der schulischen Distanz zu einer deutlicheren Verbürgung des Schulischen an, über die Hoffnung, dass er im nächsten Jahr „zu den typischen C-Schülern gehören“ könnte.

Nevin thematisiert die Krisenhaftigkeit seines Orientierungsrahmens hinsichtlich der deutlichen Passungsprobleme auf der schulischen Leistungsebene. Er kann den schulischen Anforderungen nicht entsprechen und muss sich selbst in seinem eigenen negativen schulischen Gegenhorizont verorten. Dieser negative Gegenhorizont entspricht einem Hauptschulabschluss, von dem er sich jedoch abgrenzen möchte. Obwohl Nevin sowohl in seiner Schule als auch in seiner Sportkarriere an den institutionellen Leistungsanforderungen scheitert, liegen – zumindest oberflächlich – Schul- und Bildungsorientierungen vor. Seine Bezüge und Positionen zu den schulischen Leistungsanforderungen sind jedoch als unverbürgt zu betrachten. Er findet in der Schule keine Sinnbezüge. Und auch der Sport als Anerkennungsraum fällt für ihn weg, was seine Situation zusätzlich verschärft.

Die Bearbeitung der schulischen Leistungskrise durch den Entschluss zur Wiederholung der 10. Klasse und die daran geknüpften Erwartungen, „dass sich alles ändern“ wird, deuten ein vorhandenes Transformationspotenzial für seinen derzeit vorliegenden individuell-biografischen Orientierungsrahmen an. Er setzt damit auf einen „Erholungseffekt“, der sich über die Wiederholung einstellen sollte. An diese Transformationsmöglichkeit anschließend wären zwei Szenarien denkbar: Nevins bisherige vage Ausrichtung an den schulischen Konformitätserwartungen könnte im Falle der Wiederholung zum einen ihre Entsprechung über eine positive Leistungsentwicklung und eine damit einhergehende Stabilisierung seines leistungsbezogenen Enaktierungspotenzials finden. Dann müsste er jedoch auch seine Orientierungen an diese Situation der Aufwertung anpassen. Andersherum könnte eine negative Leistungsentwicklung trotz vermehrter Investitionen in schulische Übungs- und Lernprozesse dazu führen, dass sich seine eher distanzierte schulische und vor allem passive Haltung in seinem individuellen Orientierungsrahmen manifestiert. Dasselbe gilt für eine negative Leistungsentwicklung bei konstantem Ressourceneinsatz.

Fußnoten:

[1] Der Begriff der „Verlaufskurve“ bezeichnet im biografieanalytischen Kontext einen Leidensprozess, der durch einen Kontrollverlust über die Ereignisse, die das eigene Leben betreffen, gekennzeichnet ist (vgl. Schütze, 1983, S. 288f.). Das Konzept steht „für das Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich schicksalhafte Bedingungen der Existenz“ (ebd.).

[2] Damit stellt dieses knappe Protokoll eine deutliche Herausforderung für die Anwendung der dokumentarischen Methode der Textinterpretation dar, die in der Regel für die Analyse von Themenentfaltungen in Form von Erzählungen und Beschreibungen herangezogen wird (vgl. dazu auch den Fall „Peter“ aus Kramer. 2011, S. 190ff.).

[3] Die Unterscheidung von Lösungen erster Ordnung von Lösungen zweiter Ordnung lässt sich auf Watzlawick, Weakland & Fisch (1974) zurückführen. Nevin versucht beispielsweise, seine schulischen Probleme über den Ansatz des „mehr-desselben“ bzw. über den so genannten „gesunden Menschenverstand“ zu lösen: Er wiederholt das Schuljahr (vgl. ebd.. S. 105). Eine Lösung „zweiter Ordnung“ würde diesen schulischen Rahmen reflektieren und sich auf die Lösung „erster Ordnung“ beziehen, indem sie diese in einen neuen Rahmen stellen würde. Dabei „scheinen Lösungen zweiter Ordnung häufig absurd, unerwartet und vernunftwidrig; sie sind ihrem Wesen nach überraschend und paradox“ (ebd.).

[4] Die familiären Orientierungen können in der vorliegenden Untersuchung allenfalls implizit Uber die entsprechenden Interviewaussagen berücksichtigt werden und sind daher lediglich von marginaler Relevanz für die Rekonstruktion der subjektiven Bildungsgänge. Dennoch soll der Einfluss kollektiver Orientierungen und Wissensbestände auf die individuell-biografischen Orientierungsrahmen nicht in Frage gestellt werden.

[5] Transpositionen bezeichnen „Konklusionen, in denen zugleich ein neues Thema aufgeworfen und die Orientierung in ihrem Grundgehalt mitgenommen wird“ (Przyborski, 2004, S. 76).

[6] „Bei leistungsmotivierten Verhalten wird an das eigene Handeln ein Gütemaßstab angelegt und die Bewertung des Handlungsergebnisses wird mit der Tüchtigkeit der eigenen Person in Verbindung gebracht“ (Brunstein & Heckhausen, 2010. S. 146).

[7] Trotz zahlreicher empirischer Befunde und theoretischer Ansätze ist die Beziehung zwischen Motivation und Leistung, die im Interview angedeutet und im Rahmen der Interpretation lediglich grob skizziert wird, noch nicht endgültig geklärt. Nach wie vor besteht in der „Informationsverarbeitung“, die in der „black box“ zwischen der Eingangsmotivation und der entsprechenden Ausgangsleistung stattfindet, ein zu bearbeitendes Forschungsdefizit (vgl. Brunstein & Heckhausen. 2010, S. 177).

[8] Aufgrund der Kontextinformationen ist davon auszugehen, dass es sich um Diabetes mellitus Typ I handelt, der meist im Kindes- und Jugendalter diagnostiziert wird.

[9] Als empirischer Vergleichshorizont lässt sich an dieser Stelle der Fall „Aron“ (vgl. Kramer u. a. 2009, S. 74ff.) heranziehen, der zwar einem etwas anderen Untersuchungskontext entstammt, aber durchaus einige Gemeinsamkeiten zum Fall „Nevin“ aufweist. Auch Aron muss sich mit einem problembelasteten und brüchigen Bildungsgang auseinandersetzen, der durch eine langwierige Erkrankung (Epilepsie), dadurch bedingt lange Krankenhausaufenthalte und schulische Misserfolgserfahrungen geprägt ist. Auch an ihn werden seitens seiner Eltern – ebenfalls bildungs- und statusorientierte Migranten – hohe Bildungserwartungen herangetragen, die er jedoch nicht erfüllen kann. Aron deutet seine Krankheit ambivalent als „entlastende Begründungsfigur“ für seine Probleme in der schulischen Leistungsentwicklung, während er gleichzeitig an seinem Handicap leidet, welches ihn zwingt, sich trotz seiner Orientierungen am schulischen Lernen und guten Leistungen in seinem eigen“ negativen Bildungshorizont zu verorten. Er bildet kein Enaktierungspotenzial aus, um die zu ändern, sondern bleibt passiv.

[10] Grundsätzlich ist es als problematisch für die Interpretation einzustufen, wenn seitens des Interviewers Themen nicht initiiert, sondern, bereits mit einer entsprechenden Orientierung versehen, eingeführt werden (vgl. Przyborski. 2004, S. 67f.).

[11] Offen bleiben muss, ob die von Nevin genannten Symptome, wie die von ihm geschilderte Gereiztheit und seine erhöhte Streitlust, tatsächlich auf seinen beginnenden Diabetes zurückzuführen sind oder ob diese nicht vielmehr auf eine Auseinandersetzung mit adoleszenzspezifischen Entwicklungsaufgaben zurückzuführen sind. Ungeklärt bleibt ebenso die Frage, ob ein Typ-I-Diabetes tatsächlich so lange, wie von Nevin angegeben, unerkannt bleiben kann.

[12] Im weiteren Verlauf des Interviews deutet er an. dass er sich eher zu den naturwissenschaftlichen Fächern hingezogen fühlt, aber auch in diesen ist er anscheinend nicht so erfolgreich, dass diese ihn vor der Wiederholung des Schuljahres bewahren können.

[13] Die Tatsache, dass „richtig viele Ausländer“ (Z. 961) die Schule C besuchen, hat Nevin zu Beginn seiner Schulzeit an der Schule C „nicht so gut gefallen“ (Z. 963). Er begründet diese Aussage mit einem von ihm befürchteten hohen Gewaltaufkommen. Dies irritiert, da er, wie er im Nachsatz erzählt, „ja selber einer [ein Ausländer] ist“ (Z. 965).

[14] Mit Blick auf Nevins Zugehörigkeitskonzept zwischen „Ausländer“ und „Deutschem“ ließe sich, wenn auch riskant, vermuten, dass seine Selbstpositionierung nicht eindeutig ist, sondern vielmehr auf eine hybride Zugehörigkeitsform hinweist (vgl. Mecheril. 2011, S.46).

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